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11.

Vierzehn Tage vor Weihnachten, als Harro in einer westlichen Stadt ein Konzert beendet hatte, brachte man ihm ein Telegramm, das während der letzten Vortragsnummer eingelaufen war. Es kam von seiner Mutter und teilte ihm mit, daß sein Stiefvater verunglückt sei.

Eine Weile saß er gedankenlos in seinem Stuhl und sah von der Seite auf die unregelmäßigen Buchstaben des Schreibmaschinenstreifens. Alles fremd und weit. Denn es war kein Telegramm um Maja.

Aber es griff doch in sein Leben ein. Wie eine Vision sah er die meilenweiten verschneiten Drähte, die über Wälder und Ströme von dieser Stadt bis in seine Heimat liefen, dicht bis an den See, über dem das Eis dröhnte. Bogen auf Bogen, von Stange zu Stange, tönend und brausend, Hunderte von Kilometern lang. Dort, zwischen den dunklen Wäldern, war etwas geschehen, etwas Finsteres, Blutiges, Unbekanntes. Und schon rief es nach ihm, über lärmende Erde hin.

Er raffte sich auf und besprach sich mit seinem Impresario, das Kursbuch in der Hand und zerstreut auf seine Klagen hörend. Er telegraphierte um sein Gepäck und schrieb ein paar hastige Worte an Maja. Dann saß er im Zuge.

Die Nacht war frostklar, und die Ebenen flimmerten bis an den leise wandelnden Horizont. Unermüdet raste der Zug über die Schienen, unverändert blieb der Rhythmus der Räder, eine jagende Melodie, immer neu sich gebärend wie aus endlosen Weiten, die der schmale Schienenstrang unheimlich blitzend durchpflügte.

Harro war todmüde, aber er fand keinen Schlaf. Er zog die Schirme vor die Lampe, rauchte und fühlte Stunde auf Stunde hinter sich zurückgleiten. Drohend schossen die Telegraphenstangen an seinem Fenster vorbei, regelmäßig wie ein Sekundenzeiger, der ruckweise seinen Weg durchläuft. Und die Last der Drähte, schwer von Reif, stieg jäh an mit jeder erscheinenden Stange, um ebenso jäh wie losgebunden zu versinken.

Gegen Morgen schlief er ein, in dumpfen Träumen sich verstrickend. Als er spät erwachte, donnerte der Zug über den breiten östlichen Strom. Zwischen riesigen Eisenträgern sah Harro auf das gefrorene Bett, das wie ein leerer Sarg sich in die Ferne streckte. Dann stieg er um und fuhr in die Wälder hinein. Zwischen den Stämmen pflügte der Zug eine erste dampfende Furche in ungeheure Einsamkeit. Spurlos verwehte der Rauch der Maschine in finsteren Wäldern. Verlorene Gehöfte schwiegen auf bläulichen Hügeln. Ferner Rauch stand über weiten Schonungen gleich frierendem Atem in großen Räumen. Schwarze Wipfel zerrissen das Abendrot, das weit hinter der Erde brannte wie im Vorhof der Ewigkeit. Dann sank die Nacht. Erschüttert, den Tränen nahe, stieg er aus.

Im Schlitten erst fand er wieder Beherrschung und Ruhe. »Was ist geschehen, Fritz? Erzähle.«

»Ertrunken, Herr. Gestern vormittags beim Eisfischen. Er glitt aus und kam in die Wuhne, gleich unters Eis. Gestern und heute haben wir gesucht, mit Netzen ...«

»Und?«

»Noch nicht gefunden. Morgen nehmen wir ein anderes Netz, dies geht nicht tief genug.«

»Und meine Mutter?«

»Die Frau? ... Ja, sie jammert. Wird auch nicht mehr lange machen.« Er trieb die Pferde an und sah schweigend auf den dunklen Weg.

Frau Brigitte weinte viel. »O Gott, Harrochen, Harrochen! Dies Unglück, dies Unglück! Womit hab' ich das alles nur verdient?« Ihre starren Augen sahen stumpf vor sich hin, und ihre Hände fuhren ruhelos mit unaufhörlichem Zittern an ihrer Gestalt herunter. Sie war sehr stark geworden, ein seelenloser Körper, zermürbt von Alkohol und Leidenschaften.

Harro war bis ins Innerste erschrocken, die Sauberkeit seiner Seele fast bis zum Ekel verletzt. Sie hatte auch heute getrunken.

»Nun, gräme dich nicht, Mutter«, sagte er mühsam. »Nichts läßt sich ändern, und ihr habt doch ein langes Glück gehabt.«

»Ja, Harrochen, und bald hätten wir silberne Hochzeit gehabt. Und so vornehm wollten wir feiern. Ich glaube auch, daß der Herr Landrat gekommen wäre ... Und nun ist alles zu Ende.«

Harro legte den Pelz ab und trat an den Ofen. »Ich bin gefahren, wie ich war«, sagte er erklärend.

»Aber Harrochen, wie fein du aussiehst! Nein, komm mal her, hier unters Licht. Aber wirklich wie ein Graf. Gehst du immer so?«

»Nein, ich hatte gerade ein Konzert gegeben.«

»Aber so fein ... komm doch näher. Auf Seide! Sehr fein, Harro. Den mußt du zur Beerdigung anziehen, weißt du. Tante Paula ist immer so unausstehlich, aber nun wird sie sehen, was mein Sohn geworden ist!« Sie war ganz glücklich und ging aufgeregt im Zimmer umher, schalt mit dem Mädchen, daß das Essen nicht schnell genug kam und verlor so allmählich das Bewußtsein der Last, die schwer, wenn auch unsichtbar, auf ihrem Leben lag.

