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Die Uhr über dem Gutshof des Schlosses ist Maß und Regel für die Landschaft um den See. Der Gutshof liegt hoch über dem Wasser, und der Turm über dem Stalldach liegt hoch über dem Hof. Wenn die Luft ruhig ist oder nur ein leiser Wind über die Wälder geht, dringt der helle Schlag weit in die Runde hinaus, und die Menschen richten sich auf von Arbeit oder Schlaf, lauschen auf die Zahl der Töne und messen Schlaf oder Tagwerk danach ab. Die Kirche ist weit, die Eisenbahn ist weit, die Schneidemühlen sind weit. Aber die Glocke des Schlosses ist in ihrer Mitte, und schon das vorige Geschlecht hat sie gekannt. Ihr Alter verliert sich in der ländlichen Sage. Sie schweigt nur, wenn im Schloß sich jemand zum Sterben bereitet; sie wollen nicht, daß der Schlag der Stunde in den letzten Atem fällt.

Die ersten, die der Uhr gehorchen, sind der Kämmerer und der Eleve im Schloß, Thomas und der Fischadler. Die beiden ersten reiben sich den Schlaf aus den Augen und sind nicht immer fröhlich. Die beiden andern sind ganz wach und auf ihr Tagwerk bedacht. Thomas sitzt an dem grauen Tisch vor seinem Haus, hat seinen Kaffee getrunken und raucht die erste Pfeife. Die Sonne steht rot über den schwarzen Kiefern, der ganze See brennt, und die Nebel stehen wie glühender Rauch über den Buchten. An ihrem Rande kann er als feine graue Striche die Stöcke erkennen, zwischen denen die Reusen auf dem Grunde liegen.

Der Adler kommt von Osten hoch über den Wald, stumm, eilig, in gerader Bahn. Er überfliegt die Insel und wendet sich erst am westlichen Wald. Schneeweiß leuchtet seine Brust auf, wenn die Sonne sie trifft. Über der Otterbucht zieht er den ersten Kreis, wo das Wasser immer unbewegt ist und die alten Fische unter der Oberfläche stehen. Dann faltet er die Schwingen zusammen und stößt hinunter. Eine Schaumwolke steht auf, und aus ihr, einmal das Gefieder schüttelnd, hebt er sich langsam wieder auf, höher und höher, bis die Beute in seinen Fängen gegen den weißen Morgenhimmel sich abzeichnet. Hoch über der Insel ertönt sein Schrei, ehe er in der Sonne verschwindet.

Wieder schlägt die Glocke über den See. Der Kuckuck ruft, und das »Hup … hup … hup« des Wiedehopfs geht wie ein Kinderspielzeug durch den Wald. Die Gespanne verlassen den Gutshof, und auf den betauten Waldwegen ziehen die Mädchen zur Pflanzarbeit, die bloßen Füße in schweren Schuhen, weil der Seidenstrumpf das Knien auf der feuchten Erde nicht verträgt. Hier und da murrt eine über die Sklavenarbeit, aber dann zieht doch ein Lied vor ihnen her über die glänzenden Schonungen, weil das Leben stärker ist als das andere. Der Förster hebt einen Bastfetzen von der niedrigen Kiefer, an der der Bock gefegt hat, und Thomas fährt mit den ersten nassen Netzen ans Land.

Die Sonne hebt sich über den Wald, und in dem östlichen Giebelzimmer des Schlosses versucht Herr Bergengrün, an einem kleinen Globus die Drehung der Erde anschaulich zu machen. Marianne von Platen sieht mit ernsten Augen zu und fragt, ob Herr Orla jetzt wohl den Fisch mit der Goldkrone aus dem schwarzen Wasser hebe. Der General sitzt im Sattel, und der friderizianische Soldat begibt sich an die Mündung der Kanone zurück. Die Glocke schlägt, ein weißer Taubenschwarm steigt in die blaue Luft, und in Feld und Wald ziehen braune Hände den Kork aus den Blechkannen mit kaltem Kaffee. Die Pferdeleiber dampfen, und der Morgenschweiß von Mensch und Tier trocknet im warmen Wind. Thomas breitet die nassen Netze aus. Er trägt nur ein Hemd und eine kurze Hose, seine Haut ist braun, und Fischschuppen blitzen in seinem dunklen Haar.

