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8

Marianne pflegte davon zu erwachen, daß Frau von Sperber nebenan ihren heldenmütigen Kampf gegen ihre Stimmbänder begann. Sie war im Hause, solange sie zurückdenken konnte, mindestens so lange, seit der Tod begonnen hatte, im Schloß umzugehen. Wahrscheinlich hatte er sie mitgebracht als einen Ersatz für alle, die er mitnahm. Es mußte gewesen sein, als ihre Mutter gestorben war und man sie aus der kleinen Garnisonsstadt zu ihrem Großvater gebracht hatte. Dann war der Krieg gekommen, und sie erinnerte sich nur, daß viele fortgegangen und manche nicht wiedergekommen waren, zwischen denen die Fäden ihres Lebens hin und her gesponnen waren. Sie waren auf die große Reise gegangen, wie man ihr erzählt hatte. Onkel Jochen in seiner hellblauen Dragoneruniform, der sie immer vor sich auf den Sattel genommen hatte, und der Diener Fritz, der so gut nach Seife roch. Der Inspektor Mertineit mit dem großen Kopf und der lauten Stimme, den die Leute »Bullerjahn« nannten, und Michel, der Gärtnerlehrling, der seine Laufbahn aufs Spiel setzte, in dem er ihr Mirabellen stahl und rohe Mohrrüben, die er mit einem riesigen Taschenmesser säuberte, ehe er sie ihr in den Mund schob.

Und zuletzt der Vater, der jetzt nur noch im Traume zu ihr kam, mit seinem schwarzen Helm und dem hohen Schild, hinter dem man seine Hände nicht sah.

Es war kaum ein Schmerz, den sie in der Erinnerung hatte, nur eine immer wachsende Leere. Es war wie der Park im Herbst, wenn die Vögel fortziehen und die Blätter fallen und man die Wege und Gitter sieht, die man so lange nicht gesehen hat, oder auch wenn ein Haus leer wird nach hellen und lauten Besuchstagen und man steht oben im Treppenhaus am Fenster und sieht sie fortfahren. Alle sagen, daß sie wiederkommen, bald und für lange, aber man weiß nie, ob es wahr ist, was die Großen zu einem Kinde sagen.

Damals hatte der Tod Frau von Sperber mitgebracht und dagelassen. Sie hatte schwarze Kleider getragen und graues, kurzgeschnittenes Haar, so daß Marianne lange geglaubt hatte, sie sei ein verkleideter Mann, der nicht in den Krieg ziehen wollte. Sie war groß und stark, hatte schon damals eine heisere, tiefe Stimme, und Marianne meinte, sie müßte jeden Morgen mit einem Speer auf der Treppe erscheinen, wie Pallas Athene, deren Bild sie in den großen Büchern gesehen hatte. Sie hatte sich gefürchtet vor ihr, weil sie so »gerüstet« aussah, bis sie sie eines Nachmittags vor dem Bild des »Schönen« gefunden hatte, das über ihrem Schreibtisch hing, ein Kürassier im Silberhelm, der ihm bis auf die Schultern reichte, mit einer gläsernen Scheibe vor einem Auge und einem kühnen Lächeln um den Mund. Die Tränen waren an ihren roten Wangen heruntergelaufen, Speer und Rüstung waren verschwunden, und auch sie hatte nur wie jemand ausgesehen, von dem alle fortgegangen waren auf die große Reise. »Er war gut, Kindchen«, hatte sie gesagt, »nur leicht wie eine Feder, und wo sie hinpusteten, da flog er hin …« Und sie hatte den Atem über ihre Hand geblasen und hinterhergesehen, als fliege der Schöne samt seinem Silberhelm aus dem offenen Fenster in den Park hinaus.

Marianne hatte das nicht verstanden, wie jemand mit einem Helm so leicht sein könnte wie die geheimnisvollen Blumen auf der Wiese, die man anblies, um zu wissen, wie lange man noch zu leben hätte. Aber sie verstand, daß hier jemand ein schweres Herz hatte und also wohl nicht zu fürchten, sondern zu trösten sei, was sie mit ihren scheuen Händen ungeschickt genug versuchte. Die Tränen flossen von neuem, aber es war nun augenscheinlich leichter, und dann saßen sie beide Hand in Hand auf dem niedrigen Sofa an dem runden Ofen, auf dessen Kacheln der verlorene Sohn heimkehrte, und das Kind hörte ernsthaft zu, wie die Geschichte des »leichten« Mannes vor ihr abrollte, in der viel Geld und mehr Frauen und noch mehr Pferde vorkamen. Und es schien, als hätte die große, starke Frau mit dem Speer sich immer dazwischengeworfen, wäre aber überritten worden, und schließlich wäre der Schöne nicht mehr wiedergekommen gleich dem verlorenen Sohn, sondern auf die große Reise gegangen, gleich zu Anfang des Krieges, und läge nun unter einem kleinen Hügel in Polen, und es wäre ihr Mann gewesen, der Schöne, der dort an der Wand hing.

»Dein Mann, Tante Mieze?« hatte Marianne gefragt. »Irrst du dich auch nicht?«

Aber da war kein Irrtum möglich gewesen, denn der Trauschein wurde aus einer kleinen Ebenholztruhe herausgenommen, und obwohl Marianne kaum lesen konnte, mußte sie es glauben, streichelte die merkwürdige Witwe noch einmal und ging dann auf die Parkwiese, wo sie eine der weißen Kugeln pflückte, um hineinzublasen, es dann aber erschreckt ließ, weil sie sich erinnerte, daß der Schöne ebenso leicht gewesen sein sollte und nun vielleicht nach einer geheimnisvollen Verwandlung in diese Blume übergegangen war.

Von jenem Tage an gab es eine schweigende Freundschaft zwischen den beiden, die der Tod nicht hatte mitnehmen wollen auf die große Reise, auch wenn manches an der Witwe des Schönen merkwürdig war und seine »Leichtigkeit« dem Kinde manchmal nicht als ein so böser Makel erscheinen wollte. Man hatte der Tante mit dem sanften Namen und der männlichen Stimme nämlich gesagt, daß ihre Heiserkeit verschwinden würde, wenn sie nur den »Parasiten« auf ihren Stimmbändern mit unerbittlicher Energie zu Leibe ginge. Der Tod der Parasiten aber wäre Kochsalz, ein Eßlöffel in einem kleinen Glase heißen Wassers. Mit dieser tödlichen Mischung hätte sie alle zwei Stunden den Angriff zu unternehmen, das heißt zu »gurgeln«, ein Vorgang, der Marianne schon in seiner sprachlichen Form erschreckte, als werde ein Mensch abgewürgt und verscharrt.