Sie nahm sehr viel Rum zum Tee, und ihre Hände wurden langsam ruhiger. Sie ließ sich von Maja erzählen, von den Konzerten und von Obermeyer. Harro sprach schnell, ohne Pause, um ihrer Seele zu helfen, aber dazwischen horchte er mit leisem Grauen hinaus, wie der Wind um das einsame Haus strich und das Eis auf den Seen dröhnte. Da irgendwo, in Dunkel und Kälte, lag jetzt die Leiche, leise gehoben von unterirdischen Strömen, mit weit offenen Augen, die blind emporstarrten nach der dunklen Decke, in der die Wuhnen wie Nebel schimmern mußten. Und scheu, vorsichtig, mit dicken, grünen Köpfen stießen die Fische der Tiefe an den Körper ...

Oben saß er lange vor dem grünen Kachelofen, in dem das späte Feuer brannte. Es stand noch alles so, wie er es verlassen hatte vor dreizehn Jahren. Da war er mit Frau Maria ins Leben gefahren. Nun war er wieder daheim, der erste kreisende Flug. Der Sommer war dahin, und er stand hinter den Geheimnissen. Magda war gewesen und Elisabeth und dann alles andre, Tiere, Menschen und Dinge. Nun saß auch er am Feuer wie Onkel Felix, und die Leiche trieb im See. Er wollte nicht mehr hinaus, nicht von der Straße fort ins Grab taumeln. Das alles hatte hier gelebt ohne ihn, die Wälder, die Kraniche. Nun, in der grauen Frühe, stand er wieder am Ausgangspunkt. War alles Leben nur ein irrender Kreislauf? Nur unterschieden durch die Weite des Kreises?

Er öffnete das befrorene Fenster und sah über den See. Dort hinten, unter den hohen Sternen, lag ihr Haus, dunkel hinter dem verschneiten Gitter. Nur die Milchstraße schwang wie eine Brücke von Welt zu Welt. Aber sie führte an andere Ufer. Alle lebten sie hinter Gittern, mit Namen und namenlos. Sahen hindurch und gaben sich die Hände, und blieben einsam im Leben und im Sterben.

Am nächsten Vormittag stand er auf dem Eise, Stunde um Stunde. Herr Bumke stampfte anordnend und befehlend über die schweigende Fläche. Ab und zu fand er sich bei Harro ein, vorsichtig und respektvoll. »Ein Opfer seines Berufes, Herr Bruckner, ein Opfer seines Berufes ... tja, so geht das ...« Seine Augen blickten schwermütig, und er bot Harro die geräumige Flasche. »Nicht? Sollten aber einen Schluck nehmen. Man kriegt kalte Beine, und ein Schnäpschen ist immer gut, für Leben und Sterben ... tja.« Er trank lange und andächtig. »Nachlassen! Nachlassen!« schrie er plötzlich hinüber. »Tja, der arme Selige ... ›Parplieschen‹, sagte ich noch vor paar Tagen zu ihm, ›du solltest dich zur Ruhe setzen. Hast genug bei Rosenheimer, und junges Volk will auch Brot essen‹. Aber er wollte nicht. ›Nischt zu machen, alter Knabe‹, sagte er verschmitzt. ›Nischt zu machen!‹ Er hatte so hübsche Redensarten ... und ein goldnes Herz, wahrhaft'gen Gott, ein goldnes Herz ... tja.« Er seufzte, sah vorsichtig auf Harro und stampfte bekümmert davon.

Als das Abendrot aufzog, fanden sie ihn. »Jetzt kommt etwas, Herrchen«, sagte Fritz mit seinem stillen Gesicht und zog die vereiste Leine langsam durch die erstarrten Hände. »Gehn Sie lieber fort, es ist nicht hübsch.«

Harro blieb stehen. Die Leinen rieben knisternd gegen das Eis. Dann kamen die Flügel des Sackes aus der schwarzen Tiefe. Harro sah mit schmerzlicher Deutlichkeit das Abendrot auf den Eisrändern der Wuhne, matt wie hinter einer Milchglasscheibe. Über das Wasser rann der Widerschein in blutigem Licht. Es schlug und trieb im Netz. Fischrücken glänzten auf und verschwanden. Dann kam eine einzige gleitende Masse, verfließend, schimmernd, im letzten Kampfe zuckend. Und darunter etwas Dunkles und Stilles.

Die Männer keuchten in schwerer Arbeit. »Das ist er«, sagte eine leise Stimme, seltsam müde und leidenschaftslos.

Das Netz lag auf dem Eise, die gleitende Masse floß auseinander, und in der Mitte, regungslos, lag der Tote.

Herr Immanuel lag auf dem Rücken, in Pelz und hohen Stiefeln. Die offenen Augen sahen in den hohen Abendhimmel. Ein leises, fast lächelndes Staunen hing wie festgefroren um das fahle Antlitz.