Die Frau mit dem erloschenen Gesicht geht in dem Giebelzimmer auf und ab und singt ohne Worte das Lied mit der heiteren Marschmelodie. Wenn die Sonne auf die zerschlissene Seide fällt, schimmert es alt und grünlich über den demütigen Schultern.

Die Glocke schlägt, und Rauch steht über den Schornsteinen, auch über dem grauen Dach auf der Insel. Thomas kocht seine Fischsuppe, und die blauen Schleie zerfallen nicht mehr nach den ersten mißglückten Versuchen. Die Gespanne kehren heim, die Mädchen auf der Pflanzung liegen im Schatten, und Gruber sagt zu der blassen Frau, daß es ihm lange nicht so gut geschmeckt habe. Sie wendet den Kopf, als höre sie ihm zu, aber ihre Augen gehen durch ihn hindurch, weit fort, bis zu dem dunklen Meer wahrscheinlich, wo sie nun Kränze versenken zum Gedächtnis der Toten und der schrille Schrei der Möwen hinter den Schiffen herzieht. Der General hebt seinen Rotwein gegen das Licht und fragt sein Enkelkind, was es sich zum Geburtstag wünsche. Herr Bergengrün meint vor sich hin, man mache jetzt viel Rühmens von einer neuen Ausgabe der Märchen von den Gebrüdern Grimm, und das Kind nickt ihm zu. Der melancholische Riese steht bolzengerade an der Anrichte, und auf seinem weißen Lederzeug sitzen ein paar hartnäckige Fliegen.

Die Glocke hat den Kreis ihrer Schläge vollendet und beginnt von neuem mit einem einzigen hellen Ton. Der Zeiger rückt vor, und die Arbeit folgt, wird langsamer und müder und endet. Der Adler ist dreimal dagewesen, und Thomas kehrt vom Netzauslegen heim. Neben ihm auf der Bank liegt die kleine Büchse, aber ihr Lauf ist noch blank. Er hat seine Post von der Försterei mitgebracht, eine Zeitung, voller Hader, Unruhe und Lärm, eine Karte von Joachim, daß er im Rechnen jetzt »sehr gut« sei und der Ordinarius ihn gefragt habe, ob er nicht bald den schwarzweißroten Wimpel von seinem Fahrrad abnehmen werde. Dazu hatte er in Klammern in seiner großen steifen Schrift »Fehlanzeige!« hingesetzt. Und daß es bis zu den großen Ferien noch zweiundfünfzig Tage seien. Auf der Vorderseite stand gehorsam: »An Herrn Thomas Orla.«

Thomas hörte die Glocke über den See schlagen, sechs helle Töne, und so bleiben noch vier Stunden, die er für sich allein hat. Um zehn wird die Lampe gelöscht. Tür und Fenster stehen weit auf in seinem Haus, und er bleibt eine Weile auf der Schwelle und sieht hinein, ob Christoph vielleicht vor den Büchern steht und den Kopf schüttelt. Denn die Bücher sind nun da, fünf breite und hohe Bretter, die ganze dunkle Bohlenwand entlang. Der Globus ist da, und der Messingstreifen des Äquators blitzt in der Sonne, die durch das breite Fenster fällt. Und die beiden schweren Sessel stehen vor der Herdtür, ein schmales Feldbett ist an der andern Wand, der Schrank mit den Waffen und Masken und in der Fensterecke der schwere graue Tisch mit der Holzbank. An den Wänden nichts als das Bild des feuernden Kreuzers im Goldrahmen.