»Laß gut sein, Kindchen«, sagte Tante Mieze, »vom Salz ist schon in der Bergpredigt die Rede, und wenn ›er‹ mehr Salz bekommen hätte als Kind, würde er vielleicht nicht so leicht geworden sein …«

Der Hoftischler hatte an einem ihrer Sessel eine Kopfstütze anbringen müssen, ähnlich wie bei einem Zahnarztstuhl, und dort ruhte nun alle zwei Stunden ihr Kopf mit dem schon weiß gewordenen Haar, und aus ihrer Kehle drangen die von Marianne so gefürchteten Töne. Es klang ihr immer, als ertrinke jemand und der letzte Ton werde von einem dumpfen Strudel zu den Fischen hinuntergezogen. Auch fürchtete sie, daß Tante Mieze mit der Zeit Salz ausscheiden werde wie das Tote Meer, von dem sie wunderliche Dinge gehört hatte. »Kindchen«, konnte Tante Mieze in der Abenddämmerung vor dem Ofen des verlorenen Sohnes sagen, »du bist ein merkwürdiges Geschöpf. Du lebst wie eine Auster in der Schale.«

Da der Krieg das Schloß nicht reich gemacht hatte, so wußte Marianne nicht, wie Austern leben, und als sie es erfahren hatte, sah sie nachdenklich auf Tante Miezens Granatbrosche, die über dem Herd der Parasiten schimmerte, und meinte dann, was wohl aus einer Auster werden würde, wenn sie ohne Schale auf die Welt käme. Aber sie dachte lange über diesen Vergleich nach und ob Tante Mieze wohl gemeint habe, daß auch in ihr eine Perle ruhen könnte. Schließlich entschied sie, daß Salz die Menschen redselig machen müsse und daß ihr Vater unter dem dunklen Helm sicherlich ein schweigsamer Mann gewesen sei, so schweigsam wie die Bilder in der Halle oder wie der Großvater oder wie eben ihr Freund Thomas von Orla.

Sie setzte sich im Bett auf und sah hinter den Vorhängen den goldenen Schein der Frühe auf den Parkwipfeln.

Nebenan war es still, und Frau von Sperber las jetzt eine Viertelstunde in der Bibel. Das war die Zeit, in der man an schöne Dinge denken konnte, ehe der Tag mit seiner Nützlichkeit begann. An den vierzehnten Geburtstag etwa, der noch in die Sommerferien fiel und dessen Nachmittag auf der Insel verlebt werden durfte. Joachim würde dasein und die ganze Welt verschenken, Bildermann würde großartige Geschichten erzählen und über Kiefernzapfen Aale räuchern, und Thomas würde dabeisitzen, seine Pfeife rauchen und zuhören. Es gab niemanden, der so zuhören konnte wie er, so ernst, als ob nur Admirale und Prinzessinnen da wären. »Wir beiden alten Leute«, hatte er im vergangenen Jahr gesagt. Die anderen sagten alle »ich« und »du«, aber er sagte »wir«.

Sie drehte eine Locke ihres Haares zwischen den Fingern und fühlte, wie weich sie war. Wenn sie sie abschnitte und Thomas gäbe, wo würde er sie aufbewahren? Im Maskenschrank oder in einem seiner Bücher? Oder würde er sie auf dem Herzen tragen? Sie zog an der dünnen goldenen Kette das Medaillon hervor, das sie unter dem Nachthemd trug, und öffnete es. Ein verblaßtes Bild des Vaters lag darin, und darüber, auf seiner Brust, eine winzige Thymianblüte. Thomas hatte sie ihr im vergangenen Sommer nach dem Baden gereicht, damit sie sie einmal dicht vor die Augen halte. So schön sei sie, eine arme Sandblüte, aber nichts auf der Insel sei ihm so lieb wie dieser Duft. Stark und rein. Sie hatte sie in der hohlen Hand verborgen, bis sie wieder zu Hause gewesen war.

Damals hatte sie noch nicht gewußt, daß er Thomas von Orla war.

Sie schloß die goldene Hülle wieder zu und fühlte ihr Herz unter ihrer Hand schlagen. Die Blüte lag in ihrem dünnen Schrein wie die Perle in der Auster. Soweit hatte Tante Mieze schon recht. Aber weshalb hatte er kein Bild seiner Frau in seinem Haus? Auch wenn er es nicht auf dem Herzen trug, weshalb stand es nicht vor seinen Büchern oder hing an der Wand, wie unten in der Halle die Bilder der Frauen hingen? Und weshalb war sie nicht da, nicht wenigstens für ein paar Tage? Ob sie zu Weihnachten komme, hatte sie im vergangenen Jahr einmal leise gefragt. Aber er hatte seine Hand auf ihre Schulter gelegt, als sie neben ihm am Ufer stand, und über das Eis gesehen und gesagt: »Zu uns kommt keiner, kleine Prinzessin, wir sind auf dem Ozean …« Und wahrscheinlich hatte er sich und Bildermann gemeint. Er hatte nicht traurig ausgesehen, aber die Falten um seinen Mund waren tief gewesen. »Ich komme, Thomas«, hatte sie gesagt. »Ja, Kind«, hatte er erwidert, »du kommst auch auf den Ozean …«

Alles war so, was er sprach: zu begreifen wie das, was die anderen sagten, aber hinter dem Begriffenen stand das andere, das Weite und Grenzenlose, das das Herz schlagen ließ, auch wenn man es nicht verstand.

Sie seufzte, schlug die Decke zurück und setzte die Füße auf die Erde. Tante Mieze meinte, sie sei zu mager, und das komme davon, daß sie zu wenig Salz esse und den Parasiten das Leben zu leicht mache. Aber sie sah keine Parasiten auf der braunen Haut, nur ein paar Schrammen von den Büschen der Insel und einen blauen Fleck von der Ruderbank, an der sie sich gestoßen hatte.

Joachim … ach ja. Sie lächelte und ging zum Fenster, um die Vorhänge aufzuziehen. Es war schon gut, wenn einer alles wußte und alles konnte und nie in Verlegenheit kam. Aber war er »auf dem Ozean«? Sie hielt die Hand an der Schnur des Vorhangs und dachte nach. Er war wohl auf einer Kommandobrücke, hoch über dem Meer, aber auf dem Ozean war nur Thomas. Und vielleicht noch der Großvater, wenn er abends in der Halle vor dem Feuer saß und das Glas gegen die Flammen hob. Manchmal schlich sie sich spät aus ihrem Bett an die Treppe und sah zwischen den Stäben des Geländers hinunter, wie er am Kamin saß und die Lippen bewegte und das Glas hob, als trinke er jemandem zu. Er war so allein in der riesigen dunklen Halle mit den toten Vögeln und den Geweihen, die so wilde Schatten warfen, und den toten Männern und Frauen, die aus ihren Goldrahmen herunterblickten, so schrecklich allein, daß sie einmal hinuntergelaufen war in ihrem langen Nachthemd, das sich ihr um die Füße wickelte, und sich an seine Schulter gestellt hatte wie ein junger, starker Schild. Und er hatte nichts gefragt und nicht gescholten, nur mit seiner Hand sie leise an sich gedrückt, ohne sie anzusehen. »Alter Mann«, hatte er gesagt, »viel Besuch in der Nacht … nicht kümmern … stille Leute …«

