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9

Joachims Geburtstagswunsch im nächsten Frühjahr war nicht eine Uniform oder eine Rennjacht, sondern eine Rohrhütte auf der Insel, »etwas abseits und etwa zur Hälfte fertig«. Den Rest wollte er selbst dazu tun. Es war sein letzter Sommer auf der Schule. Im Frühjahr darauf sollte er seine Reifeprüfung machen. Er würde dann siebzehn Jahre alt sein.

Thomas wunderte sich, daß der werdende Geschwaderchef vor Beginn seiner Laufbahn noch schnell das versäumte Robinsonleben nachholen wollte, doch sagte er nichts und begann mit Bildermann den Bau der Hütte.

Das vergangene Jahr war für Feld und See ein gesegnetes Jahr gewesen. Der General saß noch gerader als sonst im Sattel, und wenn er am Abend seine letzte Zahl geschrieben und die Bücher zugeschlagen hatte, sagte er zu Johann, er werde es den Burschen da oben schon zeigen. Worauf Johann lange nachdachte, welche Dorflümmel sein Herr wohl meinen könne.

Die »Ethik des Seemannslebens« war zu Weihnachten erschienen, hatte nicht wenige Käufer gefunden und war im allgemeinen von der »Fachpresse« abgelehnt worden. Die sonderlichen Gedanken eines Sonderlings kämen zwar aus einem hohen und auch reinen Verantwortungsgefühl, doch hätte die Geschichte aller Flotten bewiesen, daß Zucht und Härte das Rückgrat jedes Schiffes seien, und das Tauende am Anfang der Laufbahn jedes Seemannes wäre nicht die schlechteste Leiter gewesen, auf der man aufgestiegen sei. Die Gedanken schließlich über die Ursachen der Meuterei seien gänzlich abwegig und wohl nur aus Erfahrungen zu erklären, die niemals verallgemeinert werden dürften.

Doch gab es dazwischen Briefe seefahrender Leute aller Grade, in denen, meist mit ungeschickten Worten, der Dank von Menschen ausgesprochen wurde, die über ihren Beruf einiges gedacht hatten und die der Meinung waren, es genüge nicht immer, wieder von vorne anzufangen, sondern daß die Planken des Deckes auch einmal von vorn nach achtern, statt von achtern nach vorn gescheuert werden könnten. »Sozusagen«, pflegten sie bei ähnlichen Vergleichen hinzuzufügen.

Der »Sonderling« legte Zeitungen und Briefe in ein Fach seines Bücherbrettes, nachdem er sie sauber in eine blaue Mappe geordnet hatte, band einen Wollschal um seinen Hals, den das Kind ihm zu Weihnachten gestrickt hatte, und ging auf das Eis hinunter, um das Rohr für die Hütte seines Sohnes zu schneiden. Er hatte wie ein guter Arbeiter sein Bestes getan, und er wußte, daß es das Recht des Handwerks war, zu meinen, es hätte anders getan werden müssen. Doch sah er gern auf das Buch hinunter, wenn es auf dem Tisch lag, wo Bildermann jeden Morgen beim Aufräumen ihm alle möglichen Lagen gab, bis er schließlich mit der letzten einigermaßen zufrieden war. Er sah es gern, nicht weil ihn nach Ruhm verlangt, sondern weil der braune Einband ihm alle einsamen Stunden zu umschließen und zu bewahren schien, die er an diese Arbeit gewendet hatte. Er allein wußte, wie er mit den Blättern dieses Buches aus einer zerschlagenen Welt aufgestiegen war, um sein Brot und seinen Schlaf zu finden.

Bildermann war aber nicht nur stolz (»mein Herr, der große Schriftsteller Orla«, pflegte er in den Dörfern zu sagen), sondern er fühlte den Dank des einfachen Mannes, dessen Seele hier als eine Kraft und als ein kostbares Gut in der Geschichte seefahrender Völker eingesetzt wurde. »An mir, Kapitän«, sagte er, »haben sich viele Leute die Füße abgewischt, Weiße und auch andere, vierzig Jahre lang und noch ein bißchen länger. Aber was hier steht, haben mir wenige gesagt, Kapitän, und wenn Bildermann mal einen Grabstein bekommt, wenn auch nur aus Zement, dann soll das oben stehen, Kapitän, was hier geschrieben steht!«

Und da er nun ein Bügeleisen besaß, so legte er seine Mützenbänder nicht mehr unter den Amboß, sondern machte den Bolzen heiß, bevor er in die Dörfer oder aufs Schloß ging, wo er Johann Vortrag über den Standpunkt hielt, von dem aus der Korvettenkapitän von Orla die Seele des einfachen Mannes »anzupeilen« pflege. Wodurch sich bei Johann die Meinung verstärkte, daß die Meeresluft seltsame Leute ausbrüte. Nur ihr Rum schien unter allen Längen- und Breitengraden gut zu sein.

Der General, nachdem er das Buch empfangen und gelesen hatte, begegnete Thomas mit einer verwirrten Hochachtung und meinte, seit Bestehen des alten Vertrages hätte die Insel wohl noch nie einen so seltsamen Fischer beherbergt wie ihn. Nach vielen Wochen erst hielt er Thomas eines Abends behutsam an einem Rockknopf fest und sagte: »Lange nachgedacht, Orla. Kaiserlich und königlich zweierlei. Armee königlich und preußisch von Anfang an, Marine kaiserlich. Nie zusammengepaßt. Tradition gefehlt, verstanden? Mann im Heer anders als bei euch. Nachgedacht über meine Leute. Nachts, immer noch. Ob man viel verfehlt. Haben mich immer gern gehabt. Hieß der Bullenbeißer bei ihnen, aber gut gemeint. Recht, was Sie geschrieben haben. Lernen, nicht nur abwälzen. Wieder stolz auf Sie, Orla, alle, besonders das Kind. Buch unterm Kopfkissen … zweiter Nelson … Großvater in Reserve versetzt … recht so!«

Das Kind aber sagte lange nichts. Es saß nur oft bei Bildermann in der kleinen Schmiede, sah ihm zu und wollte wissen, wie allein der Kapitän gewesen war. »Auch traurig, Bildermann?«

Er ließ den Blasebalg sinken und sah angestrengt in die glühenden Kohlen. »Tja, kleines Fräulein«, sagte er, »habe ihn nicht gerade von Mast zu Mast hüpfen sehen. Sah immer so durch und durch, als sehe er schon alles kommen. Gibt so alte Leute auf Segelschiffen, die solche Augen haben. Wollen nicht mehr und gehen dann ganz gern mit dem Kiel zuerst auf den Grund …«

Er stopfte nachdenklich seine Pfeife und legte mit der bloßen Hand eine Kohle auf den Tabak. »Hat zuviel, was der junge Herr zuwenig hat«, fügte er hinzu.

»Aber nun ist es besser geworden, Bildermann, nicht wahr?«

»Klar, kleines Fräulein. Flaute überwunden. Passatwetter. Rolling home, my boys …«

Der Blasebalg fauchte wieder, und das Eisen in der Glut begann sich weiß zu färben.

Als sie dann Thomas vor dem Hause traf, sagte sie nur: »Du müßtest längst König von Preußen sein, Thomas.«

Er richtete sich auf und sah sie ernsthaft an. »Gewiß, Kind. Sie haben es nur vergessen bis heute.«

An Joachim schien zunächst nur seine Stimme verändert, die zwischen den höchsten und den tiefsten Tönen schwankte. Doch zeigte sich auch, daß er eigentlich schon im Kommenden lebte und die Insel mit den Augen eines Mannes sah, der sein kleines Hotelzimmer noch einmal betrachtet, ehe er den Ozeandampfer besteigt, der ihn um die Erde tragen soll. Er will nichts mitnehmen, er will sich nur vergewissern, daß er nichts vergessen hat.