Sie starrten alle darauf nieder, als könnte der Mund sich öffnen und zu ihnen sprechen, seltsame Dinge aus dunklen Tiefen, hinter weiten Grenzen, aus einem andren Leben, dessen Schimmer noch in den starren Zügen weilte.

In dumpfem Grübeln blickte Harro auf den Toten. In schweres Grauen fiel wie zerstäubende Tropfen ein unklares Gefühl stillen Neides. Aber dann schlug er die Hände vor die Augen und stöhnte. Fritz führte ihn langsam über das Eis, stumm vor sich hinnickend.

Vom hohen Ufer sah Harro über den See zurück. Sie luden das Netz auf den Schlitten, und hinter ihnen versank das Abendrot.

Sie legten die Leiche in den Zinksarg, der im Netzschuppen stand, und schlossen den Deckel, ohne Frau Brigitte zu rufen. »Das war nich hübsch«, sagte Herr Bumke mißbilligend. »Ich denke, ich gehe auf Pension ... mich sollen sie nich so rausziehen, nee, nischt zu machen.«

Er schüttelte Harro die Hand und stieg in den Schlitten. Lautlos glitt alles in den Abend hinein. Der Hof war leer. Harro schloß den dunklen Raum und ging ins Haus.

Frau Brigitte saß am Tisch und blätterte in ihrem Gesangbuch. Harro blieb neben ihr stehen und streichelte scheu ihr Haar. »Wir haben ihn gefunden, Mutter«, sagte er leise.

Sie sank aufwimmernd zusammen wie unter einem Schlage. »Aber ich kann ihn nicht sehen, Harro! Ich kann nicht! Ich will nicht, daß mir zwei im Traume erscheinen. Ich will nicht, ich will nicht!« Sie umfaßte seinen Körper und drückte zitternd ihren Kopf an seine Brust.

»Du sollst auch nicht, Mutter. Wir haben ihn schon in den Sarg gelegt.«

»O Gott, o Gott!« Sie wimmerte leise, wie bewußtlos. Immer dieselben Worte in dem gleichen qualvollen Tonfall. »O Gott, wozu wird man geboren? So schwer ist das Leben, so schwer ...«

Er sah über ihren leicht ergrauten Scheitel durch das Fenster auf den blauweißen Hof, gerade auf das schwarze Tor des Schuppens. Und seine Lippen lächelten schwermütig. »Ja, auch euch ist es schwer,« dachte er bitter, »wenn der Tod ruft ... arme Kreatur!«

Dann saß er vor dem Feuer und hörte zu, wie seine Mutter Sterbelieder sang. Mit schleppender Stimme, wie Greise singen an trüben Sonntagnachmittagen, in leeren Häusern, oder Kranke in der Abenddämmerung, wenn hinter dunkelnden Hütten unter welkenden Bäumen die Kinder lärmen.

»Wie wird's sein? Wie wird's sein,
Wenn ich zieh' in Salem ein?
In die Stadt der goldnen Gassen!
Herr, mein Gott, ich kann's nicht fassen,
Was das wird für Wonne sein.«

Er stützte den Kopf in beide Hände und sah in die Flammen. »Wie wird's sein?« Er lächelte bitter. In die Stadt der goldnen Gassen ... nein, er wollte nicht hinein. Er wollte nur schlafen, ertrinken im All, in Wäldern und Wolken dahinziehen, aber ohne den ehernen Ring, der das Ganze zu einem Bewußtsein qualvoll zusammenschmiedete. Er wollte nicht mehr suchen, denn seine Füße schmerzten im Staube.

Frau Brigitte sang. Sie hatte Lichte auf den Tisch gestellt, und ihre zitternde Stimme glitt eintönig, die Stunden entlang, durch das Schweigen.

Dann kam Tante Paula, dürftig, zerknittert, in ein großes Umschlagetuch gehüllt, aus dem nur ihre spitze Nase hervorsah. Sie küßte ihre Schwester lautlos und gab Harro mißtrauisch die Hand. »Du könntest dem Kutscher etwas geben«, sagte sie vorwurfsvoll zu ihm. »Er ist von Bumkes.«

Tante Paula hob die Flasche, die auf dem Tisch stand, gegen das Licht und nickte gedankenvoll. »Ja, Brigitte, die Hand Gottes liegt schwer auf dir.«

Frau Brigitte weinte erleichtert. Harro ging auf und ab. »Ach Paula, und er war so gut zu mir, immer, solange ich denken kann. Siehst du, diesen Ring hat er mir noch mitgebracht, als er zur Vereinssitzung war. Und es sind echte Brillanten! Man sieht, wie sie blitzen.«

»Man macht heute schon sehr gute Nachahmungen«, sagte Paula streng. »Aber er hatte immer Geld zu solchen Kinkerlitzchen.«

»Ach Paula, aber er war so gut.«

»Ja, er hat uns Ziegen genannt, aber daran war seine Erziehung schuld. Etwas mehr hätte er uns schon helfen können ... aber Friede seiner Seele.«

»So gut war er, Paulachen, so gut ...«

»Du könntest eigentlich noch Kaffee kochen lassen, Brigitte. Es ist kein Spaß, von der Stadt hierherzukarriolen. Und soweit sind wir noch nicht, daß wir uns Pelze beleisten können.«

»Aber gewiß, Paulachen, das wird uns gut tun. Harro, du trinkst auch noch eine Tasse, nicht? Den ganzen Tag hat der arme Junge auf dem Eis gestanden. Ich will gleich bestellen ...«

»Nun? Und du?« Tante Paula kniff die Augen zusammen.