Das waren nun wieder solche Worte. Wer waren sie, die stillen Leute, die nachts zu Besuch kamen und die sie nicht sah? Gab es noch die Tarnkappe, oder waren es die Wichtelmänner unter den Eichenwurzeln im Park, oder waren es die Toten? Aber kamen die Toten wieder, außer im Traum? »Ach, Kindchen«, sagte Tante Mieze, »du denkst zuviel. Das sind nur die Erinnerungen, und zu mir kommt ja er auch, wenn ich in der Nacht wach liege. Und still ist er auch. Kein Sattel mehr, kein Glas in der Hand, keine Blumen am Helm … er war doch gut, Kindchen …«

Aber Marianne glaubte nicht, daß zu Tante Mieze »stille Leute« kämen. Sie kamen sicherlich nicht zu denen, die vor dem Zubettgehen noch einmal auf dem Zahnarztstuhl saßen und anzuhören waren, als ob sie ertränken. Man konnte es bei Johann versuchen, wenn er an der Kanonenmündung lehnte, aber er zog nur die Augenbrauen hoch und entschied, daß das Taubstumme sein müßten. »Ach, Johann«, seufzte sie und sah von unten zu ihm auf, »es ist so schwer mit dir, weil du so groß bist.« Worauf sie ihn in tiefes Nachdenken verfallen sah.

Bildermann aber sog an seiner Pfeife und sah zur Seite ins Wasser  … »Kleines Fräulein«, sagte er, »das sind wohl die, die hinter einem Gitter sitzen«, und weiter wollte er sich nicht auslassen darüber.

Nur Thomas wich nicht aus. »Heute, Kind«, sagte er, »gibt es nur zwei Arten von ihnen: die Soldaten und die Toten.«

»Aber kommen sie denn wieder, Thomas? Zum Besuch?«

»Zu den Liebenden kommt alles zurück, Kind, auch die Toten.«

»Zu den Liebenden …«, wiederholte sie für sich. Das mußte also das Größte sein, daß niemand sich vor ihnen fürchtete.

Sie seufzte noch einmal, und dann zog sie endlich die Vorhänge auf. Der Tau funkelte, die Wipfel wölbten sich wie gehämmertes Gold, und wenn sie sich weit aus dem Fenster beugte, sah sie das blaue Wasser, in dem das Spiegelbild der Bäume lautlos schwamm. Nun kamen sie schon mit den Netzen heim, und Bildermann saß auf der Schwelle und drehte die Kaffeemühle.

Der Kuckuck rief, und sie begann zu zählen. Sie wollte nicht so schrecklich lange leben, daß man weiße Haare bekam und die Parasiten die Herrschaft antraten, im Kehlkopf oder an anderer Stelle. Sie wollte nur so lange leben, wie der Großvater noch da war. Oder Thomas. Sie wollte nicht allein bleiben unter den anderen. Fünfzehnmal … zwanzigmal … zweiundzwanzigmal … Das war lange. Fünfunddreißig Jahre war ein schönes Alter zum Sterben, wenn die anderen noch so lange da waren. Dann kamen die Gutskinder mit Blumen, und Bergengrün war längst Pfarrer und hielt die Grabpredigt. Und sie würde sich wünschen, daß die Schulkinder das schöne Lied von Kantor Loewe sängen: »Schäferin, ach, wie haben sie dich so süß begraben …«

Sie begann es leise vor sich hin zu singen, kämpfte die Tränen tapfer nieder, sah Thomas mit Bildermann hinter dem offenen Sarg hergehen und konnte sich nun zu den »stillen Leuten« rechnen, die nachts wiederkamen, wenn der Mann »auf dem Ozean« am Feuer saß. Aber es war noch so lange hin, zweiundzwanzig Jahre … du lieber Gott …

»Kindchen, Kindchen«, sagte Tante Mieze in der Tür, »mußt du nun gerade am Morgen Totenlieder singen? Was ist das bloß für ein Haus hier?«

Aber Marianne winkte schon lächelnd mit der Hand und verschwand im Bad, steckte noch einmal den Kopf zur Tür hinaus und sagte strahlend: »Das Haus zu den beiden Königskindern, Tante Mieze.«

Der Großvater war schon von seinem Morgenritt zurück, und sie nahmen das Frühstück zusammen auf der Terrasse. Der Kuckuck rief noch immer, und Bergengrün sollte zählen, wie viele Jahre ihm noch beschieden sein würden, aber er weigerte sich und sagte, daß selbst der scherzhafte Aberglaube ein Rückstand aus heidnischen Zeiten sei. Der General sah ihn drohend an. Das Scherzenkönnen mit dem Tode, erwiderte er, habe nur das Heidentum verstanden. Erst »sie« hätten das Gerippe erfunden. Schlechte Erfindung gewesen. Wolle nicht vom Gerippe geholt werden. Sterben sei der schönste Tod! Schon mal gehört?

Bergengrün war verblüfft. »Wie meinen, Herr General? Sterben …«

»Sterben ist der schönste Tod. Jawohl. Couplet aus dem Kriege …« Und dann lachten Großvater und Enkelkind, bis ihnen die Tränen in den Augen standen.

»Aber das ist ja doch eigentlich … selbstverständlich«, meinte Bergengrün nach einer Weile.

Nun lachte auch Tante Mieze, und Marianne legte wieder ihre Hand auf Bergengrüns Arm. »Wir machen ja nur Spaß«, sagte sie tröstend. Aber er schüttelte noch lange den Kopf und sah den General von der Seite an. Ein verehrungswürdiger Mann, sehr verehrungswürdig, aber ein rauher Feldsoldat zuweilen. Wie aus dem Dreißigjährigen Krieg.

Felder und Ställe wurden besprochen. Geflügelhof und Fischfang, Instleute und Kinder, Hochzeit und Tod. An jedem Morgen begann die Welt des Hofes sich von diesem Platz aus zu drehen, nach alten Gesetzen, über denen lenkend die Sonne stand. Sie alle waren nur Diener, mit Fleiß und Gehorsam, und jede Wolke war mächtiger als ihr Wille. Aber sie wußten, daß die Erde gut gewillt war, mehr als die Menschen, und daß ein anderes Jahr einholte, was dieses versäumte. Die neue Zeit spülte auch an ihre Ufer und manchmal über sie hinweg. Der Besitz wechselte schnell, aber die Erde schüttelte bald ab, was nicht von der Erde gekommen war. Das steile Dach stand noch hoch und sicher über ihrem Leben.

»Antreten!« sagte der General und stand auf.