Er stürzte sich sofort auf die Vollendung des Hüttenbaues, wies alle Hilfe ab, und erst als beim ersten nächtlichen Regen das Wasser in seine geöffneten Augen tropfte, meinte er zu Bildermann, daß sie vielleicht doch etwas nicht ganz richtig gemacht hätten.

Bildermann sah sich die Sache an, trug Joachims Arbeit wieder ab und meinte gutmütig, von keinem Gymnasium könne verlangt werden, daß es seinen Schülern den Bau von Rohrdächern beibringe. Aber da draußen, fuhr er fort und machte eine unbestimmte Handbewegung über das Wasser hin, könne es nichts schaden, wenn der junge Herr nicht nur immer auf sich allein vertraue. Nelson wäre ein großer Seemann gewesen, aber man sage, daß es ein paar Leute gegeben habe, die besser Klavier gespielt hätten als er.

Als die Hütte gegen alle Wolkenbrüche und Monsunregen gefeit schien, brachte Joachim jede Nacht in ihr zu und bestand auch darauf, jeden Morgen über ein paar Feldsteinen seinen Brei zu kochen. Zu Thomas, der neugierig dabeistand, sagte er, es sei ihm zur rechten Zeit eingefallen, daß er seine ländliche Ausbildung vernachlässigt habe, und wenn das Schulschiff an einer verlassenen Insel scheitere, so müsse man auch diese Dinge können und nicht nur immer sich auf den Kapitän verlassen.

Manchmal, meinte Thomas, sei es ganz zweckmäßig, sich auf Kapitäne zu verlassen. Und es mindere auch die Ehre des Betroffenen nicht allzusehr.

Joachim schluckte tapfer an seinem Brei, der etwas verbrannt roch, und erwiderte, daß sie sich heutzutage ungern nur auf die alten Herren verließen.

Das sei immer so gewesen, sagte Thomas, und es sei ganz recht, wenn jeder sein Lehrgeld selbst zahle. Aber er ruderte sehr langsam und nachdenklich mit seinen Netzen hinaus.

Von der Mutter erzählte Joachim, daß sie im Frühjahr in einem Sanatorium gewesen sei, in der Schweiz, daß sie viel huste, aber ungeduldig werde, wenn man sie frage. Auch sei sie am Abend immer noch viel außer dem Hause. Sie habe ihm anbefohlen, zu sagen, daß es ihr ausgezeichnet gehe.

Doch war nicht zu entnehmen, was Joachim nun davon halte. Er erzählte es etwas nebenbei, zwischen Schulgeschichten, und er hätte ebensogut von einem havarierten Boot sprechen können.

Manchmal fühlte Thomas sich bedrückt. Sie waren heiter zusammen wie sonst, aber Joachim würde nun nicht mehr sagen: »Du bist der klügste Mann auf dieser Erde, Vater!« Wie schnell sie aufwuchsen und fortgingen in diesem Alter! Er versuchte sich zurückzuerinnern, ob es das gleiche mit seinem Vater gewesen sei. Auch damals hatten die Dichter von der neuen Zeit gesungen und die Fensterscheiben des Herkömmlichen eingeworfen wie jetzt auch. Auch er hatte gelärmt, gescholten und gewettert, aber vor dem Kamin, in der kleinen Halle, wo er abends mit seinem Vater gesessen hatte, war das alles versunken, und das alte, kluge Gesicht mit den vielen Falten hatte freundlich gesagt, wenn von allen Paradiesen aller jungen Generationen nur ein kleines einmal verwirklicht worden wäre, dann würden sie schon alle silberne Flügel tragen und er selbst mit allen Gespannknechten an jedem Morgen den Bruderkuß tauschen.

Allerdings war dieses einzuwenden, daß sein Vater nicht nötig gehabt hatte, auf eine Insel zu gehen, um ein frohes Herz zu gewinnen, daß also Joachim berechtigter sein mochte, sich mit seiner Generation nicht mehr so ganz auf die alten Herren zu verlassen.

Auch war es nicht dieses, was ihn bekümmerte. Dienst und Leben würden das Ihrige tun, um zu zeigen, wie sehr jede Jugend die alten Schultern brauchte, wenn es sie nach höheren Kränzen verlangte. Schwerer wog ihm, daß fast jede Stunde in Joachims Leben und nun sogar in seinen Ferien von irgendeiner Zweckmäßigkeit geleitet wurde. Bildermann hatte neulich gesagt, auch wenn der junge Herr seinen Brei esse, »peile er nach dem Geschwaderchef«. Er lachte zuwenig, er spielte zuwenig, er beging keine Torheiten. Seine Augenbrauen waren zusammengezogen, und die jungen Augen darunter sahen unentwegt auf ein altes Ziel. Wie viele Väter würden glücklich sein, dachte Thomas, zumal heute, wo jede gespannte Kraft ein Wunder ist. Aber ich bin nicht ganz glücklich, weil ich weiß, daß einmal etwas fehlen wird, und ich kann nichts dazutun, um es zu ändern. Er aber wird niemals eine Insel brauchen, um sich zu retten, ja, er wird gar keine Rettung brauchen, so sicher wird er seiner selbst sein.

Oft war er versucht, zu denken, daß Joachim wie ein mutterloses Kind scheine, ohne Weichheit und viel zu alt, doch erkannte er ebenso schnell, daß er selbst, Thomas, Schuld genug daran trage und daß nichts übrigbleibe als zu warten und immer bereit für ihn zu sein, wenn er einmal Hilfe brauchen sollte. Er selbst kannte kein Menschenleben, das ohne Hilfe ausgekommen wäre.

Es ergab sich bei einem Gespräch, daß Joachim mit Erlaubnis seiner Mutter Reitstunden genommen hatte. Gebe es einmal wieder Paraden unter einem kaiserlichen Herrn, sagte Joachim, so sollten die eingeladenen Marineoffiziere nicht wie früher eine etwas schwierige Rolle spielen und er selbst möchte jedenfalls nicht in dieselbe Lage kommen. Bildermann zog nur die Augenbrauen hoch, aber Thomas war viel weniger über diese Auffassung von der Zukunft verwundert als über die sprachlichen Wendungen, die Joachim brauchte. Er hatte bisher nicht besonders darauf geachtet, aber da er in seinem Buch mit jedem Satz Mühe gehabt hatte, daß auch der »einfache Mann« ihn verstehe, so hörte er jetzt erstaunt, wie man »eine schwierige Rolle spielen« und »in dieselbe Lage« kommen könne. Aber er sagte nur, daß man sich auf dem Schloß freuen werde, wenn man dort auch aus anderen Gründen zu reiten pflege.

Marianne, als ein Kind zwischen alten Leuten, mochte denken, daß alle Jugend in den großen Städten so sei wie Joachim, ernst, würdig und immer vorausdenkend, und daß es wahrscheinlich eine Eigenschaft des Landes oder des weiblichen Geschlechtes sei, sich an den Augenblick wie an die Ewigkeit zu verlieren. Sie freute sich also seiner Gesellschaft, stellte jede neue Blüte an dem jungen Baum mit schweigender Überraschung fest und konnte ihn manchmal, in tiefes Nachdenken versunken, lange ansehen, sich fragend, weshalb es mit Thomas in so vielen Dingen anders sei als mit seinem Sohn.

Sie nahm also auch ohne besondere Verwunderung zur Kenntnis, daß ein künftiger Geschwaderchef so gut zu reiten wie zu segeln verstehen müsse, und trat ihm großmütig ihr Pferd ab, da er doch nun ein Gast der Insel war und bald ein Gast der Ozeane sein würde. Einige seiner reiterlichen Gepflogenheiten betrachtete sie zunächst schweigend von der Seite, wies dann aber vorsichtig darauf hin, daß ihr Großvater das nicht zu tun pflege, es auch bei ihr niemals geduldet habe. Worauf er erstaunt bemerkte, daß dies wahrscheinlich die alte Schule sei und die Zeit auch hierin wohl Fortschritte gemacht habe.