»Bitte?«

»Was machst du? Immer noch fiedeln? Die Frau Amtsrichter sagt, du bist berühmt geworden und sie werfen mit Blumen, wenn du spielst? Stimmt das?«

»Ja, das wird schon stimmen«, sagte er ernst.

»Verheiratet?«

»Nein.«

»Verlobt?«

»Nein.«

»Aha!« Sie sah mißtrauisch an ihm herunter. »Verdienst du gut?«

»O ja, es geht.«

»Wieviel?«

»So fünfzigtausend im Jahr.«

Sie legte den langen Finger an die Stirn. »Übergeschnappt?«

Er lächelte. »Nein, im Ernst. Ich kann's dir belegen.«

»Verrückt!« sagte sie böse. »Und wir arbeiten uns krumm für den hundertsten Teil.«

»Ich werde dir jetzt jeden Monat etwas schicken, Tante.«

»Das ist edel von dir«, antwortete sie schnell. »Eigentlich ist's deine Pflicht. Kinder sollen die Sünden der Väter gutmachen.«

»Mein Vater hatte keine Sünde, Tante Paula.«

»Ach so ... nun ja ... aber du kannst trotzdem schicken.«

Der Kaffee kam. Tante Paula nahm prüfend einen kleinen Schluck. »Wieviel?« fragte sie streng.

Frau Brigitte sah sie ängstlich an. »Ein ganzes Lot, Paula.«

»Das gehört sich auch so an solchen Tagen.«

Harro sagte Gute Nacht und ging in sein Zimmer hinauf.

»Das ist also ein Künstler ...«, sagte Tante Paula gedankenvoll.

Es war ein großes Begräbnis. Als die ersten Schlitten auf den Hof fuhren, überblickte Tante Paula noch einmal mit zusammengekniffenen Augen den Sarg, der unter Kränzen verschwand. Dann hob sie Daumen und Zeigefinger an ihre Schläfe und flüsterte scharf und durchdringend: »Brigitte, ich sage dir ... pfein!«

Es erschienen alle, die zu Herrn Immanuels Lebzeiten seine gastfreie Häuslichkeit, seine Zigarren, Schnäpschen und erfrischenden Redensarten genossen hatten. Linas Gatte, der Feldwebel geworden war, drückte Harro die Hand. »Ich habe nämlich Urlaub, wissen Sie«, flüsterte er. »Und solch ein trauriger Fall ...« Er sah bekümmert aus und drehte seinen Tschako. Salomo Rosenheimer bohrte seinen Zeigefinger in Herrn Bumkes schwarze Weste. »Nu? Was sagen Se nu? Das Leben is ä Plaite, aber ä mieße!«

Moritz, sicher und selbstbewußt, beschränkte sich auf einen schweigenden Händedruck, und die beiden Schimkusse, von denen Franz Grundsätze des Güterverkehrs bei S. Rosenheimer erlernte, grüßten nur ungeschickt aus der Entfernung. »Das also wäre meine Welt gewesen«, dachte Harro bedrückt. Er streichelte Herrn Leberechts welke Hände und neigte sich zu seinen Worten, deren lange nicht gehörter Tonfall ihn ergriff. »Laß, Onkel Leberecht ... nicht hier. Ich komme bald zu euch.«

Während die Trauergäste im Wohnzimmer umherstanden und Portwein tranken, kam der Landrat. Frau Brigitte wurde blaß, warf einen schnellen Blick in den Spiegel und weinte fassungslos.

Und dann hielt Pastor Laue die Leichenrede über den Text »Unser Leben währet siebenzig Jahre ...« Sein Haar war weiß geworden, seine Hände glitten sanft durch die Luft, und wenn das Schluchzen im schwarzen Kreise lauter wurde, hob er mahnend die Stimme und blickte nachsichtig auf Frau Brigitte.

Noch einmal sprach er, als sie fröstelnd auf dem stillen Dorffriedhof standen, und dann hatte sich Herr Immanuel zu seinen Vätern versammelt.

Es wurde noch ganz gemütlich in dem Trauerhause am See. Man trank auf das Andenken des Verblichenen, und in dem kleinen Spielzimmer kam unter Moritzens Leitung noch ein Spielchen zustande. Die beiden Schimkusse als die am wenigsten Erfahrenen schlossen diese Erweiterung ihres Gesichtskreises mit nicht unerheblichen Verlusten ab, und das Erlebnis endete mit gemischten Gefühlen. »Firma ist Firma«, dachte Franz auf der Suche nach einem Troste. »Nischt zu machen ...«

Als Harro nach langer Wanderung müde das Ufer emporstieg, vernahm er zu seinem Befremden einen wohlbekannten Bariton, der zwar etwas unsicher aber kraftvoll im Walde verklang: »Auf ein...mal heißt ... es In... fanterie ... dann stehn ... wir Mann ... für Mann ...«

Er warf einen traurigen Blick in das Wohnzimmer. Tante Paula, hastig und scheu wie eine Ratte, kramte in Schränken und Schiebladen, während Frau Brigitte mit leerem Lächeln vor einer Flasche Portwein saß.

»Harrochen,« sagte sie mühsam, »komm, trink ein bißchen ... Gott segne dich, mein Junge ...«

Er schloß leise die Tür.