Das Schulzimmer war mit dem grünen Licht der Bäume erfüllt. Bergengrün sprach wie an jedem Morgen ein stilles Gebet. Dann fingen sie an. Er hatte niemals Mühe mit diesem Kind gehabt. Es war nicht in allen Dingen wißbegierig oder freudig, aber es wußte, was der Großvater meinte, wenn er vom Pflichtgefühl des preußischen Soldaten und seiner Kinder sprach. Es gab kein Versäumnis bei ihr, keinen Leichtsinn, keine Unredlichkeit. Die Männer und Frauen in der Halle sahen ihr zu, und sie liebte nicht, die Augen niederzuschlagen. Auch arbeiteten sie für keine Schule.

Schwieriger waren die Traumtage. Wenn es in den grauen Augen nicht Tag werden wollte und die Gäste der Nacht noch immer unter den Wimpern sich eingerichtet hatten. Wenn die Finger mit der dünnen goldenen Kette spielten und wenn sie »Tobias« sagte statt »Herr Bergengrün«. Es war ihm dann, als käme die vertraute Stimme plötzlich von weither, von einem Brunnen etwa im Heiligen Lande, um den die Schafe, Rinder und Kamele sich drängten, um den der rötliche Staub der Wüste stand und von dem der Engel der Verkündigung eben fortgegangen war, um hinter den Ölbäumen seine silbernen Flügel aufzuschlagen.

Dann blieb Bergengrün stehen auf seinem gewohnten Gang vom Fenster zum Bücherbrett, legte die Hände auf dem Rücken zusammen und sah sie verstohlen an. Er liebte das Kind, wie er das ganze Haus liebte, unbeholfen und ganz und gar ergeben, eine Insel in dem grauen Meer seines Lebens. Aber was würde aus ihr werden?

War er der rechte Führer für diese jungen Füße, die nach so merkwürdigen Ländern suchten, während er keinen anderen Leitstern hatte als Gottes Wort? Ein elternloser und armer Student, der seine Ferien in Fabriken und Bergwerken zubrachte, viel verspottet und ein wenig geliebt, immer etwas geblendet und auch blind hinter seiner Brille? Sollte er zum General gehen und sagen, daß seine Hände zu grob seien für Traumvögel? Daß er keine Mutter sei und daß es Kinder gebe, die nicht ohne Mutter aufwachsen dürften? Aber wahrscheinlich würde der General sagen, daß die Platens auch ohne Kleider aufwüchsen, wenn es nötig sei.

Dann fiel ihm nichts anderes ein, als die griechische Grammatik oder das Lehrbuch der Geometrie leise beiseite zu schieben, sich dem Kind gegenüber zu setzen, den Kopf in die Hand gestützt, und eine der stillen Geschichten anzufangen, die er ohne Vorbereitung und mit einer unbewußten Begnadung erzählen konnte. »Einmal, vor langer Zeit, wuchs ein Kind in einem armen Hause auf …«

»Oh … Tobias … war es ein wirkliches Kind?«

»Ein wirkliches Kind, und konnte singen wie ein Engel.«

»Und wie hieß es?«

»Es hieß Franz Schubert.«

»O Tobias, erzähle alles, was du von ihm weißt!«

Und Bergengrün erzählte. Er wußte soviel von diesen vergangenen Menschen und Zeiten, nicht nur, weil er ein Musiker hatte werden wollen, und zuletzt saß er am Klavier, und das Kind stand neben ihm, die Hand auf seiner Schulter, und sang mit seiner hohen, dünnen, aber ganz reinen Stimme: » … trinkt noch Glut und schlürft noch Licht  …«

Sie horchten beide auf den letzten verklingenden Ton, zwei Kinder, die einer beglänzten Wolke nachsahen, und beide wußten kaum, wieviel Segen aus ihr auf sie gefallen war.

»Du bist so gut, Tobias«, sagte dann das Kind. »Morgen wird es besser gehen. Heute nacht waren die stillen Leute da  …«

Er fragte nicht, er nickte nur. Er wußte, daß auch Kinder in Bergwerken leben können.

Dann gab es auch Tage, an denen sie liebte, ihn »auf die Fährte zu setzen«. Nicht weil sie nicht arbeiten wollte, sondern weil sie so liebte, zuzusehen, wie ihm »die Flügel wuchsen«. Bei den Seligpreisungen etwa, oder beim Leben Anton Bruckners, oder bei dem großen Orgelspieler, der alles hinter sich ließ, um im afrikanischen Urwald für die Kranken dazusein. Dann sah sie ihm zu, wie sein häßliches Gesicht hinter der Brille sich verschönte, wie ein Glanz auf seine Stirne fiel und wie er nun ganz und gar ein Soldat war, besessen von den stillen Befehlen der Menschlichkeit und der Liebe. Sie sah seinen Händen zu, die immer Tintenflecke trugen und die nun so schön waren, beseelt von der Hingabe an das Große menschlichen Vermögens, seinen Lippen, die so oft unsicher und müde waren und die nun die guten Worte sprachen, von denen, deren Jünger er war, denen er sich verehrend hingab und über denen er gänzlich vergaß, daß ein Mensch namens Bergengrün auf der Erde lebte, die ihre Fußspuren trug.

Und wieder ging die Wolke über sie hin, der sie nachsahen und von der sie nicht wußten, wieviel Segen aus ihr fiel.

Manchmal kam der General unten am Fenster vorüber, hörte die selbstvergessene Stimme und blieb stehen. Wußte nicht immer, wovon die Rede war, aber fühlte, daß es schön und »außer sich« war, ein großes Bild, das jener vor dem Kinde aufstellte, ohne an sich oder an das Kind zu denken. Ging dann verstohlen weiter, in Gedanken verloren, blieb noch eine Weile vor den Lilien stehen, die betäubend dufteten, und konnte dann nach dem Mittagessen, im Hinausgehen, zu dem verwunderten Bergengrün sagen »Ordentlicher Mensch, Bergengrün … immer gewußt … dankbar für das Kind … Examen machen und hier Pfarrer werden … dafür sorgen … verstanden?«

»Jawohl, Herr General …«

Um elf Uhr setzte Bergengrün sich über die christliche Dogmatik, und der General ritt mit seinem Enkelkind über die Felder. Es war seine schönste Stunde, und er vergaß den Krieg, das Elend seines Volkes und die beiden Söhne. Er vergaß sie vielleicht nicht, aber sie waren übergegangen in die lichte Form dieses Kindes, das gerade und aufmerksam neben ihm ritt. Blut war gegeben worden, aber das letzte war aufgegangen und bewahrt worden. Man hatte immer die Söhne an das Vaterland gegeben, aber in den Töchtern erhielt sich das Erbe. Das Schicksal düngte nicht nur den Boden der Reiche mit Blut.