Und alles ist sein, ganz allein sein, erfüllt von seinem eigenen Leben, von der Erinnerung an Tage und Nächte, die er diesen Dingen hingegeben hat, mit Lesen, Denken, Grübeln und Sein. So ganz sein Eigentum wie die Kleider, die er trägt, und der Atem, der aus seinem Munde geht. Das aus dem Schiffbruch Gerettete, das doppelt Teure und Kostbare, mit eigenen Händen auf die Insel getragen wie aus der Brandung des Meeres. Christoph hatte sich fürchten müssen, die Schneestürme und das Klagen im Schornstein, die Nebel und die heiseren Rufe der winterlichen Tiere. Er hatte nur das Feuer, die Pfeife und den Schnaps. Und das brennende Bild der Zukunft, die immer Zukunft blieb.

Aber Thomas hatte mehr. Er hatte eine Arbeit, die er liebte, und seine Hände waren hart vom Rudern. Er hatte die Glocke, die durch sein Tagwerk ging, und die Bank, von der er die Sonne untergehen sah. Er wußte, daß sie nur für die Müden unterging. Er hatte die Weltkugel da, und sie schwang sich leise durch den unendlichen Raum, wenn seine Hand sie berührte. Und er hatte alles, was auf dieser Kugel Unsterblichkeit gewonnen hatte. Auf den schmalen Brettern vor der vom Herdrauch dunkel gewordenen Wand standen die Ewigen und sahen ihn an, nah und vertraut, denn bei ihnen allen war er zu Gast, und der Blick seiner Augen war ihnen bekannt, die sorgsame Bewegung, mit der er die Blätter umwendete, die Neigung der Stirn, mit der er ihnen nachsah. Er besaß ihre Vergangenheit, die alles umfassende, und in ihrer Vergangenheit lag alle Zukunft beschlossen, eine reine und gläubige Zukunft, von Haß und Hochmut gereinigt, die große Stille, nach der sie getrachtet hatten am Ende ihres Lebens, und nach der auch er trachtete, ein demütiger Schüler, von ihrem Hauche genährt.

Die Glocke schlägt, und alle hören sie, die wissen, was der Feierabend ist. Thomas sitzt auf dem Baumstumpf unter den Eichen und weiß, weshalb die Menschen Gott gelobt haben. Nur als Kind hat er so gewußt, wie schön die Welt ist, so schön, daß es in der Brust schmerzt. Das letzte rote Licht auf dem See, der schlafende Wald, das junge Birkenlaub vor dem weißen Himmel und sein Duft, der keinem andern zu vergleichen ist. Und nun beginnen die Eulen zu rufen, der Nebel steigt, Sterne zünden sich an. Die Ruhe der Nacht breitet sich aus wie Wellenkreise von einem letzten Stein, weiter und weiter, und in der Mitte sitzt er selbst, regungslos, und sein Blut rauscht und singt wie ein Brunnen im Traum.

Die Glocke schlägt. Das Licht der Lampe fällt auf die Seiten des Buches in seiner Hand, die rot beschienen ist von der Flamme des Herdes. Wenn er den Kopf hebt, sieht er durch das offene Fenster ein fernes, zitterndes Licht. Das ist das Licht im Forsthaus, und es ist das einzige, das er sieht. Auch der alte Mann wird am Fenster sitzen, rauchen und schweigen. »Sieben Jahre, lieber Herr …« Er wird es gelernt haben. Und im Giebelzimmer singt die Frau. Die Diele knarrt, und der Mann am Fenster hört den Ton nicht mehr. Oder er denkt an seine Bäume im Wald, und wie der Wind noch leise an sie rührt. Und daß er einen Nachbarn gewonnen hat, bei dem er manchmal sitzt um diese Zeit, wenn das Dach ihn erstickt, und der leise Gesang, der wie ein Kindermarsch unter den Sternen ist.

Der Nabob aber hebt den Rotwein gegen die Flamme im riesigen Kamin und sieht, wie rot er im Glase leuchtet, wie dunkles Blut, und er hat zwei Söhne begraben. Das große Haus liegt dunkel und tot. Wie eine Kirche ist die gewaltige Halle über ihm, ein Goldrahmen funkelt, und die ausgestopften Tiere stehen wie dunkle Heilige auf ihren Sockeln. Die Flamme leckt und erlischt und glüht wieder auf. So viele Bilder und Gesichter, Lachen und leiser Gesang. Ein Ast, der sich krümmt und verfällt. Ein Gesicht mit einem Goldhelm, zuerst rot, dann grau, dann weiß … der Helm zerfällt, die Stirn bricht auf, in Asche sinkt das Bild zusammen … »Haltung, Generalmajor!« Schon gut, schon gut. Das Wappenschild wird zerbrochen, aber die Toten bleiben. Die Toten und der königliche Herr. Er hebt das Glas, und es leuchtet rot.