In derselben Nacht bekam Frau Brigitte einen Schlaganfall. Ihre linke Seite war gelähmt, die Wange gelb und starr, und der herabgezogene Mundwinkel hatte ihr Gesicht seltsam verändert, so daß die rechte Hälfte erstaunt zu lächeln schien, während die andre Seite aussah, als ob sie weinen wollte, zaghaft, wie einsame Kinder weinen.

Das Sprechen war ihr erschwert. So lag sie tagsüber in der Wohnstube, wohin man ihr Bett hatte bringen müssen, und folgte mit starren Augen allem, was sich bewegte. Wenn die Dämmerung kam, wurde sie unruhig. Die rechte Hand griff zuckend über die Bettdecke, und der starre Ausdruck des Gesichtes verstärkte sich. Dann hob Tante Paula seufzend die Flasche gegen das Licht und stellte sie wieder fort.

»Ein Glas, Paula!« sagte die Kranke heiser und hob die zitternde Hand.

»Der Doktor hat's verboten, meine Liebe«, kam gleichmütig die Antwort. »Aber weißt du, du hast da eine schöne Kaffeedecke mit zwölf Servietten. Blau und weiß ... sehr hübsch ... ja.« Und sie kauerte sich wie eine Ratte zusammen.

»Du sollst es haben, Paula. Nur ein Glas!«

»Bestimmt? Jetzt gleich?«

»Gleich. Nur ein Glas!«

Und sie trank in gierigen Zügen und ließ aufatmend den Kopf in die Kissen zurückfallen. Wenn Tante Paula vor dem Schlafengehen eine leere Flasche unter der Schürze aus der Stube trug, waren Frau Brigittens volle Schränke leerer geworden. Der Verlust stand in Tante Paulas kleinem Notizbuch sorgsam vermerkt.

Nach der ersten Woche pflegten sich in der Dämmerung Halluzinationen einzustellen. Dann saß Tante Paula neben der Kranken und sprach ihr mit ihrer strengen Stimme zu. Die Gestalten verschwanden dann am leichtesten. Harro saß vor dem Feuer, die Hände gefaltet, und lauschte gequält auf die wirren Worte. Seine Mutter sprach mühsam, aber leise und eifrig, wie Fieberkranke sprechen, mit flehendem Drängen nach Glauben und Verständnis, geheimnisvoll und mit unterdrückter Eile, als habe sie zu sagen, was niemand sonst sehe und was bald vergehe, unwiederbringlich wie gleitende Träume.

»Weshalb jagst du den Hund nicht fort, Paula? Er zerfrißt den ganzen Teppich ...«

»Wo?«

»Nun dort! Siehst du denn nicht? Hinter dem Tisch? Wie schnell er frißt ... immerzu ... und jetzt sieht er mich an ... Harro jag' ihn fort bitte! Was will er hier ... solch ein großer fremder Hund ...«

»Es ist doch keiner da, Mutter«, sagte Harro müde und trat vor den Tisch auf den Teppich.

»Siehst du denn nicht?« fuhr sie flüsternd, fast atemlos fort. »Jetzt sieht er unter dem Tisch durch ... immer auf mich ... mit grünen Augen ... solch ein großer fremder Hund ...«

»Genug!« sagte Tante Paula streng. »Hinaus mit dir, du Köter!« Und sie bohrte ihren dürren Arm drohend in das Dunkel.

»Siehst du«, seufzte Frau Brigitte aufatmend. »Nun ist er fort ... dir gehorcht er immer.«

Dann lag sie eine Weile schweigend, und Harro saß wieder am Feuer, gebeugt wie ein alter Mann. Der Wind stöhnte im Kamin, und die Schneeflocken rieselten an den Fenstern.

»Aber wozu sie immer schießen?« flüsterte Frau Brigitte lauschend. »Immer die Kanonen ... Tag und Nacht ... und er ist doch schon lange tot ... schon so lange ... ›Nun hab' ich überwunden Kreuz Leiden Angst und Not ... durch seine heil'gen Wunden bin ich versöhnt mit Gott‹ ... Hört ihr nichts? ... ›Wenn meine Kräfte brechen mein Atem geht schwer aus ... Und kann kein Wort mehr sprechen, Herr nimm mein Seufzen auf ...‹ Aber immer die Kanonen ... was mag es nur sein Harro? ...«

Dann stand Harro auf und ging auf den Hof. Er lehnte am Gartenzaun, durch den die Schneewehen rieselten, und sah in die Nacht. Die Rätsel standen wieder auf, und über dem vereisten Staket faltete er die ohnmächtigen Hände.

Am Neujahrstage spannte er das Pferd in den kleinen Schlitten und fuhr zu Herrn Leberecht. Es war ganz windstill, und aus niedrigen Wolken schneite es ganz leise. Langsam fuhr er die Landstraße am Fluß hinunter. Die Wegränder waren dicht verhängt, dahinter lagen unnahbar die weißen Wälder. Die Fährten des Waldes füllten sich mit neuem Schnee, und der Tag ging zu Ende wie über einem Toten.