Er ließ das Kind wachsen. Er wollte es nicht haben, wie er selbst war. Soldaten mochte man so haben wollen, mußte es wahrscheinlich auch. Sie kamen aus anderen Bezirken, aber das Kind kam aus seinem Blut, und selbst sein Blut speiste sich aus dem Brunnen des Geschlechtes. Er wollte es nur wahr und gehorsam haben, und es hatte nicht ihm zu gehorchen, sondern der Erde, die ihm gehören würde. Er wußte, daß manchmal der Traum in ihren Augen stand, auch ohne daß er die Schulstunden besuchte. Aber ohne Traum konnte man sich nicht hingeben an den König oder an die Erde. Es gab Stunden, für die man einen Glauben haben mußte, und wenn der Glaube wankte, blieb nur der Traum.

»Bei besseren Zeiten hier Wald pflanzen, Kind«, sagte er und deutete mit dem Reitstock auf einen langgezogenen kahlen Hang. »Ja, Großvater. Kiefer, Birke und Wacholder.«

Er nickte, und sie ritten weiter. Die Roggenschläge wogten schon im Wind, und in der Ferne gingen die Flügel der Mähmaschinen durch die blühenden Wiesen.

»Kann man das zusammen haben, Großvater?« fragte das Kind. »Lieder singen und hier reiten und immer gut sein?«

»Nicht immer«, erwiderte er. »Manchmal nacheinander, manchmal zusammen. Ein großes Herz haben, Kind. In ein großes Herz geht die ganze Welt hinein.«

»›Trinkt noch Glut und schlürft noch Licht  …‹, kann man das immer singen, Großvater?«

»Immer!« sagte er und sah sie von der Seite an.

Beim Mittagessen war der General schweigsam, aber er hörte aufmerksam zu. »Zur Insel?« fragte er, als Johann die Zigarrenkiste brachte.

»Ja, Großvater.«

»Grüßen. Mitbringen, wenn es geht. Kamin Platz für zwei.«

»Ja, Großvater.« Sie lief schon die Treppe in ihr Zimmer hinauf.

»Arbeiten, Bergengrün?«

»Jawohl, Herr General.«

Nach einer Weile mit drohenden Augen: »Daß ihr mir auf das Kind acht gebt! Sperber! Bergengrün! Verstanden?«

»Aber Herr von Platen …«

»Jawohl! Nicht nur mit Salz … weiß, gut gemeint, beide. Aber noch mehr achten! Kein Leid, verstanden? Kein Leid! Kommt von selbst …«

Er schob das Glas zurück, nickte ihnen zu und ging in sein Zimmer.

Der See war still wie Glas, und wie auf Glas fuhr ihr Spiegelbild mit ihr mit, leise gewölbt von der schwachen Kielwelle. Die Vögel schwiegen, nur die Spechte hämmerten unermüdlich im Wald. Sie waren so fleißig wie Bergengrün, der mit seinen schwachen Augen die Seiten der alten Bücher hinauf- und hinunterfuhr, um das Salz der Erde zu finden. »Wo nun das Salz dumm wird, womit soll man's salzen?« Was für geheimnisvolle Fragen, und sie alle mußten einmal antworten, auch sie selbst.

Einmal würde er hier Pfarrer sein, der Großvater hatte es versprochen, und sie würden alle zusammenbleiben. Draußen gingen die Jahre immer wechselnd über das Land und die ganze Erde, so wie das Licht über die große Kugel, wenn Thomas sie bewegte. Aber hier blieb alles, wie es war. Die Felder wuchsen, der junge Wald, die Kinder der Leute. Wenn der alte Kutscher starb, kam sein Sohn heran. Wenn die Stute »Freya« ihr Gnadenbrot bekam, ging ihre Tochter schon unter dem Sattel.

Sie würde niemals fortgehen von hier, und auch die anderen dürften nicht fort. Dreiundzwanzig Jahre müßten sie schon aushalten. Tante Mieze würde dann eine Salzsäule sein wie Lots Weib, und im Winter würden die Rehe zu ihr kommen und leise an ihren Händen lecken. Thomas aber würde niemals alt werden. Die Insel würde zuwachsen, das Schilf, die Schonungen, und der blaue Rittersporn würde über dem Dach zusammenschlagen wie ein leuchtendes südliches Meer. In seiner Grotte aber würde er unverändert sein, das dunkle, glatte Haar, der schmale Mund, die Hand, die so ruhig sich bewegen konnte, viel ruhiger als eines anderen Menschen Hand.

Sie seufzte vor Glück und ließ die Ruder sinken. Sie wußte, daß sie träumte, aber nur die Bilder waren ein Traum. Der Boden, aus dem sie wuchsen, war ganz wahr: der Glaube an das Zuverlässige des Lebens, wenn man gehorsam war, das Bleibende der Erde, die sie trug, und daß die Liebe stärker war als alles Schicksal. Wenn man sie hineinnahm in das »große Herz«, die Menschen und Dinge, so konnte man sie darin bewahren wie das Schiff in der Flasche. Sie gingen nicht fort, sie veränderten sich nur so weit, wie man es erlaubte. Sie waren unvergänglich.

Von weitem hörte sie den hellen Hammerschlag von der Insel. Das war Bildermann, der in seiner Feldschmiede über dem schiefen Amboß stand. Es klang so hell, als dengele er eine Kindersense. Auch er würde bleiben. Auch er hatte Meeraugen und war stärker als der Tod. Er war schon auf dem Grunde gewesen und wieder aufgetaucht. Sie hatten ihn fortgeschleppt und ihn gehalten wie Vieh in der Koppel, aber sie hatten ihn nicht verwahren können. Thomas hatte gerufen über die graue See hin, und er war gekommen, um den Tod seines Herrn zu bestehen. Oh, es gab schon Engel, auch wenn man sie nicht sah. Und wenn es geschehen und vollendet war, was sie gewollt hatten, dann hoben sie sich auf, die großen Unsichtbaren, und man hörte nur noch ihre silbernen Flügel unter den Sternen rauschen wie die Flügel der großen Vögel über den Eichen auf der Insel.

Die Stauden des jungen Grafen blühten nun um das Haus. Die Malven reichten bis auf das Dach und legten ihre weißen und roten Kelche auf das graue Rohr. Darunter standen die Dolden des Rittersporns und die blauen Helme des Eisenhuts. Die Wand der Dahlien war noch grün, aber vor ihnen stand der Phlox schon in der ersten Blüte, und der süße Duft zog weit auf den See hinaus. Alle Farben standen so regungslos in der Mittagsglut wie auf einem Bild, nur die Luft zitterte über ihnen, als sei das Ganze aus glühendem Metall, und ab und zu hob ein Schmetterling sich berauscht empor und ließ sich wieder fallen, das Rot des Admirals oder das Blau der Schillerfalter.

Langsam, mit dem letzten Ruderschlag, trieb das Kind an das Ufer. Es wußte nun kaum, ob das Ganze nicht ein Mittagstraum war, ein Zaubergarten, der mit allen Farben sich glühend im Wasser wiederholte, jede Blüte und jeder Halm. Der Zauberer war unsichtbar, nur der helle Ton des Hammers war immer noch in der Luft, der auf ein Geschmeide schlug oder auf einen gläsernen Sarg. Ein Pirol begann von den Eichen zu rufen, auch er ein Zaubervogel, der sich um das erlösende Lied bemühte und es niemals fand.