Die Glocke schlägt, und die Lichter erlöschen. Schlaf fällt wie Tau über die Augenlider. Ein Reiher schlägt mit den Flügeln und faltet sie wieder zusammen. Er sieht das Wasser voller Sterne, wie goldene Fische stehen sie tief und unbewegt. Eine Kröte sitzt vor der Schwelle des Hauses. In ihren dunklen Flanken geht der Atem leise auf und ab.

Die Glocke schlägt, und Joachim von Orla fährt aus seinem ersten Schlaf. Er ist im Traum in die Kreuzerschlacht gefahren, und eine Glocke hat ihn in den Kommandoturm gerufen. Aber alles ist dunkel, kein Admiral ist da, der ihm den großen Auftrag erteilt, mit dem er, Joachim, die Schlacht entscheiden wird. Nur auf dem Schrank ihm gegenüber schimmert das Schiff aus Lindenholz in dem matten Licht, das durch das Straßenfenster fällt. Ansehen müsse man es, hat der Vater gesagt, daß es einen zum Dienst rufe. Weit ist der Vater, auf einem großen See, wo er der Herr ist über Adler, Reiher und Fische, und es sind nur noch fünfzig Tage, bis er alles das sehen wird. Und vielleicht tausend Tage, bis er als Kadett eintreten wird, um Flottenchef und Admiral zu werden. Der Vater hat zu früh aufgehört, aber er wird es wiedergutmachen … zuerst aber kommt das Kriegsspiel in nächster Woche, das ganz heimliche, und morgen gibt es Zitronenspeise, das hat Schwester Beate versprochen … gut ist die Schwester und wie das weiße Schaf anzufühlen, das die Mutter ihm zu Weihnachten geschenkt hat … er hält noch einmal den Atem an, um zu hören, ob Schwester Beate hinter der geöffneten Tür schläft, und als sie sich leise unter ihrer Decke bewegt, legt er sich wieder auf die Seite und macht die Augen zu … die lieber sein, als heißen wollte … so merkwürdige Dinge, die der Vater manchmal sagt …

Die Glocke schlägt von dem Kirchturm hinter den Kiefern, der Wecker schnarrt, und mit einem Sprung ist Joachim aus dem Bett, die Augen noch ohne Besinnung und schwer von Schlaf. Aber nur Frauen drehen sich noch einmal auf die andere Seite und betrügen Uhr und Tag. Die kalte Dusche rauscht, die Amseln flöten vor dem schmalen Fenster. Schwester Beate schwankt noch vor Müdigkeit, und er spritzt ihr das kalte Wasser ins Gesicht.

Dann ißt er sein Ei, die lateinische Grammatik neben dem Teller. Seine hellen Augen sind ganz wach und laufen die Spalten hinauf und hinunter.

»Heute schreibe ich die beste Arbeit, Schwester Beate«, sagte er.

Sie ist immer ein bißchen verwirrt unter seiner Klarheit und Sicherheit. Der Vater würde sicherlich nicht geglaubt haben, die beste Arbeit zu schreiben. »Du weißt alles so genau, Joachim«, seufzt sie. Er sieht sie von der Seite an und lächelt. »Das muß man auch, wenn man etwas werden will«, sagt er weise. »Sie möchten sowieso gern auf der Penne, daß alle dumm und faul sind, die ein ›von‹ vor dem Namen haben, aber für meine Person: Fehlanzeige, ihr Lieben!« Die Schwester lächelt, und einen Augenblick lang sieht sie die zerstreuten und traurigen Augen des Kapitäns vor sich. »Jaja, Joachim«, sagt sie in Gedanken, »sei nur tüchtig, daß der Vater sich freuen kann  …«

Dann fährt er die stille Straße entlang, die Hände über der Brust gekreuzt. Der Wimpel an der Lenkstange flattert im Wind.