Ruhoffs kamen ihm in der Tür entgegen. Frau Hella sah ihm lange in die Augen. »Daß ich noch du zu dir sagen kann, Harro! Das ist ein schöner Jahresanfang.«

»Nach dreizehn Jahren, Harro«, sagte Herr Leberecht bewegt. »Gott segne deinen Eingang!«

»Mir ist es,« antwortete Harro leise, »als sei es gestern gewesen.«

Im Wohnzimmer, in dem es schon dämmerte, trat ihm Maja entgegen. Er blieb stehen und sah sich hilflos um, als ob er weinen wollte. »Aber Harro ...«, sagte sie gütig.

»Es ist schon gut«, antwortete er mühsam. »Ich bin so einsam gewesen ...«

Dann saßen sie um den runden Tisch, ohne Licht. Es duftete nach Äpfeln und Tannennadeln. Der Baum schimmerte silbern aus der Ecke.

»Sind wir überhaupt jemals hier fortgewesen, Maja?« fragte er in tiefem Verwundern.

»Weit fort, Harro. Aber unsere Seelen waren vielleicht hier, immer um die Abendzeit, wenn in den Straßen die Lampen hell wurden.«

»Selig sind, die da Heimweh haben«, sagte Onkel Leberecht und faltete die Hände über seinem Stock.

»Alles ist Heimweh, Kinder«, seufzte Frau Hella. »Leben und Sterben ... alles Heimweh.«

In den Fenstern des Dorfes sprangen kleine Lichter auf, verschwimmend hinter erblindeten Scheiben. Verwehte Klänge kamen die Straße entlang, ohne Worte, nur Melodien. »O du fröhliche ... o du selige ... gnadenbringende Weihnachtszeit ...« Schlittengeläute verging hinter weißen Hügeln.

»Wann fährst du wieder ab, Maja?«

»In acht Tagen vielleicht.«

»Ludwig wollte auch kommen,« sagte Onkel Leberecht erklärend, »aber er hat zuviel zu tun, Jahresabschlüsse und sonst noch allerlei.«

»Ja, Konserven haben keine Feiertage«, meinte Maja gutmütig. »Und jetzt wollen wir dem armen Harro etwas Süßes bescheren, nicht wahr?« Und sie küßte Frau Hella und zündete, leise singend, die Lampe an.

Vor dem Abendessen, als die beiden Frauen draußen waren, ließ Herr Leberecht seine Geige sinken und schob die Brille auf die Stirn. »Du, Harro,« sagte er und sah sich vorsichtig um, »du warst ja auch bei ihnen, da draußen in der Stadt ... glaubst du, daß sie glücklich ist?«

»Ach, Onkel Leberecht, wer kann sagen, ob er glücklich ist? Und nun gar von einem andern ... Aber sie leben in Frieden, und Herr Obermeyer ist ja sonst ein gutmütiger Mensch.«

»Ja, ja ...« Er nickte sorgenvoll. »Weißt du, Harro, sie sitzt so gerne auf der alten Bank unter den Kastanien, lange, bis das Abendrot kommt ... und das gefällt mir nicht.«

»Wir haben vielleicht alle Heimweh, Onkel Leberecht. Das Leben ist doch anders, als wir gedacht haben, schwerer, einsamer. Und wenn man dann wieder zu Hause ist, dann sitzt man wohl gern auf den alten Bänken, auf denen man als Kind gesessen hat ... die Heimat hat so ein warmes Herz ...«

»Ja, ja, da lebt man und lebt, in Licht und Reichtum, und nachher sieht man doch, daß die dunkle Ecke am Ofen nicht ganz so eng und häßlich war ... und die Kinderlieder und die Dorfstraße, mit ihren Schwalben und ihren Lindenbäumen.«

»Aber sind wir denn Kinder unser Leben lang?«

»Wenn wir jung sind, Harro, und wenn wir alt werden. Und nur dann sind wir glücklich, nur dann. Wenn die Tage ein Geschenk sind. Wenn du still bist und die Hände ausbreitest, um es zu empfangen. Nicht wenn du läufst und jagst. Nur die Stille ist heilig. Und deshalb ist der Tod auch so ergreifend. Der Tod ist Rückkehr. Sieh, die meisten Menschen haben Angst vor der Stille. Sie fürchten, daß draußen die goldnen Würfel fallen, während sie am Brunnen der Stille knien. Und sie schämen sich wie Soldaten hinter der Schlacht. Denn man predigt ihnen ohne Aufhören, das Leben sei Kampf. Deshalb ruhen sie ein Weilchen und schöpfen Atem, und dann nehmen sie wieder ihre Fahne auf und stürzen hinaus. Aber du hast nur eins mitbekommen, was dir allein gehört, das ist deine Seele ... Und Seelen blühen nur in der Stille. Gott ist in dir, tief in deiner Seele. Und wenn du suchen willst, so suche in dir, ganz in der Stille.«

»Vielleicht hast du das Rätsel gelöst, Onkel Leberecht ...«

»Das Rätsel ist wohl so, Harro ... du suchst etwas, mit allem Eifer deines Lebens, denn dein Glück hängt davon ab. Es lockt dich. Es klopft leise, bald hier, bald da, als wollte es dich narren. Zuerst suchst du in der Stube, im Haus, in der Heimat. Es klopft immerzu. Dann läufst du hinaus, immer dem Klopfen nach, mit Weinen und Fluchen. Weiter und weiter, über die ganze Erde. Und gehst vorsichtig um die Menschen herum und lauscht in sie hinein, ob es in ihnen ist, was so klopft. Und nach Jahren, wenn du alt und müde bist, kehrst du vielleicht zurück in den kleinen Raum, wo es am lautesten geklopft hat. Und endlich entdeckst du, daß es in deinem Herzen war, dies seltsame Klopfen. Daß das Leben dich betrogen hat. Aber dann ist es meistens zu spät, denn der Tod kommt. Doch wenn du in der Stille bleibst, lange, wenn du noch jung bist, dann verstehst du hin und wieder ein Wort, und dann sitzest du gern auf der alten Bank, wo nur die Blätter rauschen und die Kinder singen. Denn sie stören dich nicht in deiner heiligen Stille. Und lächelnd siehst du, wie die Wipfel verglühen.«