Als der Kiel in den Sand stieß und das Wasserbild des Hauses und Gartens erbebte, trat Thomas auf die Schwelle. Er sah das Kind auf den Sand treten und die Hand zu ihm heben, dann stille stehen und schwanken, an den Pfahl gelehnt, auf dem der Flügel des Netzes hing, und langsam an ihm zu Boden sinken. Er hob es auf, sah die Augen sich wieder öffnen und ein tiefes, noch verwirrtes Staunen tief auf dem blassen Grund. Ein feuchter Hauch lag auf der Stirn, und das Gesicht war bis in die Lippen hinein erblaßt.

Es lächelte, fast noch jenseits des Bewußtseins. »O Thomas«, flüsterte es, »stand dort jemand?«

Er hielt sie immer noch auf den Armen und sah erschreckt in ihre Augen. »Du darfst nicht fahren, Kind, um diese Zeit«, sagte er ruhig und trug sie zum Hause hinauf.

Sie hatte die Arme um seinen Hals gelegt und blickte über den See zurück. Dicht vor ihren Augen schimmerten ein paar graue Fäden in seinem dunklen Haar.

»Ist etwas Besonderes um diese Zeit?« fragte sie.

»Die Alten sagten, daß Pan schlafe«, erwiderte er.

Der Raum war bei zugezogenen Vorhängen dämmrig und kühl. Er legte sie behutsam auf sein schmales Bett, kniete vor dem Maskenschrank nieder und kam mit einem lichtblauen Seidengewebe zu ihr zurück, auf das mattgoldene Vögel gestickt waren, zarte, langgestreckte Leiber, deren ausgebreitete Flügel wie rötliche Nebel waren. Ein fremdartiger Duft erhob sich aus den knisternden Falten, als er sie zudeckte, und sie wagte nicht, die Hände auf die goldenen Vögel zu legen.

»Du brauchst dich nicht zu fürchten«, sagte er, schon wieder lächelnd, »eine Prinzessin hat es getragen, und es steht dir zu.«

»Was für eine Prinzessin, Thomas?«

»Auf Bali, Kind, weit von hier fort. Sie nennen es einen Sarong und tragen es um die Hüften geschlungen.«

Er hielt seine Hand an ihren Pulsschlag, und sie fühlte, wie ihr Blut gegen seine Finger schlug. »Es war nur die Mittagsstunde, kleine Prinzessin«, sagte er und schob ihre Hand unter das blaue Gewebe. »Liege nur ganz still!«

Er ging in den Nebenraum. Der Griff eines Eimers klirrte, und dann hörte sie den Balken des Brunnens sich mit dem vertrauten stöhnenden Laut abwärts bewegen. Jetzt schöpft er das Wasser, dachte sie.

Ein unendliches Glück erfüllte ihre Brust, so daß sie tief aufatmen mußte, um ihm Raum zu geben. Die Bücherwand schimmerte matt zu ihr herüber, die unsterbliche Mauer, wie Bergengrün sagte, und neben ihr, mit der Hand zu erreichen, schwebte die Weltkugel im gedämpften Licht des Raumes. Sie nahm die Hand unter der Decke vor und legte vorsichtig die Fingerspitzen auf die Anden von Südamerika. Die Robinsoninsel schwebte lautlos vorbei. Salas-y-Gomez, von der es die schönen, traurigen Verse gab, die Paumotu-Inseln, durch die das rote Band der Ekliptik lief. Schweigend versanken sie im Großen oder Stillen Ozean (so feierlich und fern dieser Name), und immer neue Inseln standen auf, Palmenwipfel und Korallenbänke … das zerbrochene und zersplitterte Festland des Sundameeres … und da war sie, wo man dieses gewebt und getragen hatte: Bali, verloren im blauen Ozean, und nur die bösen Berge Neu-Guineas leuchteten noch vom Horizont herüber.

Sie ließ die Hand sinken, indes ihre Augen auf die ferne Welt gerichtet blieben, auf der der Schatten des blitzenden Äquatorstreifens lag. So weit …, dachte sie, so weit … und nun fängt er hier die Fische, wie Christoph es tat … aber seine Augen sind noch dort, auf dem Ozean, seine und Bildermanns … Meeraugen, wie keiner sie hier hat …

Er kam mit einer Schale wieder, tauchte ein Tuch in das kalte Wasser und legte es auf ihre Stirn. Dann zog er einen Schemel neben das Bett und blieb dort sitzen, das Kinn auf die gefalteten Hände gestützt. Nur das Tuch wechselte er von Zeit zu Zeit und sah zu, wie die Farbe wieder in ihre Wangen kam.

Zuerst hielt sie die Augen geschlossen. Eine Fliege summte durch den Raum, stieß einmal an die ruhende Weltkugel und verschwand im Nebenraum. Dann war nur der kleine Hammer zu hören, der auf das Geschmiede fiel.

»Soll er aufhören?« fragte Thomas.

Sie schüttelte den Kopf und öffnete die Augen. »Willst du wieder dorthin?« fragte sie und hob die Hand gegen die ferne Insel.

Er beugte sich vor und sah, wo sie hinwies. »Nein«, sagte er, »ich bleibe nun hier.«

»Immer?«

»Wenn niemand mich fortschickt: immer.«

Sie blickte zu den schwarzen Balken hinauf, über die durch einen Spalt zwischen den Vorhängen ein einzelner Sonnenstrahl wie ein Goldfaden lief. Als er das Tuch wieder von ihrer Stirne nehmen wollte, sah er, wie in ihren Augenwinkeln sich zwei Tränen sammelten und langsam an ihren Wangen herunterglitten.

»Was ist, Kind?« sagte er ratlos.

Aber sie lächelte schon wieder. »Du mußt mich nun nicht fragen, Thomas«, erwiderte sie.

Nach einer Weile schlief sie ein. Er betrachtete sie lange. Der Sarong deckte sie bis zum Gesicht zu, und einer der goldenen Vögel schien die Schwingen über ihrer Brust auszubreiten, um über ihre Stirn hinweg aus dem Raum zu fliegen. Sie sah fast körperlos aus in ihrer Verhüllung, nur das Gesicht leuchtete im gedämpften Licht, vom Helm des Haares umgeben. Sie war wie ein toter Page, den man auf einer Bahre vom Schlachtfeld aufgehoben und hier in der Dämmerung niedergesetzt hatte.