Sie zog ein wenig die Augenbrauen zusammen, erwiderte aber, zum Schweigen erzogen, nichts, und erst als sie nach ein paar längeren Ritten sah, daß das Pferd unter ihm an Brust und Flanken nasses Haar hatte, ließ sie am nächsten Tage die Sättel wieder tauschen und meinte nur unschuldig, er sei nun so sicher, daß er jedes Pferd reiten könne.

Daran dürfe ein angehender Kadett keinen Zweifel haben, erwiderte er fröhlich, wurde dann aber schweigsam, als sein neues Paradepferd das erste Hindernis verweigerte und ihn ohne besondere Mühe über den Hals in den Sand fliegen ließ.

»Weh getan, Joachim?«

»Keine Spur! Einen schönen Bock hast du mir da gegeben.«

»Du mußt ihm mehr Hilfe geben, Joachim.«

»Ich werde ihm schon helfen«, knurrte er erbittert, und nach einigen vergeblichen Versuchen überwanden Reiter und Pferd die Hecke. Aber es war zu sehen, daß sie nicht sehr gute Freunde waren, und Marianne hielt sich für den Rest des Rittes an die ebenen Waldwege.

»Du mußt es nicht mit Gewalt zwingen wollen, Joachim«, sagte sie nach ein paar Tagen. »Ein Pferd ist kein Boot, und reiten lernt man nicht in einem halben Jahr, sondern in zehn Jahren. Die meisten, sagte Großvater, lernen es nie.«

Gott segne deinen Großvater, dachte er, aber er fragte nur, ob sie glaube, besser zu reiten als er.

Das setzte sie lächelnd als selbstverständlich voraus, und als er statt einer Antwort vorschlug, sie wollten heute bis zum Kirchdorf reiten, wo er Angelhaken zu kaufen habe, war sie es zufrieden, wies ihn aber darauf hin, daß sie scharf zu reiten haben würden, wenn sie rechtzeitig zum Abend zurück sein wollten.

Unterwegs erklärte sie ihm, wie man bei langen Ritten zwischen Trab, Galopp und Schritt zu wechseln habe, so wie sie es mit dem Großvater geübt hatte, um Mensch und Tier gleicherweise zu schonen. Aber er nickte nur zerstreut, war bald voraus und drehte sich auch nicht im Sattel um, als sie so weiterritt, wie sie gelehrt worden war. Als sie ihn dann aus den Augen verlor, lächelte sie nur vor sich hin, begriff, daß er ihr den Meister zeigen wollte, und ahnte nicht ohne Genugtuung, daß dieser Tag nicht gut für sein Selbstbewußtsein enden würde.

Sie fand sein Pferd vor dem Kaufladen angebunden, schon mit Schaumflocken und hängendem Kopf, und drängte das ihre an die Windseite. Als er dann die Treppe herunterkam, die Beine wie ein alter Kavallerist setzend, sah sie prüfend in sein Gesicht, sprach ein paar Worte mit dem Kaufmann, der in die Tür getreten war, wartete, bis Joachim wieder im Sattel war, und deutete dann mit dem Reitstock auf die Schaumflocken an seinem Pferde. »Drei Tage Mittelarrest«, sagte sie lächelnd.

Sie wollten es abwarten, erwiderte er. Aber schon im ersten Wald blieb er langsam zurück, indessen sie im gleichen Wechsel der Gangarten ihren Weg zurücklegte, immer von Zeit zu Zeit sich umwendend, um nach ihm zu sehen, aber niemals so lange wartend, bis er herangekommen war. Und immer sah sie Thomas' ernstes Gesicht, wie es prüfend von Reiter zu Reiter ging und ihr zunickte, als sei er zufrieden mit ihr, wenn auch über das Ganze nicht sehr froh.

Erst am Eingang der Lindenallee wartete sie auf Joachim, der mit einem steinernen Gesicht auf sie zugeritten kam. Sie gelangten ungesehen in den Stall, wo sie den Jungen ruhig anwies, das Pferd trockenzureiben und ihm erst nach einer halben Stunde Wasser zu geben.

Er wollte gleich nach der Insel, sagte Joachim auf dem Hof, während es bei jedem Schritt um seine Lippen zuckte.

Sie reichte ihm die Hand, trug ihm Grüße auf, freundlich und nachdenklich wie sonst, und erst als er ihre Hand losließ, sagte sie: »Du darfst nicht böse sein, Joachim, es war nur die ›alte Schule‹.«

Aber er winkte nur nachlässig mit seiner Reitpeitsche.

Auf der Insel war er wortkarg und ging gleich nach dem Essen in seine Rohrhütte. Bildermann, mit hochgezogenen Augenbrauen, wühlte lange in seiner Schiffskiste, fand endlich eine zerbeulte Blechbüchse, schob sie leise in die niedrige Tür der Rohrhütte und sagte freundlich und tröstend: »Hirschtalg, junger Herr. Immer noch das beste.«

Es kam nie mehr die Rede auf diesen Tag, und als Marianne das nächste Mal zur Insel kam, sagte sie, sie müßten wieder auf dem Wasser leben, die Ernte gehe so schnell in diesen heißen Tagen, daß alle Pferde gebraucht würden.

Joachim nickte nur. Am Abend aber, als er vor der Hütte lag und eine kurze Pfeife mit geringem Genuß rauchte, sagte er ernsthaft und feierlich vor sich hin: »Ich werde sie nun niemals heiraten können  …«

Thomas erfuhr niemals von diesem Ritt.

Er war schon im vergangenen Herbst und dann zu Beginn des Frühjahrs noch einmal bei dem alten Fischer am Nachbarsee gewesen, den die Leute Petrus nannten und von dem sie sagten, er sei hundert Jahre alt. Er hatte jedesmal eine Stunde bei ihm gesessen, wenig gefragt und nur zugehört, wie von den welken Lippen die sparsamen Worte fielen, über den Wind, das Wasser, die Fische und den Gang der Zeit in der Spanne, die mehr als ein Menschenalter umfaßte. Er hatte vier Kriege gesehen und die Revolution zu Zeiten Papa Wrangels, aber er wischte nur mit seiner braunen, verkrümmten Hand einmal über das Gras, auf dem er saß. Das Wasser, das an seine Halbinsel spülte, war älter als alle Kriege der Welt, und er war der Meinung, daß manche Hechte, die er fing, auch älter wären als jener Papa Wrangel, der seinen König beschützte. Zum Schluß hatte er Thomas mit seinem wasserhellen Blick angesehen und gesagt: »Du hast die richtigen Augen, Kapitän. Bleibe dabei.« Er duzte jeden Menschen.

Thomas wollte gern, daß die beiden Kinder einmal hinfuhren. Auch die Hundertjährigen müßten einmal sterben, und er wollte wissen, was sie von ihm sagen würden. Ihm selbst war er vorgekommen wie eines der hölzernen Götterbilder, die der Graf in seinen Schränken bewahrte, und aus denen nicht der Gott sprach, sondern die vielen Geschlechter, die ihn gebildet hatten, ein Abglanz ihrer Erde und ein Vorglanz des Himmels, den sie sich erträumten.

»Ach, so alte Knaben …«, sagte Joachim bedenklich, aber dann war er es zufrieden, weil sie durch das Fließ mußten und der andere See viel mehr Segelwind hatte als der ihrige. Marianne fand immer richtig, was Thomas vorschlug.

Sie hatten eine schöne Fahrt. Das Fließ war schmal, mit schwarzem Wasser. Torfhaufen spiegelten sich in der Schwärze, und das braune Moor flimmerte in der Julisonne. Es war eine tote Landschaft, anders, als sie jemals eine gesehen hatten, mit schweren Wolkenhaufen über dem Horizont und einem dumpfen Geruch nach Moder und Verwesung. Die ganze Zeit über hing ein großer Raubvogel rüttelnd über den verschilften Blänken, und sie blickten immer wieder zu ihm auf, ob er nicht endlich niederstoßen und das starre Bild verändern würde. »Er paßt auf uns auf«, sagte Marianne.