»Das ist seltsam,« sagte Harro leise, »sehr seltsam ...«

Nach dem Abendessen zündete Maja die Kerzen am Baume an. Der Rauch eines glimmenden Astes zog langsam durch den Raum.

»Mir ist, als hätte ich heimgefunden, Tante Hella,« sagte Harro träumerisch und streichelte ihre harte Hand.

Sie nickte schwermütig. »Noch nicht ganz, mein Kind ... aber vielleicht bist du auf dem Wege.«

»Was hast du über die Zukunft beschlossen, Harro?« fragte Herr Leberecht. »Wann wirst du wieder spielen?«

Harro sah in die Kerzen. »Ich weiß noch nicht ... es ist schon möglich, daß ich überhaupt nicht mehr spiele, da draußen ... ich will Mischa fragen.«

Dann sah er Majas hoffnungslose Augen. Er legte schnell seine Hand auf die ihre. »Nicht so, Maja! Es wird alles anders werden ... du sollst nicht mehr verirren ... aber Zeit! Ich muß Zeit haben, in die Stille zu horchen. Vielleicht finde ich zurück.«

Herr Leberecht nickte, wehmütig und schon etwas müde. Die Dorffenster wurden hell, wie Altäre in dunklen Kirchenschiffen. Ferner Gesang glitt die Straße entlang. Es waren die Kinder, die von Haus zu Haus zogen.

Als Harro auf den Hof lenkte, trat Tante Paula in die Haustür.

»Was ist? Schlimmer geworden, Tante Paula?«

Sie zuckte mit den hageren Schultern. »Ich glaube, du läßt den Doktor holen.«

»Weshalb? Sprich doch!«

»Ihre Nase wird spitz«, sagte sie gleichmütig. »Außerdem hat es sich angemeldet.«

Der Arzt sah Harro kopfschüttelnd an, machte eine Einspritzung und fuhr wieder davon. Frau Brigitte hatte das Bewußtsein verloren.

Im Schatten des nächsten Abends ging es zu Ende. Harro saß neben dem Bett und starrte mit schmerzenden Augen auf das stille Gesicht, über das der Tod sich beugte. Unter den geschlossenen Lidern schimmerten die Augen wie ein trüber Spalt hervor. Augen, die in eine andre Welt sahen oder in das Nichts, leer und ohne Bewegung. In qualvollem Rhythmus ging der Atem als das einzig Lebendige durch das schweigende Zimmer. Krampfhaft, röchelnd, in zwei regelmäßigen Absätzen sog die Brust den Odem ein, hielt ihn lange, unheimlich lange zurück und ließ ihn langsam, mit leisem Seufzer wieder entfliehen, als fürchte sie die Pein des neuerlichen Suchens.

Länger wurden die Pausen, leiser die Seufzer. Harro fühlte kalten Schweiß auf seiner Stirn. »Nicht aufwachen!« dachte er voller Qual und sah mit ohnmächtigem Erbarmen auf den Kampf des Todes. »Wie Fische auf dem Trocknen.« Sein Herz war leer. Er starrte in die erbleichenden Züge und suchte nach irgend etwas, nach Worten, Erinnerungen, Äußerungen vergangenen Lebens. Und Angst überfiel ihn, sinnlos und verwirrend, gestaltlose Schreckensbilder der Versäumnis, der Sünde wider das Blut. Denn es war sein Blut, das dort erkaltete, sein Wesen, sein Dasein. Und wenn sie Sünde über Sünde getragen hatte, doch war es sein Blut, in bitterer Todesnot.

Er nahm die Hand, die schon kühl und feucht war, und drückte seine Lippen darauf. »Vergib uns, daß wir leben, wenn andre sterben«, bat er in unbewußtem Leide.

Dann setzte der Atem aus, und furchtbar fiel das Schweigen in den Raum. Er griff an sein Herz, um das Schreien zu ersticken. Aber noch einmal glitt der Atem aus der müden Brust. Und dann war das letzte Schweigen, endgültig, hoffnungslos, ewig. Eine fremde Hand glitt über das Gesicht, wie eine Welle über gefurchten Sand, glättete, strich aus, und verschwand.

Er drückte der Toten die Augen zu, rief Tante Paula und ging nach oben in seine stille Stube.

Als der Hügel schon gewölbt und mit Kränzen bedeckt war, stand er noch immer mit Herrn Leberecht und Maja zwischen den zertretenen Fichten auf der Höhe und blickte verloren über die Kreuze.

»Komm, Harro,« sagte Maja, »es ist zu Ende.«

Seine Augen gingen von ihrer schwarzen Gestalt in die Weite. Über das verschneite Dorf, über Fluß und Felder, bis an den Hochwald. Der Himmel war grau, und ein feuchter Wind ging schwer über die Gräber.