Die Glocken schlagen. Die Stunden gehen dahin. Er schreibt wirklich die beste Arbeit, und in der großen Pause trägt er die Sache mit dem Bankierssohn endgültig aus. Seine Nase blutet zwar, und ein langer Riß geht über seine linke Wange, aber der andere wird ausgezählt, nach einem prima Kinnhaken, und stößt mit dem Kopf an die Korridorwand, als er wieder in seine Klasse torkelt. Ekelhafter Bursche. Im Auto vorfahren und Kuchen fressen, das hat das Vaterland gerade nötig!

Er ist beliebt und etwas gefürchtet in der Klasse. Das Feuer springt zu schnell in seine grauen Augen. Aber niemals wird er Unanständigkeit in Haltung oder Gesinnung dulden. »Orla hat gesagt, das geht nicht.« Also fertig und erledigt. Den meisten Lehrern ist er etwas unheimlich, ein Pfeil, der immer gespannt auf der Sehne liegt. Aber der Direktor, Major der Landwehr, liebt ihn mehr als sein eigenes Kind. »Vom Vater gehört, Joachim?« – »Jawohl, Herr Direktor, fischt vom Morgen bis zum Abend und ißt wie ein Wolf!« Die grauen Augen leuchten, und die zerschrammten Hände liegen fest an der Naht der kurzen Hose. »Recht so!« sagt der Direktor und fährt ihm über den hellen Schopf. »Zeigt den Leuten, was Arbeit heißt. Fabelhafter Mann, dein Vater!«

Zum Schluß die Turnstunde, und noch einmal leuchtet Joachim. Wie eine Katze läuft er das Tau hinauf, und der Turnlehrer, immer verdrießlich, sieht ihm mit schrägen Augen nach. »Geh nur nicht gleich durch die Decke!« sagt er. Aber Joachim ist schon wieder unten. »Die Wanten sind höher«, bemerkt er nachlässig.

Die Finken schlagen, als er mittags heimfährt. An der Straßenecke stürzt er sich mit schrillem Geklingel auf den Hund des Nachbarn, und strahlend kommt er die Treppe herauf.

Ja, auch die Mutter ist einmal zu sehen. Er mag die Farben auf ihrem Gesicht nicht und hält ihr nur die Wange zum Kuß hin, die rechte. Aber als sie bei Tisch sitzen, will sie alles wissen, was er erlebt hat und wie seine Kameraden sind. Sie kennt fast alle Eltern, und der Vorort ist wie ein Dorf.

Er erzählt bereitwillig, noch ganz ohne Eitelkeit, aber im Bewußtsein des eigenen Wertes. Es ergibt sich, daß in der Klasse ein paar »prima Kerle« sind, aber auch, daß sie in Kleinigkeiten nicht ganz an ihn heranreichen. Auch daß Wohlhabenheit und Verträumtheit ihm als nebensächliche, wenn nicht gar verächtliche Dinge erscheinen.

Frau von Orla, mit tiefen Schatten unter den Augen, hört ihm halb ernsthaft und halb belustigt zu. Nur als er vom Gelde spricht, meint sie, er solle nicht so früh anfangen, die Wirklichkeiten des Lebens und der Macht geringzuschätzen. Schon der Vater habe bedenkliche Ansichten darüber.

Fabelhafter Mann, der Vater, habe der Direktor gesagt.

Ja, ja, meint sie lächelnd, nur würden die Werte des Lebens im allgemeinen nicht von Schuldirektoren bestimmt, eher schon von Bankdirektoren. Ob er denn auch später einmal, mit fünfundvierzig Jahren, als Fischer leben möchte?

Er denkt eine Weile nach, und wieder erscheinen die gespannten Falten auf seiner steilen Stirn. Nein, das möchte er nun wohl nicht, entscheidet er schließlich. Das sei zu wenig, wenn auch für einen Sommer wahrscheinlich sehr schön. Ein Kreuzer sei besser als ein Boot, und ein Geschwader besser als ein Kreuzer. Ein bißchen zu früh aufgehört habe der Vater, aber das werde er selbst schon am besten wissen.