Er hielt die Uhr an, lauschte noch einmal auf ihren ruhigen Atem und verließ dann durch den Nebenraum das Haus. Er sprach ein paar Worte mit Bildermann, bat ihn, mit dem Hämmern nicht aufzuhören, weil sie darüber eingeschlafen sei, und setzte sich dann in den Schatten des Hauses, wo ein kühler Luftzug um den Giebel strich. Er stopfte langsam seine Pfeife und dachte nach. Er war ziemlich ratlos, denn er wußte so wenig von diesen Jahren, in denen ein neuer Mensch aus dem Kinde heraufwächst. Bei Joachim war alles viel einfacher, und Schwestern hatte er nicht gehabt. Aber es war auch wohl keine Sache des Denkens oder Wissens. Man mußte sie nur behüten und zusehen, wohin es sie wies. Und immer dastehen, um sie aufzufangen. Sie war wie ein Kind auf einem Goldfaden.

Das andere aber, das nur wie ein Hauch auf einem Spiegel war, würde vorübergehen, sobald Joachim wiederkäme. Es waren zuviel alte Leute um das Kind.

Von Zeit zu Zeit stand er auf und ging leise durch den Nebenraum an die Tür. Sie schlief noch immer, nur der rechte blasse Arm war unter der Decke hervorgeglitten und hing zur Erde herab. Ihr Atem ging ruhig und tief.

Er stellte die Milch für die Schokolade zurecht, machte leise Feuer im kleinen Herd, setzte den Wasserkessel auf und rauchte wieder draußen seine Pfeife. Im Südwesten stand schon eine fahle Wolkenwand über dem Walde, und die Pirole riefen den Regen an. Auch die Gewitterluft mochte es gewesen sein, dachte er, und leise fielen ihm die Augen zu. Der Phlox duftete betäubend, und Bildermanns kleiner Hammer schlug noch immer unermüdlich auf den kleinen Amboß. So viele Jahre, dachte er noch, und jetzt erst ist der Friede da … aber weshalb die Tränen … schon kleine Frauen können so seltsam sein … Dann schlief er ein.

Er erwachte davon, daß Herdringe klapperten und die Bootswände aneinanderstießen, während Bildermann die Netze einlud. » All right, Kapitän«, rief er herauf, »das kleine Fräulein ist schon dabei!«

Sie kam ihm in der Tür entgegen, noch ein wenig blaß, aber voller Freude, daß auch er die Zeit verschlafen hatte. Bildermann trank seine Tasse im Stehen, weil das Gewitter heraufzog und Thomas dableiben sollte. Nein, er wollte auch einmal allein sein Heil versuchen, und das kleine Fräulein brauche noch eine Hand am Ruder.

Thomas brachte den tiefen Stuhl heraus, legte ihr das blaue Gewebe um die Schultern und bat sie, ganz gehorsam zu sein. Sie habe ihn erschreckt, und er sei noch immer in Sorge.

Sie empfing die Schokolade mit ungläubigen Augen und fragte nur, ob sie ein Schiff gekapert hätten. Dann sahen sie zu, wie Bildermann zur Bucht hinüberruderte. Der graue Berg der Netze war höher als er selbst.

Die Wand war nun dunkler geworden und hatte sich über die Sonne geschoben. Der Rand der Wolke glühte noch weiß, aber über dem Wasser lag schon ein verändertes Licht, und die Schwalben flogen tief über die Rohrinseln hin. Sie beschlossen, daß sie das Wetter abwarten wollten, auch erwartete der Großvater ihn, Thomas, am Abend.

Sie saßen und sahen zu, wie drüben die Netze über die Bootswand glitten. Von ferne sahen sie jetzt wie weiße Bänder aus. Dann holte Bildermann die anderen Netze, die zum Trocknen drüben auf der Wiese blieben, und auch sie versanken im schwarzen Wasser. Er arbeitete so leise, daß sie keinen Laut wahrnahmen und das Ganze wie ein Traumbild war.

»Jetzt wandern die Fische«, sagte Thomas. »Morgen gibt es einen großen Fang.«

Weshalb sie wanderten? Das wisse er nicht. Die Tiere empfingen das Kommende deutlicher als die Menschen. Wahrscheinlich wüßten wir zuviel, das mit dem Verstand zu Begreifende, und hätten darüber die Gabe des Ahnens verloren. Nur alte Völker und alte Geschlechter hätten davon noch etwas bewahrt.

Ob die Orla ein altes Geschlecht seien?

Nun, es ginge so, erwiderte er lächelnd. Ins Räuberzeitalter reichten sie schon hinunter, und ihr Schuldbuch im Himmel würde wahrscheinlich ganz ansehnlich sein. Aber er habe eben an die Perneins gedacht, und wenn sie älter sei, wolle er sie einmal zum jungen Grafen mitnehmen. Sein Garten sei nun wirklich ein Zauberland.

Aber sie schüttelte den Kopf. Sie fürchtete sich vor ihm. Er lächle immer, aber er sei niemals froh.

Ja, aber das sei wohl nicht zum Fürchten.

Zum erstenmal murrte es nun leise hinter dem Wald, und die hohen Malvenstengel rieben sich einmal leise am trockenen Rohrdach. Ein grauer Schein lief einmal über den See, eine schmale Bahn mit scharfen Rändern, und erlosch schon, ehe er das andere Ufer erreicht hatte.

Ob sie sich fürchte? Nein, bei ihm fürchte sie sich nicht.

Der Fischadler kam noch einmal von Osten über den Wald. Leib und Schwingen glänzten wie aus hellem Metall. Er stieß dicht bei Bildermann nieder, und sie sahen zu, wie dieser ihm nachblickte, das Gesicht gehoben, ein blasser Fleck vor der schwarzen Wälderwand. Der Schrei des großen Vogels fiel aus der Höhe wie in einen leeren Raum.

»So viel geschieht bei dir, Thomas …«, sagte das Kind.

Es wurde schnell dunkel, und sie trugen das Geschirr und den Stuhl hinein. Die Blitze hingen nun schon als goldene Peitschenschnüre über dem Wald, und die Eilung traf Bildermann noch kurz vor der Landung. Sie brauste so schnell über das Wasser, daß der Schaum schon spritzte, ehe sie es recht begriffen. Die Wälder dröhnten, Sand trieb gegen die Fenster, das Schilf lag flach über dem weißen Wasser. Aber indes die Sturmwand sich gegen das östliche Ufer warf und die Wälder beugte, war es bei ihnen schon wieder still, nur der See rauschte noch lange und drohend nach.

Sie sahen, wie Bildermann prüfend den Himmel betrachtete. Dann zog er Joachims und Mariannes Boot aufs Land und drehte sie um. Es sah unter seinen Händen aus, als seien sie aus braunem Papier. Als er das Haus betreten hatte, stürzte der Regen senkrecht herunter.

Thomas und Marianne standen am geöffneten Fenster. Es rauschte schwer über das ganze Dach und riß den Sand des Uferhanges in kleinen Schluchten auf. Der See war ruhig, nur vom Tropfenfall aufgewühlt, als koche eine riesige Schale mit graublauem Metall. Der Wald dahinter war fast weiß, und sie glaubten zu sehen, wie die Blitze ihn zerschlugen.