Dann öffnete der See sich hinter den hohen Rohrkämpen, blau und weit, mit sandigen Uferhügeln und fernen Waldstreifen. Das Boot legte sich über und schoß in den Wind. Die grüne Halbinsel deutete wie mit einem langen Finger auf sie hin.

»Zwei Schläge«, sagte Joachim, und Marianne nickte dazu. Auf dem Wasser war es immer leicht mit ihm.

Der Fischer saß vor seiner Rohrhütte auf einer Binsenmatte, den Rücken gegen die Wand gelehnt und die nackten Füße untergeschlagen. Er flocht mit seinen gekrümmten Fingern an einer Krebsreuse und sah ihnen mit seinen hellen Augen entgegen. Das weiße Haar war noch dicht und fiel ihm auf den Rockkragen. In den Ohren trug er gelbe Ringe. Die zerfurchte Haut seines Gesichtes war so dunkel und seine Haltung so unbeweglich, daß er wie ein alter indianischer Häuptling aussah, der sich auf seiner Matte mit dem Großen Geist besprach.

Marianne blieb am Fuß des Hügels stehen, weil ihr das Herz zu schlagen begann. Joachim aber ging ruhig hinauf, sagte »Guten Tag, Fischer Petrus!« und reichte ihm in einem Körbchen den Tabak, die kurze Pfeife und die kleine Flasche mit Rum, die Thomas ihnen mitgegeben hatte. Doch sah der Alte an ihm vorbei auf das Kind, winkte ihm einmal mit seiner dunklen Hand und wartete, bis es heraufgekommen war. Dann erst warf er einen Blick auf Joachim, bedeutete ihm, die Gabe hinzusetzen, und lud sie beide mit einer zweiten Handbewegung ein, sich auf der Erde niederzulassen.

»Du bist der Sohn«, sagte er, »und du bist das Enkelkind vom Schloß.«

»Wir sollten dich grüßen«, sagte das Kind leise, »von … vom Kapitän …«

Er hatte den Kopf an die Hüttenwand zurückgelegt und blickte zwischen ihnen beiden über das blaue Wasser hin. »Als die Mutter mich trug«, sagte er, »hat sie ihn noch gesehen, mit dem Krückstock auf einem Rappen. Er ritt immer querfeldein, und wenn er fluchte, fluchte er französisch. Er war noch mit Napoleon in Rußland gewesen. Er war der zweite Sohn und hatte Dienste im Württembergischen genommen. Er hat noch Moskau brennen sehen. Er starb früh. Die Frauen, die seine Leiche wuschen, sagten, daß er vierundzwanzig Wunden gehabt hat. Er war ein strenger Herr, aber die Leute liebten ihn. Der König hat an die Witwe geschrieben …«

»Das war Friedrich Wilhelm Ehrenreich«, sagte das Kind leise.

Er nickte. »Sein Sohn wurde schon hier geboren, in derselben Nacht, als der Herr über die Beresina ging. Die Mutter verblutete, es gab keinen Doktor im ganzen Land, und der Schnee lag bis über die Zäune. Der Herr hat am Grab gestanden und die Faust in den Himmel gehoben. Er hat die Kanonen mitgebracht. Der Sohn ist ein trauriger Mann geworden. Die Frauen sagen, daß er Blut bei der Geburt getrunken hat, und das Blut ist bitter gewesen. Achtundvierzig hat er seinem König beigestanden und einen Schuß durch die Hüfte bekommen. Seine Söhne stachen damals schon die Hechte mit dem Speer. Einer brach auf dem Eis ein und ertrank, wo das Fließ in den See kommt. Sie hörten ihn rufen, aber er war schon still, als sie kamen. Der zweite blieb bei Königgrätz. Der dritte kam auf Krücken zurück und heiratete eine Gräfin. Der Vater mit der zerbrochenen Hüfte starb im Neumond nach der Hochzeit. Die Leute sagten, daß der Sohn unter dem Eis ihn gerufen hat, und er hat ein schönes Gesicht im Sarg gehabt. Ich habe ihn gesehen und gedacht, daß man den Tod nicht fürchten soll …«

»Das war Friedrich Wilhelm Fürchtegott«, sagte das Kind leise.

Er nickte. »Der mit den Krücken hatte drei Söhne und eine Tochter, alle mit geraden Gliedern. Alle waren nach außen wie Wölfe und nach innen wie Lämmer. Alle sind in meinem Kahn gefahren und haben Fische mit Salz und Zwiebeln bei mir gegessen. Der älteste war bei der Garde und in Südwest, bevor er das Schloß bekam, und hatte schon einen Stern auf den Raupen. Er verschlingt einen mit den Augen und streichelt einen mit der Hand, wenn es keiner sieht. Er hat zwei Söhne und eine Frau für den König gegeben.«

»Das ist mein Großvater«, sagte das Kind.

Er nickte.

»Der zweite blieb in China, wo die Drachen auf den Dächern sitzen. Der dritte ist am Oranje-Fluß begraben. Die Tochter hat der König in sein Haus genommen. Der mit den Krücken hat gelebt, wie im neunzigsten Psalm geschrieben steht, und hat auf der Schloßtreppe gestanden, als die Russen auf den Hof gekommen sind. Er hat seine Uniform angehabt und den Offizier in die Halle geführt. In der Halle hat die Gräfin im Sarg gelegen, und wir haben vor dem Sarg gekniet. Wir haben alle weiße Haare gehabt, und der jüngste ist der Johannes gewesen, der die Schafe gehütet hat, und er ist siebzig gewesen. Der Offizier hat die Mütze abgenommen und sich bekreuzigt und ist fortgeritten mit seinen Kosaken. Der Herr mit den Krücken hat am Kamin gesessen und auf die Gräfin gesehen. Er hat gelebt, bis seine Enkel Erde auf dem Gesicht gehabt haben. Er ist über Siebzig gewesen und hat schon auf meinen Knien gesessen, als ich die Ringe in meine Ohren bekam …«

»Das war Friedrich Christoph Leberecht«, sagte das Kind.

Er nickte und begann nun langsam Tabak in seine kurze Pfeife zu stopfen. »Wie Fische sind sie gewesen«, sagte er, »und die Netze waren ihnen schon gestellt. Mit Ostwind fingen sie an, aber bei Südwind fielen schon die ersten ins Netz. Wir werfen die Kleinen über Bord, aber Er behält, was Er hat … wie ein Fisch ist der Mensch, und wie das Rohr, darunter er steht … langsamer mußt du gehen, junger Herr, so langsam, wie der Vater geht … stark ist das Eis für schnelle Augen, aber nur die Langsamen sehen, wenn die Hand von unten an die dünne Decke pocht …«

Joachim lächelte verlegen. »Man muß heute vielleicht schneller leben«, sagte er mit einer unbestimmten Handbewegung.

Der Fischer zündete seine Pfeife an. Er hatte einen Stein und Zunder, in den der Funke fiel. »Wer schnell lebt, stirbt schnell«, erwiderte er. »Er ist gekommen, um ein fröhliches Herz zu gewinnen, hat er gesagt, und die aus der Tiefe werden ihm die goldene Krone reichen.«

Joachim sah das Kind an und hob die Augenbrauen, aber das Kind ließ seine Blicke nicht von dem alten Mann. »Du wirst ihn beschützen«, sagte sie, »nicht wahr? Vor Nebel und Sturm, vor dem Wassermann und dem dünnen Eis, ja?« Sie hatte ihre Hände zusammengelegt.