Ja, meint Frau von Orla für sich, vielleicht habe er gar nicht angefangen gehabt, und da eben die Zitronenspeise erscheint, so hat Joachim auch nichts gehört.

Nur Schwester Beate sitzt die ganze Zeit in einer leisen Befangenheit da, und am Schluß will sie das Fischbesteck statt der Speiselöffel reichen. Ihre großen, den Tränen so leicht geöffneten Augen sehen das Gesicht des Kapitäns, wie es sich von der Treppe noch einmal zurückwendet … »Und der Junge, Schwester, hören Sie? Achten Sie mir auf den Jungen, Tag und Nacht!«

Gott weiß, daß sie es tut, aber so vieles dürfte nicht sein wie eben, und für vieles ist es wohl auch zu spät. Sie weiß, daß Kinder in vielen Dingen fertige Leute sind. Die Eltern wollen es meistens nicht wissen, aber sie weiß es. Man lebt nicht umsonst mit fremden Kindern, und sie zählt die fünfzig Tage ebenso wie Joachim. Wenigstens mit der Zitronenspeise ist es noch so, wie es sein soll.

Als Frau von Orla noch einmal Joachims Teller nimmt, bleibt die Spitze ihres losen Ärmels an einer Falte des Tischtuches hängen, und der leichte Stoff schiebt sich bis über den Ellbogen hinauf. »Sind das Narben, Mutter?« fragt Joachim und fährt mit dem Finger über die Beugung. Aber sie dreht das Gelenk hastig zur Seite und zieht den Ärmel herunter. Nein, es seien Mückenstiche, das Mädchen müsse die Drahtfenster wieder in den Schlafzimmern einsetzen. Sie ist blaß geworden und sieht Schwester Beate an, aber diese hat sich über einen leeren Glasteller gebeugt und zieht mit dem Finger die Linien des Schiffes nach.

Die Glocken der Kirche läuten, immer drei Töne in trauriger Folge hintereinander, und Schwester Beate läßt die Wäsche sinken, die sie mit der Nadel ausbessert, und denkt nach, wer in der Umgebung gestorben sein könnte. Aber es sterben so viele in dieser Zeit, nicht nur an Krankheiten, sondern an der Armut, an der Verzweiflung, ja am Hunger. Die Zeit hat den Besitz gefressen, schwindelnd schnell, und nun, da die Scheine schon zehnstellige Zahlen tragen, kommt die Nachernte. Sie trifft die alten Exzellenzen wie die neuen Reichen, nur daß jene leiser dahinzugehen pflegen als diese. Das Land ist wie ein kranker Wald, in dem die Bäume gezeichnet werden, und die Glocken läuten jeden Tag. Sie seufzt und sieht verstohlen auf das Kind.

Joachim sitzt über seinen Heften und Büchern, mit gefalteter Stirn und gänzlich versunken. Während der Arbeit gibt es weder Spiel noch Träumerei für ihn, und er duldet keine Störung. Seine Stirn sieht aus wie die eines alten Mannes, und wenn er aus dem Fenster sieht, sitzt dort nicht Schwester Beate, sondern eine Vokabel ist über das spiegelnde Glas geschrieben oder Zahlen, die sich geheimnisvoll ordnen. Die Schwester hat keine Mühe mit dem Schüler Joachim von Orla, und manchmal hat sie Angst vor so viel Fleiß und früher Ordentlichkeit. Auch an seinem Bücherbrett steht ein kleiner Globus, und oft sieht sie ihn davorstehen, aber er hat ein Buch in der Hand oder Tabellen, und wenn er die Kugel berührt, so geschieht es mit einer schnellen Bewegung, und die Drehung der Erde hört dort auf, wo er sie aufhören lassen will. Niemals mehr hört sie das leise Surren, mit dem die bunte Kugel im Zimmer des Kapitäns um die Achse gewandert ist, nicht angehalten von seiner Hand, und niemals auch wird sie den Blick vergessen, mit dem seine Augen dem bunten Spiel zu folgen pflegten, alte Augen, die noch einmal auf dem Glanz einer Seifenblase verweilen. Dann ist Joachim fast bis zur Dämmerung im Walde und auf dem Wasser. Sie haben zu vieren ein Segelboot, und fast immer ist er Kapitän. Sie spielen nicht, und es schwimmt keine Pirateninsel für sie im Strom. Sie arbeiten und lernen, und von den faulen Vergnügungsjachten folgt ihnen manch nachdenklicher Blick.