»Wie still das ist«, sagte Harro befremdet. »Seltsam still ...«

Dann sagte er ihnen Lebewohl. »Wann werde ich dich wiedersehen, Maja?«

»Wann du willst. Laß es nicht zu still werden um dich.«

»Nein, es soll nur klar werden, nur klar!«

Er fuhr zurück in sein leeres Haus, in dem nur Tante Paula hastig und lautlos umherhuschte. Er ordnete den Nachlaß und verpachtete das ausgedehnte Fischereirecht. Als das Geschäftliche erledigt war, griff er das übrige an. Er wollte mit der Vergangenheit abschließen, endgültig und ohne Rest. Er fand Herrn Immanuels Herbarium, blätterte traurig die Seiten durch und dachte an Obermeyer. Er fand die Geheimbibliothek und verbrannte sie. Ein bitteres Staunen ergriff ihn vor der Seltsamkeit des Lebens.

Dann begann er zu wandern, die Seen und Wälder hinauf und hinunter, Tage und Nächte lang. Mitten in den Schonungen blieb er stehen und blickte lange die weißen Hänge hinab, über die das Abendrot floß. Oder er horchte zu den hohen Wipfeln empor, in denen die Winde rauschten. Seine Seele lag in Dumpfheit, aber es schien ihm, als hörte er zuweilen das geheimnisvolle Klopfen lauter und als sei er dem Rätsel näher. Feierliche Melodien flossen ihm zu, die sich zu strahlenden Klängen einten, die er nie bisher vernommen hatte, und wenn er abends am Feuer saß und sie niederschrieb, war ihm in scheuem Verwundern, als öffneten sich immer neue Tore an den Wegen seines Lebens.

Und dann verreiste er plötzlich, ohne zu sagen, wohin. Als er wiederkam, begann ein atemloses Leben in den sonst so stillen Räumen. Handwerker erfüllten die Stuben; bis auf den Kalk der Wände verschwand jede Erinnerung an das Vergangene; Schlitten auf Schlitten kam mit Lasten von der Bahn, und in den neuen Räumen entstand ein neues Haus.

»Ich glaube, Harro,« sagte Tante Paula, »ich habe ein Recht, zu fragen, was das bedeutet.«

»Das bedeutet,« antwortete er freundlich, »daß ich mich entschlossen habe, in diesem Hause zu sterben.«

»Wann?«

»Wenn es soweit ist.«

»Und ich?«

»Nun, du wirst eben auch einmal sterben müssen.«

Über Nacht zog der Frühling ins Land. Unruhe war in der Welt. Wolken und Wälder waren windzerklüftet, und es rief in Höhen und Tiefen Tag und Nacht. Alle Augen schlossen sich auf, und graue Geschwader rauschten durch blaue Luft nach Norden.

Harro saß auf der Uferbank und sah dem Ziehen nach. Er war müde und trank die Sonne wie ein Genesender. Aber die Unruhe der Erde durchschauerte ihn, und verwirrend warf sich die Ewigkeit des Seins über seine suchende Seele.

Am Abend saß er bei Mischa im Schäferhaus, vor dem offenen Herde, in dem das Feuer brannte. Er hatte lange gespielt. Nun ließ er die Geige sinken und sah den Zigeuner an.

Mischa hob den weiß gewordenen Kopf aus den dunklen Händen und flocht gedankenlos an den neuen Strohschuhen herum. »Musikant«, sagte er endlich, »großer Musikant ... was hat Mischa gesagt?«

»Nicht das, Mischa. Ich will wissen, ob es Zeit ist.«

Der Zigeuner starrte in das Feuer. »Wer kann sagen? Musikant wandert, hört nicht auf mit Wandern ... Kranich wandert und Zigeuner ... du auch.«

»Und du?«

»Ich auch ... Fuß ist lahm und entzwei ... aber Geige wandert, Seele wandert, immerzu ...«

Harro sah ihn grübelnd an. »Spiele Mischa. Spiele dein Leben, damit ich weiß.«

Als der letzte Ton verklungen war, stand Harro auf. »Zehn Leben brauche ich«, sagte er leidenschaftlich. »Flügel der Morgenröte und das Meer, das hinter dem äußersten Meere liegt. Wer kann eine Geige zerspielen? Und wir wollen ein Leben ausleben? Wir Toren, wir Toren ...«

Über den Heidehügel ging er zum See. Die Rohrkämpe brausten wie damals, und er sah die Fäden seines Lebens zurücklaufen als ein wirres Gewebe. Der Kauz rief im feuchten Buchenwald, und über das dunkle Wasser fegte fahler Schaum. »Wenn auch sie es nicht ist?« dachte er in dumpfer Verzagtheit. »Und ich muß sie verlassen? Auch sie?«

Lange saß er auf der Reiherinsel, im Schatten der Rohrhütte, deren Dach verfiel. Als er wieder im Kahn saß, hörte er zum erstenmal den heiseren Schrei, der durch seine Träume gegangen war, und gegen den aus Wolken brechenden Mond sah er das dunkle Bild der Vögel, wie sie taumelnd im schweren Wind in die brausenden Wipfel fielen. »Ein Zeichen,« dachte er in müder Hoffnung, »wenn es ein Zeichen wäre ...«


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