Er wandte das Gesicht zu ihr hin, sah aber über sie hinweg. »Sie gehorchen mir«, erwiderte er leise, »ich habe ihnen gedient, und sie gehorchen mir. Hab keine Angst. Er wird lange hier sein, lange nach mir. Er wird ihnen dienen, und sein Grab wird auf der Insel sein. Der Psalm wird über seine Erde gesprochen werden. Hab keine Angst, kleine Gräfin. Sie haben alle keine Angst gehabt, die vor dir waren.«

Er schloß nun die Augen wie alte Leute, die zwischen zwei Worten schlafen. Die Kinder saßen still und blickten in sein erloschenes Gesicht. Auch Joachim war es kühl in der Sonne, aber er faltete nur die Stirn.

Dann winkte der alte Mann mit der Hand, und sie standen auf. »Ich möchte dich gern ein Stück fahren, kleine Gräfin«, sagte er, »aber ich bin müde. Gib dem Großvater die Hand, er war immer ein guter Herr. Sage ihm, der Vogel hat gerufen, und Petrus versteckt sich nicht … Gott segne dich, kleine Gräfin.« Er machte das Kreuzzeichen über ihre Stirn und nickte Joachim zu. Dann legte er die Hände zusammen und schloß die Augen. Er sah sie nicht abfahren.

Bei der Rückfahrt saß Marianne unter dem Segel, das Gesicht nach vorne gewendet, und sprach nicht. Joachim hatte die Unterhaltung damit beginnen wollen, daß er den Fischer eine »komische Nudel« nannte, aber das Kind hatte sich umgedreht und mit zornigen Augen gerufen: »Schweig still!« Da hatte er die Achseln gezuckt und nur auf das Boot geachtet. Es war gut, daß er nun fortkam. Mit Hundertjährigen und Kindern war es nicht das rechte Leben für ihn. Aber vor dem Fließ, wo der eine von den Söhnen ertrunken war, wandte er sich doch und sah nach der Halbinsel zurück. Die Hütte war ein kleiner brauner Punkt unter den Bäumen. Aber kein Rauch stieg auf. Vielleicht war der Alte schon gestorben und sah ihnen mit leeren, weißen Augen nach. Es fröstelte ihn nun doch in der Sonne, und das schwarze Wasser strich kühl an den Bootswänden entlang. Ein Reiher hob sich aus dem Rohr, schrie heiser auf und zog sein Spiegelbild über sie hin. Nein, es gab nur ein klares Wasser auf der Welt, und das war das Meer.

»Thomas«, sagte das Kind, »er war wie die Preußengötter in den alten Büchern. Er muß Perkunos heißen, und seine Ohrringe sind aus Bernstein.«

Er fühlte, daß ihre Hände kalt waren, und sah sie besorgt an. »War es zuviel?« fragte er. »Manchmal weiß er nicht, was er spricht.«

»Er ist der reine Biograph«, sagte Joachim. »Er hat alle Platens von achtzehnhundertzwölf ab gekannt.«

»Es ist schön, Joachim, wenn von den alten Geschlechtern in den Fischerhütten gesprochen wird.«

»Natürlich. Aber er hat so komische Dinge gesagt. Von dir. Und er saß barfuß auf einer Matte wie ein Buddha.«

Thomas sah aufmerksam von einem zum andern. »Wie leicht ein Examen heute ist!« sagte er nur.

Sie verstanden ihn nicht. Marianne wollte allein heimfahren. »Morgen erzähle ich dir alles«, sagte sie. Aber sie zog ihn dann doch an der Hand zum Boot hinunter und sah sich um, ob niemand sie höre. »Du wirst lange bei uns bleiben, hat er gesagt«, flüsterte sie. »Ganz lange. Und niemand wird dir etwas antun. Kein Eis, kein Nebel, kein Wassermann. Niemand, Thomas! Und ganz lange wird es sein!«

»Wer sollte mir auch etwas tun, Kind?« fragte er lächelnd.

Sie sah ihn unbeweglich an, mit Augen, in denen noch die Angst war. »Aber es ist gut, wenn man es weiß, Thomas … er sieht bis in die Ewigkeit hinein.«

Er blickte ihr eine Weile nach. Mit Joachim sprach er nicht mehr über die Fahrt.

Am letzten Ferientag, als Joachim sich nachmittags im Schloß verabschiedet und zu seinem Entzücken vom General eine alte, silberbeschlagene Tabakspfeife als Geschenk erhalten hatte, ging er mit Marianne zum Ufer zurück, wo er sein Segelboot festgemacht hatte. Die Zukunft war nun plötzlich ganz nahe gerückt, und die so lang ersehnte Welt des Schiffes, der Segel, der Kameradschaft stand mit einem Mal in einem harten, traumlosen Licht vor seinen Augen. Er fürchtete sich nicht, er zögerte nicht einmal, aber doch schien nun alles lieblicher und vertrauter, was er verließ, und etwas wie eine nachträgliche Erkenntnis überfiel ihn, daß er doch vielleicht zu schnell durch diese Jahre gelaufen war. Es würde nun kaum wiederkommen, denn bald würde er die Uniform tragen, und Kadetten, die unter der Uniform Kinder blieben, verachtete er aus Herzensgrund.

Er stieg langsamer in sein Boot als sonst und zog gleich das Segel hoch, das an dem losen Baum hin und her schlug. Dann stieg er noch einmal aus und trat auf Marianne zu. Sie stand ohne besondere Beteiligung da, glitt mit ihren Fingern an der Holzkette auf und ab und sah zu, wie die Sonne hinter der Bucht in den Wald sank. Die Vögel waren schon stiller als sonst, und durch die Bäume zur Linken sah man zusammengesetzte Garben auf der gelblichen Stoppel.

Endlich sah sie ihn an und sagte: »Ich wünsche dir alles Gute, Joachim. Und ich bitte dich, daß du niemals deinen Vater kränken möchtest.«

»Ja, weshalb?« fragte er erstaunt. »Siehst du denn nicht, daß wir uns prima vertragen?«

Sie sah ihm gerade in die Augen. »Es würde mir zuwenig sein«, sagte sie, »wenn ich mich mit Großvater ›prima vertrüge‹. Und auch ihm würde es zuwenig sein. Du darfst nie vergessen, daß dein Vater mehr ist als wir alle.«

»So?« meinte er erstaunt. »Na«, setzte er dann gutmütig hinzu, »du kannst, glaube ich, ohne Sorge sein. Und wenn wir erst verheiratet sind, werden wir eine prachtvolle Familie sein, da kannst du dich drauf verlassen.«

Das Blut war ihm nun doch etwas in die Wangen gestiegen, aber seine Augen sahen sie mit seiner gewohnten Sicherheit an. Wenn sie mich jetzt an den Ritt erinnert, dachte er, dann werfe ich sie ins Wasser.

Aber es fiel ihr nicht ein, sich an jenen Nachmittag zu erinnern. Sie schlug die Augen einmal nieder und sah ihn dann wie vorher an. »Wenn dies ein Antrag war«, sagte sie, »so ist es besser, du sprichst nicht mehr davon.«

Er starrte sie nur fassungslos an. Sie war doch jünger als er, wenn auch nur ein Jahr, weshalb sah sie nun plötzlich aus wie eine von den Frauen aus der Halle, die aus ihren Rahmen herunterblickten, als hingen sie schon ein halbes Jahrtausend dort?

»Ja«, sagte er verwirrt, »aber war das denn nicht selbstverständlich? Nach ein paar Jahren natürlich erst?«

Sie sah noch einmal zu dem schlagenden Segel hin. »Für dich ist immer alles so selbstverständlich, Joachim … ›langsamer mußt du gehen, junger Herr‹, hat er gesagt. Weißt du noch? Du denkst immer, daß alles dir gehört, aber die anderen wollen doch auch etwas haben.«

»Welche anderen?«

»Nun so … im allgemeinen … also leb wohl, Joachim, und werde nicht gleich Admiral.«

Sie reichte ihm die Hand, die er ohne Gedanken nahm, nickte ihm zu und ging dann zum Hause zurück.