Am Abend baut er Schiffsmodelle und lernt Flaggensignale, Tonnagezahlen und Bestückungslisten. Dann spricht er mühsam und sauber eine halbe Stunde englisch mit Schwester Beate. Er spielt nicht, er liest wenig, und wenn er die Decke über seine Schultern zieht, fallen ihm schon die Augen zu.

Die Glocke schlägt, und der Pfarrer steht vor dem hölzernen Christus und sieht ihn lange an. Er möchte wissen, ob die Toten andere Gesichte haben als die Lebenden, aber er weiß es nicht. Er seufzt ein wenig, blickt durch das offene Fenster in die Nacht und denkt an die Orlasche Insel, wo er einmal schlafen möchte, ein einziges Mal so tief schlafen, daß weder Träume noch Sorgen ihn berühren, ein einziges Mal wie die Toten schlafen. Aber was weiß er schon vom Schlaf der Toten?

Er nimmt einen Briefbogen und schreibt ein paar Worte an den Steuermann Thomas Orla. Daß sein Sohn bei ihm gewesen sei und ihm Grüße und alles andere ausgerichtet habe und daß er froh sei, ihn bei der Arbeit zu wissen. Was seinen Sohn betreffe, so glaube er nicht, daß er oft zu ihm kommen werde. Er sehe das Meer vor sich und habe keine Zeit für dunkle Kirchenschiffe, was auch ganz in der Ordnung sei. Aber es sei ihm ein Vers aus den Sprüchen Salomonis eingefallen, und den wolle er zum Schluß noch hinschreiben: »Ein Geduldiger ist besser denn ein Starker, und der seines Mutes Herr ist, denn der Städte gewinnet. Los wird geworfen in den Schoß; aber es fällt, wie der Herr will.« Vielleicht könne Herr von Orla es einmal über seinen Netzen bedenken.

Zur selben Stunde hält der Wagen vor dem Orlaschen Hause – Frau von Orla hat nun, der Zeit entsprechend, solch ein blitzendes, dröhnendes Fahrzeug in ihrem Besitz –, und sie will eben aus der Haustür, die Handschuhe überstreifend, als durch das Gartentor ein blaugekleideter Mann hereinkommt, ein Matrose anscheinend, aber ohne Abzeichen, auch ohne einen Schiffsnamen an der Mütze. Der freie Hals ist braun, die Hosen bedecken unten die Stiefelspitzen, und die schwarzen Mützenbänder hängen bis tief auf den Rücken herab. Sein Gesicht ist breit und ohne Arg, aber etwas Wildes und Abenteuerliches weht mit seinen Mützenbändern um die ganze Gestalt. Er kommt durch den Garten wie durch einen Hafen, mit einer lässigen, aber gespannten Hungrigkeit, und es sieht aus, als werde er morgen schon auf dem Klüver über einem grünen Meer sitzen, die Faust um ein Tau gelegt und die großen Möwen über seinem weißblonden Haar.

Doch schlägt er die Absätze zusammen und reißt die Mütze ab, als Frau von Orla auf ihn zukommt. Sie erkennt ihn erst, als sie vor ihm steht, und reicht ihm lächelnd die Hand. »Hallo, Bildermann, lange nicht gesehen. Haben Sie mal wieder geputscht?« Er erwidert ihr Lächeln ohne Verlegenheit. »Aus mit Putschen, Frau Kapitän«, sagt er, »jetzt wird gestempelt.« Und er schlägt mit der rechten Hand, in der er die Mütze hält, in die offene linke.