Sie standen ganz still und atmeten die gereinigte Luft. Die Stauden standen tief gebeugt, aber ihr Duft ging in schweren Wellen über die Erde hin. Es war nun wirklich wie auf dem Ozean, als trieben sie unter schweren Segeln langsam dahin, und wenn die Wolken zerrissen, so würde der Regenbogen sich nicht von Wäldern zu Wäldern spannen, sondern mit beiden Füßen im Unabsehbaren des Wassers stehen. Und alles Land würde weit hinter der Krümmung der Erde liegen.

Aber als dann die Wand des Regens nach Osten zog, den See verließ und nur noch über die Wälder fiel; als in dem zurückbleibenden hohen Gewölk die blauen Spalten aufbrachen und der umgesprungene Wind das Gewölbe klar fegte; als die Brücke des Regenbogens hinter den letzten Schleiern plötzlich dastand, als sei sie immer dagewesen, und sogar ein blasses Spiegelbild neben sich trug; als die Schwalben das Rohrdach verließen, das Gefieder schüttelnd, und mit hellem Ruf über der Insel kreuzten: da war es doch wieder ein Land ohne Traum, vertraut ihm bis zu den letzten Winkeln der Buchten, lieb geworden durch Arbeit und Spiel, dampfend von Segen; und als sie auf die Schwelle traten, den Geruch des Birkenlaubes einatmeten und die weißen Nebelsäulen aus den Wäldern steigen sahen, wußte er, daß er keines Schiffes bedürfe, um ein frohes Herz zu gewinnen. Sie gingen langsam das Ufer entlang, einmal um die ganze Insel herum, daß sie ihrer noch einmal gewiß wurden, und drehten sich mitunter um, zu sehen, wie ihre Spuren dicht nebeneinander im weichen Sande hinter ihnen herliefen.

»Du wirst es nicht sagen, Thomas«, bat Marianne, als sie am Steuer nebeneinander saßen und das weiße Segel sie durch den Abend zog. »Keinem, nein?«

Er dachte eine Weile nach. »Wenn du versprichst, es mir zu sagen, sobald es wiederkommt, und wenn du versprichst, daß du den nicht stören willst, der mittags schläft, dann sollen nur wir beide davon wissen.«

»Ich verspreche es, Thomas … aber weshalb darf man ihn nicht stören?«

»Weil er ein Gott ist und alles umfängt, Wald und Wasser, Tier und Vogel und Blume und Strauch. Und mittags schlafen sie. Der Schlaf aber ist heilig und der Bruder des Todes. So sagten die Alten.«

»Werde ich einmal so viel wissen wie du, Thomas?«

»Mehr wahrscheinlich, aber das Wissen ist ein geringer Besitz.«

»Und welches ist der größte Besitz?«

»Der größte Besitz ist die Liebe.«

»Und du sagtest einmal, daß sie da ist, wenn man nichts haben will?«

»Nein, ich sagte nur, daß sie am reinsten ist, wenn man nichts für sich haben will.«

Sie dachte lange nach. »Ist es das, Thomas, was im Korintherbrief steht: ›Sie suchet nicht das Ihre?‹«

»Steht das da? Ich hatte es vergessen. Ja, das ist es sicherlich.«

»Und was der Großvater ein großes Herz nennt?«

»Ja, auch das wird es sein.«

»Ich will dir immer gehorsam sein, Thomas«, sagte sie nach einer Weile.

Der Abend wurde kühl, und nach dem Essen brannte das Feuer in der Halle. Das Kind ging langsam die Reihe der Ahnenbilder entlang, blieb hier und da stehen und sah zu ihnen hinauf, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt. »Manche sehen ganz alt aus, Thomas«, sagte sie dann, auf der Lehne eines Sessels sitzend.

Er nickte nur lächelnd. Als sie gute Nacht sagte, stand er auf. »Überhöflich, Orla«, sagte der General. »Alte Schule …« – Es gebe Kinder, erwiderte Thomas, vor denen man ab und zu aufstehen müsse.

Bevor Marianne zu Bett ging, legte sie einen Zettel auf Bergengrüns Tisch: »Lieber Tobias, morgen möchte ich gern die Insel Bali, Pan und den I. Korintherbrief haben (13. Kapitel). Marianne.«

Dann lehnte sie noch einmal aus dem Fenster, hörte dem Sprosser zu, der am Ufer schlug, sah die vertrauten Sternbilder über die Eichenwipfel steigen und den Widerschein ferner Gewitter über dem See. Als sie sich in ihre Decke hüllte, versuchte sie, sich an den Duft des blauen Gewebes zu erinnern, fand ihn aber nicht und sah bei geschlossenen Augen nur das Bild der goldenen Vögel rötlich aus dem Dunklen tauchen. Sie zogen lautlos vorüber, hoch über eine blaue Insel hin, und ein leiser, heller Hammerschlag schien ihre Flügel zu heben und zu senken, regelmäßig, wie ein ferne klingendes Uhrwerk. Das ist Pan, dachte sie im beginnenden Traum, der die Hufe seiner Ziegen beschlägt …

Dann schlief sie ein.

Bergengrün schüttelte den Kopf, als er den Zettel auf seinem Tische fand, und ging noch einmal in die Bibliothek hinunter, um in einem geographischen Werk über die Insel Bali zu lesen. Das andere wußte er ohne Bücher.

»Selten in unserem Geschlecht«, sagte der General am Feuer zu Thomas. »Meistens nüchterne Frauen gehabt. Soldaten- und Landblut. Pferde geritten und Geflügel gezogen. Brav, anständig, zuverlässig … Ganz selten eine Blume dazwischen … Musik, Religion, Gedichte … schweres Leben gehabt in unserer Luft … gehen immer in langen Stiefeln … riechen nach Pferdestall … achtgeben, Orla! Sie auch! Alter Mann … Sorgen und einsam … Söhne zehren am Blut …«

Thomas blickte in das Feuer. »Sie liebt Herrn General sehr«, sagte er langsam. »Den Großvater und das große Herz …«

Der alte Mann sah drohend zu den Ahnenbildern auf und fuhr sich mit der Hand über die weißen Brauen. »Gutes Kind«, sagte er mit seiner heiseren Stimme. »Zu gut für diese Zeit … Mauern bauen, Orla, verstanden? Mauer und Schild!« – »Jawohl, Herr General.«

Sie standen noch auf der Treppe, ehe Thomas ging. Hinter den Dächern flammte es immer noch auf. »Brot wächst,« sagte der General, »aber die Kleine … nicht vom Brote allein … immer bedenken, Orla … uns nicht verlassen, Orla, verstanden?«

»Nein, Herr General!«

Er fühlte seine Hand festgehalten. Der Blick der alten Augen ging über ihn hinweg. »Trinkt noch Glut … und schlürft noch Licht …«, sagte er abwesend. »Gute Nacht, lieber Orla.«

»Gute Nacht, Herr General.«


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