Erst als das Boot vor dem Winde lag und das Segel sich füllte, begriff er alles. Er sah sie noch oben über den Rasen vor der Gartenterrasse gehen. Wie eine Mutter, die ihr Kind zur Schule gebracht hat, dachte er wütend.

Bildermann hatte ein Abschiedsmahl gerichtet, und es gab herrliche Krebse. Joachim aß mit Appetit und sprach von seiner ersten Reise um die Welt, aber dazwischen konnte er für eine Weile verstummen und auf die Erdkugel blicken, die groß und still in der Dämmerung leuchtete.

Später dann, als er mit seinem Vater noch einmal vor dem Herde saß, in dem schon ein kleines Feuer brannte, fragte er bescheiden, ob er noch etwas sagen dürfe. Es stellte sich heraus, daß er eine Reihe von Besprechungen gelesen hatte, die von der »Ethik des Seemannslebens« handelten, und daß er in Sorge war, einige Anschauungen des Buches könnten seiner eigenen Laufbahn schädlich sein, indem man die kritische Gegnerschaft nun auf ihn übertragen würde, derart, daß man den Sohn nun gleichsam handgreiflich entgelten ließe, was man dem Vater nur mit Tinte und Druckerschwärze zeigen konnte.

»Und wie hast du es dir nun gedacht?« fragte Thomas und sah ihn aufmerksam an.

Ja, ausgedacht hätte er es sich nun nicht genau, meinte Joachim verlegen. Aber vielleicht daß in einer zweiten Auflage, die ja bald zu erwarten sei, ein paar Stellen geändert oder gemildert werden könnten  … es seien ja auch höhere aktive Marineoffiziere unter den Kritikern  …

»Hältst du die Stellen für falsch, Joachim?«

Das könne er wohl noch nicht beurteilen, meinte dieser und drehte einen Holzspan zwischen den Fingern. Es war ihm nun doch sehr unbehaglich, daß er davon angefangen hatte.

Thomas rauchte eine Weile schweigend weiter, indem er die Spitze eines Weidenstockes achtlos im Feuer verkohlen ließ. Dann lehnte er sich zurück und sah Joachim an.

»Ich weiß nicht«, begann er, »ob du dir bewußt geworden bist, daß du einer anderen Generation angehörst als ich. Viel grundsätzlicher, als es immer schon der Fall gewesen ist. Wir haben keinen Krieg als Kind gehabt, keine Revolte, keine Inflation, um nur die äußeren Überschriften zu nennen. Es ist natürlich, daß ihr in vielem anders denkt, anders seht und sogar anders fühlt. Ob besser oder richtiger, wollen wir nicht untersuchen. Ihr denkt, daß wir den Krieg verloren haben, unser Geld, unser Ansehen und daß ihr das wieder einholen müßt.

Du hast auch schon am Ende deiner ersten Ferien gedacht, daß das hier etwas peinlich für dich sei. Laß mich ruhig ausreden, Joachim. Du hast gedacht, ich sei ein König über ein Dutzend Seen, während ich nichts war als der Diener eines Herrn. Nichts anderes war und auch nichts anderes sein wollte. Es war dir nicht ganz recht, daß ich meinen Namen und Stand vereinfacht hatte. Du warst zu jung, die Gründe zu begreifen, und bist es jetzt auch noch. Du kannst nicht verstehen, daß man Handschuhe auszieht, um mit bloßen Händen zu arbeiten, wenn man es nicht nötig hat. Aber ich bin dein Vater, ich habe fast fünfzig Jahre hinter mir, und du mußt es nun eben hinnehmen.

Nur eines will ich dir dazu sagen: Ich halte es für ehrenhaft, einfache Arbeit zu tun, ein Stück Land oder Wasser zu betreuen, einem Kameraden Brot und ein Bett zu geben und daneben vielleicht noch … nun genug. Ich halte es für nicht weniger ehrenhaft, als ein Geschwader zu führen.

Und noch eins: Wenn man erkannt hat, daß man das Netzestellen und das andere besser kann als das Geschwaderführen, dann hat man eben das Bessere zu tun, nicht wahr?

Ich habe viel nachgedacht über dich in diesen Jahren, ich hatte ja Zeit genug dazu. Ich bin glücklich, daß du einen Beruf haben wirst, zu dem du berufen bist. Nicht alle haben das. Aber ich habe Sorgen, wenn ich auf deinen Weg sehe. Ich habe ein kleines Schiff gehabt, ihr wollt ein größeres haben. Ich bin Korvettenkapitän gewesen, ihr wollt Geschwaderchef werden. Wir haben Fehler gemacht, nicht nur mit Sachen, sondern auch mit Menschen. Ihr wollt keine Fehler machen, und wenn Sachen und Menschen widerstreben, wollt ihr trotzdem gewinnen. Ihr habt noch nicht vom Kriege gelernt. Ihr seht noch nicht, daß er mehr war als eine Folge von Schlachten.

Ich will gar nicht, daß du es leicht hast, leichter als ich. Ich will nur nicht, daß sie auch über dir die Flagge einmal niederholen und du über Bord gehst, verstehst du? Über euch allen nicht. Ihr sollt dafür sorgen, daß jeder Mann auf dem Schiff wie Bildermann ist. Er kommt nicht als Bildermann aufs Schiff, dieser ›Jedermann‹, aber ihr seid dazu da, daß er es in zwei oder drei Jahren geworden ist. Wer es nicht werden kann: hinunter mit ihm! Oder hinunter mit dem, der es nicht fertiggebracht hat!

Und dazu ist ein neues Geschlecht nötig, nicht nur ein junges, sondern ein neues. Eines, das besitzt, was wir noch nicht hatten. Ein Geschwaderchef, der seine Flagge niederholt, gehört vors Kriegsgericht und an die Wand, Mann vor dem Mast und Geschwaderchef, verstehst du? Wir haben alle vor ein Kriegsgericht gehört, außer denen, die dabeigeblieben sind.

Es wird dir jetzt noch wenig helfen, was ich hier sage, denn ihr glaubt uns nicht mehr. Und das ist mehr unsere Schuld als eure. Ihr glaubt uns nicht, weil ihr zuviel an euch glaubt, und ein Seemann muß an mehr glauben als an sich selbst, Joachim. Jeder Mensch muß das. Der Krieg hat uns mehr gekostet als unsere Schiffe, und er muß mit mehr eingeholt werden als nur mit neuen Schiffen.

Ich weiß, du wirst denken, daß dein Vater kein Soldat sei, und du hast nicht ganz unrecht damit. Er war niemals ein geborener Soldat, und deshalb ist er jetzt dabei, etwas anderes zu versuchen, etwas Einfacheres. Sie tadeln ihn, und du fürchtest, daß sie auch dich tadeln werden, weil du sein Sohn bist. Nun, du hast nur zu zeigen, daß du ein besserer Soldat bist oder werden willst als dein Vater. Ob du nach dreißig oder vierzig Jahren auch noch einmal etwas anderes werden willst, weiß ich nicht. Aber jetzt, im Augenblick, ist es, glaube ich, nicht gut, wenn du verlangst, daß dein Vater die Flagge streicht, um dir den Anfang leichter zu machen, nicht wahr?«

Er klopfte seine Pfeife aus und stand auf. Einen Augenblick lang sah er noch auf die Erdkugel nieder, die jedes Seemanns große Heimat war. Dann gab er Joachim die Hand. »Lieber Junge«, sagte er, »wir fangen alle an, und manchmal mußt du ein wenig Geduld mit mir haben.«

Joachim war blaß geworden, und hinter seiner gefalteten Stirn arbeiteten noch alle Gedanken dieser Stunde. Aber er nahm nur die Hand und sagte: »Gute Nacht, Vater.«

Dann ging er zum letztenmal in seine Rohrhütte.