»Ach ja«, seufzt sie, »es sind trübe Zeiten, Bildermann, und der Kapitän ist nicht da. Weiß Gott, ob er noch einmal wiederkommt … Haben Sie schon gehört?«

Nein, er habe nichts gehört, und sein Gesicht ist mit einemmal ernst und gespannt. »So, so …«, sagt er, als sie ihm das Wichtigste von Thomas erzählt hat, »fabelhafter Mann, der Herr Kapitän! Ganz prima! Geht hin und fängt Fische. Soll ihm mal einer nachmachen …«

Wahrscheinlich werden nicht viele Lust dazu haben, meint Frau von Orla und lächelt auf eine besondere Weise. In diesem Handwerk werde er nun wohl allein bleiben.

Aber der Seemann blickt schon lange über sie hinweg in den Abend. Er lächelt nicht mehr, er hat schon wieder »Meeraugen«.

»Ja, Bildermann«, sagte Frau von Orla endlich und sucht in ihrem Handtäschchen, »wenn Sie mal hinschreiben wollen, hier ist die Adresse, aber ich glaube, der Herr Kapitän möchte vorläufig allein dort bleiben, er war zuletzt so ein bißchen menschenscheu, wissen Sie?«

»Kunststück!« sagt der Matrose nur und sieht sich abwesend im Garten um. Nein, er danke gehorsamst, aber er sei noch nicht am Verhungern. Wenn es so weit sei, werde er die Hand nicht zumachen.

Er begleitet Frau von Orla zum Wagen, schließt die Tür hinter ihr und fragt, ob er noch ein bißchen zum jungen Herrn hinauf dürfe.

Ja, das dürfe er natürlich, und Schwester Beate solle ihm wenigstens ein ordentliches Abendbrot vorsetzen.

Eine Stunde später fragt sie den Admiral, ob er sich auch einmal das Leben habe retten lassen. Nein, das nicht, aber es sei oft genug vorgekommen, erwidert er. Es habe oft genug Gelegenheit gegeben, bei anderen.

»Etwas unbequem sind sie schon, diese Lebensretter«, sagt Frau von Orla nachdenklich. »So wie stille Gläubiger, die nichts sagen, aber immer da sind … und fortschicken kann man sie nicht  …«

Um dieselbe Zeit ist der Seemann wieder unterwegs, vom westlichen Vorort nach der nördlichen Laubenkolonie. Er hat die Hände in den Taschen vergraben, hält die kurze Pfeife zwischen den Zähnen und sieht nachdenklich aus. Zuerst versucht er auszurechnen, ob die Abnutzung seiner Schuhsohlen mehr oder weniger betragen könnte als das Fahrgeld für die Untergrundbahn. Dann aber zählt er an den Fingern die Monate bis zum Beginn der Herbststürme ab, dann Kilometerzahlen und Tagesmärsche, dann sein Stempelgeld. Schließlich nimmt er die Pfeife aus dem Mund, spuckt einem Mann im Abendpelz vor die Füße, sagt »Schiet!« und springt auf das Trittbrett eines fahrenden Autobusses, wo er bleibt, bis der Schaffner in der Tür erscheint. Dann springt er ab, winkt mit der Hand und wartet auf die nächste Fahrgelegenheit. Er allein weiß, wann sein Kapitän ihn braucht, denkt er. Er ganz allein und niemand sonst. Noch nie zu früh und noch nie zu spät gekommen!

Die Glocken schlagen über allem Land, die Sterne steigen auf und versinken. Auf den Landstraßen wandern die Heimatlosen, und die Fische wandern im dunklen Wasser. Vor der Morgendämmerung noch beginnt der Kuckuck zu rufen. Die Städte liegen wie helle Inseln auf der dunklen Erde, und die weißen Schnüre der Eisenbahnen laufen wie ein Spinnennetz über die Ebenen und Gebirge. Die Wälder aber schlafen, die Seen, die Moore, die grünen Saaten. Nebel stehen auf, und ziehende Vögel rufen über den Nebeln. Der Saft steigt in den Bäumen, und Tau fällt von den Sternen herab. »Los wird geworfen in den Schoß«, steht geschrieben, »aber es fällt, wie der Herr will.«


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