Bildermann brachte ihn zur Bahn. »Es ist nicht gut, noch einmal davon zu sprechen, Joachim«, sagte Thomas. »Deshalb bleibe ich lieber hier, und auch dir wird es leichter sein … vergiß uns nicht.«

Joachim nickte nur. Das Herz war ihm viel schwerer, als er gedacht hatte.

Thomas stand am Ufer und sah ihnen nach. Bildermanns Mützenbänder wehten, und Joachim saß am Steuer. Das weiße Segel blitzte in der Sonne. Als es niedergeholt war, winkten sie noch einmal zurück. Dann nahm der Wald sie auf. Bildermann trug den Koffer auf seinen breiten Schultern.

Thomas ging langsam zur Rohrhütte hinauf und setzte sich vor die erkaltete Feuerstelle. Er rauchte seine Pfeife und blickte auf die geschwärzten Steine. Der Himmel war hoch und blau, ein leichter Wind ging, und es war ganz still. Die Insel schien ihm groß und leer, und er dachte nach, wieviel ein Mensch in fünfzig Jahren verfehlen und versäumen konnte, ohne den Mut zu verlieren. In der weißen Asche lag ein bläulicher Angelhaken, den Joachim hier verloren haben mochte. Er hob ihn auf und drückte die Spitze leise gegen seine Fingerkuppe. Es war ein dreiteiliger starker Haken, wie man ihn für Hechte verwendete. Er würde an Schwester Beate schreiben, daß sie ihm das Holzschiff schickte, das Joachim damals im Bett gehabt hatte. Er hatte nichts von ihm, das er ab und zu in die Hand nehmen und betrachten konnte.

Dann war es Zeit, die Netze zu holen, und er ging noch einmal ins Haus, um den Angelhaken zwischen die Masken im Schrank zu legen.

Joachim hatte zwei Stunden mit der Nebenbahn zu fahren, ehe er die Schnellzugsstation erreichte. Eine Viertelstunde, ehe sein Zug ankam, lief der Nachtzug aus der Hauptstadt auf dem gleichen Bahnsteig ein. Er liebte es, zuzusehen, wie die beiden Signalarme an dem hohen Mast weit draußen in die Höhe gingen, wie in der Ferne der weiße Rauch über dem Walde erschien und das niedrige, schwere Bild der Lokomotive zusehends wuchs, wie die Schienen erbebten und in einer einzigen Woge rasenden Donners das Ganze vor seinen Füßen zum Stehen kam. Er liebte es, die Gesichter an den Fenstern zu betrachten, die wenigen Aussteigenden, den Zugführer mit der roten Tasche und die öltriefenden gewaltigen Räder der Maschine, an denen die blitzenden Gelenke wie in einem Schiffsleib auf das Signal warteten.

Vor ihm verlor eine ältere Dame mit durchdringenden blauen Augen ein braunes Halstuch, das über ihrem Arm gelegen hatte. Er hob es auf, holte sie ein und überreichte es ihr mit ein paar höflichen Worten. Sie sah ihn an, als wollte sie sein junges Gesicht nie vergessen und bedankte sich. »Bitte gehorsamst«, sagte er und schlug die Absätze zusammen.

Es war die Schwester des Generals, die der König »in sein Haus« genommen hatte und die nach vielen Jahren sich im Schloß angesagt hatte, um ihr Patenkind wiederzusehen.

Sie gehörte zu den Platens, von denen der Fischer gesagt hatte, daß sie außen wie Wölfe und innen wie Lämmer seien. Aber diese war zum mindesten ein wehrhaftes Lamm. Am gleichen Abend noch saß sie mit ihrem Bruder vor dem Kamin in der Halle und legte ihre Patience. Sie hatte ihre einfache Stahlbrille dazu aufgesetzt, und ihre schönen ringlosen Hände legten jede Karte so sicher und ruhig auf ihren Platz wie ein Fliesenleger seine Fliesen. »Sie geht auf, Christian«, sagte sie. »Natürlich geht sie auf!«

Sie blickte noch einmal auf die geordneten Päckchen, nahm die Brille ab und sah den General an, der ihr freundlich zunickte.

»Du nickst, Christian«, fuhr sie fort, »aber damit ist es nicht getan. Ich will nicht sagen, daß ihr wie die Heiden lebt, denn ihr habt einen Kaplan im Hause wie die Nibelungen. Aber ich will sagen, daß ihr wie die Wilden lebt, und Gabriele von Platen weiß, was sie sagt.« Der General setzte das Glas mit dem roten Wein zurück und sah sie nachdenklich an. »Erinnere mich, Gabriele«, sagte er gutmütig, »immer stark in Thesen gewesen. Einmal behauptet, jeder zweite Kuhmelker in Preußen zu erschießen. Erinnerst du dich noch? Stritten uns eine Woche darüber. Aber nun wirklich erstaunt. Das Mädchen dich im Lendenschurz bedient? Oder Johann nach dem Essen Ring durch die Nase gezogen?«

Sie winkte nur mit der Hand. »Nicht übel, Christian, aber hier geht es um mehr als um Nasenringe. Hast du gedacht, daß das letzte Platenkind deine Stiefel und deinen Rotwein erben und seinen Lebensinhalt in der Zucht von Herdbuchvieh erblicken soll?«

»Aber Gabriele …«

»Nichts mit ›aber Gabriele‹! Ist dir klargeworden, daß dein Enkelkind noch nie ein Konzert gehört und nie ein Theater gesehen hat? Daß sie keine fremde Sprache fließend spricht außer ihrem Schiffsenglisch? Daß sie nicht weiß, was ein Walzer ist, von einer Quadrille zu schweigen? Daß für sie die Welt auf einem anderen Stern liegt und daß sie nicht weiß, auf welcher Seite man in eine Straßenbahn einsteigt? Weißt du das, Christian? Und tausend andere Dinge dazu?«

»Hat ein wunderbares Herz, Gabriele«, sagte er bekümmert.

»Ich trage eine Brille zum Lesen, Christian«, erwiderte sie liebevoll, »aber ich bin nicht blind. Alte Leute denken immer an sich und meinen es noch gut dabei. Aber weder wird eine Prinzessin ihr Herz an dich verlieren, noch ein Prinz das seinige an mich. Wir leben nur von ihren beiden Augen, Christian, und sie sollen von dieser Welt das Ausreichende erfahren, ehe sie sich hier für immer einrichten und einen Mann wählen, der unseren Namen weitererben soll. Nicht wahr?«

Er nickte nur bekümmert.

»Na also. Ich will euch bis zum Herbst Zeit lassen und will mich mit zwei Jahren begnügen. Das ist wenig, aber in zwei Jahren kann Gabriele von Platen eine ganze Menge leisten. ›Meine liebe Platen‹, pflegte Ihre Königliche Hoheit zu sagen, ›Sie sind keine Aphrodite, aber Sie haben Kavalleristenhände.‹ Sie hatte ein gutes Herz, die Hoheit, aber sie war nicht immer sehr taktvoll. Du bekommst das Kind zurück, wie der liebe Gott es gewollt hat, das heißt unverändert in seinem ›wunderbaren Herzen‹, aber reichlich verändert in Haltung, Form, Klugheit und so weiter. Die letzte Platen hat mehr zu können als reiten, segeln und Fische fangen. Und du weißt, wenn Johann Friedrich am Leben geblieben wäre, dann wäre es von selbst so gekommen. Bei mir gehen nämlich immer noch ganz bemerkenswerte Leute ein und aus, obwohl ich keine Aphrodite bin.«

»Parzen hießen die anderen, glaube ich«, sagte der General. »Gekommen, Lebensfaden abschneiden …«

»Ach, Bruder Christian«, erwiderte sie, »er ist ja leider zäher, als wir denken … lümmle Er sich da nicht herum, Er altpreußisches Gespenst, sondern bringe Er mir eine Flasche Bier von der Mamsell, verstanden?«

Johann gehorchte, so schnell seine Gamaschenbeine es erlaubten. Nicht nur das Meer schien rätselhafte Gestalten auszubrüten.

»Das Kind fragen«, sagte der General zum Schluß. »Nicht gegen seinen Willen, Gabriele!«

»Gut! Wenn auch diese alle nicht nach ihrem Willen gefragt worden sind.« Sie wies mit der Hand einmal die Reihe der Bilder entlang. »Würden sonst kaum hier sitzen, wir beide, Christian. Aber auch die Preußen haben sterbliche Stellen … wenn du ihn übrigens wegschicken könntest, Bruder, diese Schießbudenfigur namens Johann, dann könnten wir beide noch in Frieden eine Zigarre rauchen, nicht? Übrigens weißt du hoffentlich, daß ich das Kind liebhabe, nicht? Mehr als erlaubt?« Ja, darüber war er beruhigt.

Das Kind wurde wieder blaß bis in die Lippen, aber es hörte tapfer zu. »Es ist nicht meinetwegen, Großvater«, sagte es schließlich, »aber wer wird mit dir reiten und abends bei dir sitzen?«

»Nun, nun …«, meinte er heiser, »stille Leute genug, Kind … an dich denken … Tage zählen … der Mann drüben noch einsamer …«

Ob sie Thomas fragen dürfe? Ein guter Gedanke. Schiedsspruch, dem sie sich unterwerfen wollten.

Sie saßen auf einem umgestürzten flachen Kahn, den Bildermann zum Teeren ans Ufer gezogen hatte. Ein dünner Nebel stand über dem See und fiel feucht und kühl in ihr Haar. Die wilden Birnbäume begannen sich schon zu färben, und die Eichelhäher trugen schon die Früchte der alten Bäume in ihr Winterversteck. Es würde einen kurzen Herbst geben.

»Du weißt, Kind, daß es für uns alle schwer sein wird«, sagte Thomas, »aber es ist selbstverständlich, daß du gehst. Auf einer Insel darf man sich erst einrichten, wenn man weiß, was die Welt ist.«

»Muß man es wissen?«

»Ja, das muß man. Sie haben es alle gewußt, die in eurer Halle, und sie haben einen weiteren Weg gehabt als du, Kind. Bis zum Oranje-Fluß ist es weit … du willst nicht weniger sein als sie?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Was sind zwei Jahre, wenn man jung ist … erst spät fängt die Zeit an, langsam zu laufen, Kind. Aber auch dann holen wir sie nicht ein …«

»Ihr werdet mich vergessen, Thomas.«

»Meinst du?« Er lächelte zerstreut und stand auf. »Wir werden wieder auf dem Ozean sein, Kind. Aber wir werden beide am Klüver stehen, Bildermann und ich, verstehst du?« – »Ja, Thomas.«

Es war ihr letzter Wunsch vor der Abreise, daß sie für sie ein Kartoffelfeuer auf der Insel anzünden sollten und daß sie mit Bergengrün dabeisein dürfe, der nun zu seinem Examen fuhr.

Thomas war den ganzen Tag auf dem kleinen Feld gewesen, und sein Rücken schmerzte, aber es war doch schön gewesen, die braunen, sandigen Früchte zwischen den Fingern zu halten und sie in den Korb zu werfen, der in der Furche vor ihm stand. Vierzig Jahre waren vergangen, seit er es zum letztenmal getan hatte, und wenn er sich aufrichtete, auf seine Hacke gestützt, und über das stille Wasser und die gelben Wälder sah, konnte er meinen, er habe nie etwas anderes getan in diesen Jahrzehnten und sei aufgewachsen auf dieser Insel bei solchem Tagwerk, mit keinem anderen Ziel, als seine Frucht vor jedem Winter in den Keller zu bringen.

Nach dem Mittagessen hatte er Bildermann in den Wald geschickt. Es würden noch Pilze zu finden sein, und sie wollten sie am Feuer braten. Er trug langsam das Kraut zu einem hohen Haufen zusammen und schwamm dann noch ein Stück hinaus. Die Sonne wärmte noch, aber das Wasser kam schon kalt aus der Tiefe herauf.

Sie zündeten das Feuer erst an, als die Sonne im Sinken war. Der weiße Rauch stieg in die Höhe und zog dann zwischen den braunen Eichen davon. Bildermann legte die Kartoffeln in die Asche und säuberte die Pilze. Das Herz war ihnen ein wenig schwer, und Thomas meinte, daß nun für sie alle die Jugendzeit zu Ende sei. Aber wenn sie wieder hier säßen, in zwei Jahren, dann würden sie sehen, ob es noch immer schön sein würde für sie alle, an einem Feuer zu sitzen und sich von den Früchten der Erde zu nähren.

Es zeigte sich, daß Bergengrün am meisten des Trostes bedurfte, und Bildermann unterrichtete ihn, wie lange die Pilze auf der Glut bleiben durften und wie man sie mit einem Tuch ausdrücken mußte, bevor man das Salz darüberstreute. Aber Bergengrün meinte, daß das hohe Konsistorium ihn kaum nach solcher Wissenschaft fragen werde und daß er schwarzsehe, wenn er an die Zukunft denke.

Was aber sollten die wohl tun, fragte das Kind, die beide hier allein wie auf Salas y Gomez zurückblieben, wenn er schon verzagen wollte?

Ach, sagte Bildermann, da solle das kleine Fräulein sich doch nicht so viele Gedanken machen. Was sein Herr sei und er, so hätten sie wohl schon manches Salas y Gomez hinter sich gebracht, und wenn sie am Abend vor dem Feuer sitzen würden, so sei ja auf der Weltkugel wohl auch noch der Ort zu finden, wo das kleine Fräulein sich gerade die Perlen um den Hals legen würde, und dann würden sie wissen, daß es bei jeder Perle an einen Tag auf der Insel denken würde und bei der letzten und größten gerade an diesen letzten Tag. »Einsam, kleines Fräulein, ist erst der Mann, der seinen Kompaß wegwirft.«

»Du bist klüger als wir alle, Bildermann«, sagte Thomas. Die Dämmerung kam leise über den östlichen Wald. Die Wildgänse flogen so hoch, daß man sie nur wie Schatten sah, und ihr unruhiger Ruf war lange zu hören in der stillen Luft. Über den Wiesen zog der Nebel auf, und der Abendstern funkelte schon weiß durch die Eichen. Sie standen auf und gingen langsam zum Ufer hinunter. Hinter ihnen brannte das Feuer rot und tröstlich vor dem dunklen Hang.

Marianne holte ihren Mantel aus dem Haus. Das Birkenholz glühte im Herd und erhellte den Raum mit einem schwachen Licht. Thomas zog ein kleines Kästchen aus grünlichem Holz zwischen seinen Büchern hervor und nahm eine dünne Granatkette mit einem schmalen Kreuz heraus. Er hielt sie in der offenen Hand und sah sie noch einmal an, ehe er sie dem Kinde reichte. »Sie ist von meiner Mutter«, sagte er, »und ich möchte, daß du sie mitnimmst … sie war eine tapfere Frau, und sie hatte ein fröhliches Herz.«

Er schüttelte den Kopf, als sie sprechen wollte, und half ihr in den Mantel. »Hab Dank für diese Jahre«, sagte er auf der Schwelle.

Sie ging neben ihm zum Ufer hinunter, so gerade, als säße sie zu Pferde, aber sie sprach kein Wort mehr. Eine Weile war das Boot noch zu sehen, dann verschwamm es mit dem Wasser und dem Wald, und nur Bergengrüns Ruderschläge waren noch lange zu hören. Sie waren immer noch unregelmäßig wie beim erstenmal.

»Nun ist die Sonne unter, Kapitän«, sagte Bildermann leise.

»Ja, Bildermann«, erwiderte Thomas, »nun müssen wir nach den Sternen steuern.«

Dann ging er zu dem kleinen Feld, um noch einmal Kraut auf die Glut zu werfen. Bis zur Bucht konnten sie sich dann nach dem Feuer richten.


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