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5.

»Nein, Kusine,« sagte Onkel Felix und sah mit seinen trüben Augen in die dunklen Ecken der Bibliothek, »es ist mit der Liebe wie mit dem Weihnachtsfest. Die verschlossenen Türen vorher, das Verstecken und Verstummen, wenn man unerwartet in ein Zimmer tritt ... die Glocken vor dem Fenster, und schließlich das Lauschen und Bangen am Heiligen Abend, wenn man durch das Schlüsselloch in eine fremde Welt starrt, voll von Schauer und Ahnungen ... das ist Weihnachten, nicht der brennende Baum und die Geschenke, oder gar der erste Feiertag ... da ist der Zauber fort ... die Sehnsucht ist alles, und die Erfüllung ist nüchtern, grau und traurig ...« Und er schob zerstreut mit dem Stock eine glimmende Kohle durch die Eisenstäbe ins Feuer zurück.

Sie saßen um den Kamin in der Bibliothek. Herr von Gontermann und Frau Maria waren verreist, Herr von Santen auf seinem Gut. Gerhard und Herr Bender waren in die Stadt gefahren, um geheimnisvolle Einkäufe zu machen. Die erste Adventswoche war angebrochen. Schnee war gefallen und vergangen. Nun brauste der Sturm durch den kahlen, nassen Park, über dem die Krähen schrieen. Schmutziges Laub lag auf verlassenen Gängen, und Regen rieselte an den Fenstern herab. Hinter den Feldern bogen sich die dunklen Wälder, und schwere Wolken schleppten sich grau durch den Abend.

Sie hatten kein Licht gemacht, und nur der Flammenschein irrte über die regungslosen Gestalten, spiegelte sich in den Scheiben der Bücherschränke und erstarb in den fernen Ecken. Mademoiselle saß abseits im Schaukelstuhl und hüllte sich tiefer in ein dunkles Tuch. »Ah, ces hivers en Allemagne! Comme j'ai froid!« seufzte sie. Harro hatte eine rote Decke über den Knien und träumte in die Flammen hinein. Er war ein paar Tage krank und elend gewesen.

»Nichtwissen ist süß«, sagte Frau Magda und stützte den Kopf in die Hand. »Ahnen ist süßer ... aber Erfüllung ist am süßesten ...«

»Als ich fünfzehn Jahre alt war,« begann Onkel Felix traurig, »war ich in den großen Ferien bei meinem Onkel Langermark auf seinem Majorat, und Planitz und Wittich waren mit mir gefahren. Meine Tante war lange tot, und die kleine Irmgard wurde von einer Gouvernante erzogen. Sie hat nachher einen Berken geheiratet, einen Landrat, aus der schlesischen Linie, und ist eine gute Frau geworden, auch wohl geblieben ... Irmgard meine ich ... Die Gouvernante aber, das war sehr seltsam ... Sie war jung und hatte schwarze Augen und bläuliche Ringe darunter. Und als wir sie eine halbe Stunde gesehen hatten, waren wir rettunglos verliebt. Wir verliebten uns sehr schnell damals. Sie behandelte uns sehr kühl, wenn wir alle zusammen waren, und sah uns nur manchmal so aus der Tiefe heraus an ... so, als ob sie uns vergiften wollte, ja ... Isa hieß sie ... Mein Onkel kümmerte sich nicht um uns, er war immer unterwegs. Und die ganzen Abende saßen wir zusammen auf der Terrasse. Der Sommer war schwül, und es wetterleuchtete die ganze Nacht ... Und es dauerte nicht eine Woche, da sahen wir uns manchmal böse an und gingen uns aus dem Wege. Wenn es Abend wurde, dann saßen wir nicht mehr zusammen, sondern streiften allein durch den Park. Und lauerten und horchten und bebten wie Espenlaub bei jedem Windhauch ... Auch sie ging einsam durch den Park. Und da fand sie mich einmal auf einer Bank, abseits vom Wege, und setzte sich neben mich ... ich sehe noch ihre großen goldnen Ohrringe und ihren dunklen feuchten Blick. Ich saß wie im Fieber. ›Ist Ihnen angst?‹ fragte sie. ›Wie kalt Ihre Hand ist!‹ Und sie nahm sie um ihre Schulter herum und legte sie auf ihren Hals, vorne, wo sie immer das Medaillon trug. Ihre Haut brannte mich wie Feuer, aber ich saß ganz still. Und ich weiß, daß ich damals geweint habe ... es war sehr merkwürdig, denn ich habe selten geweint. ›Wie dich friert!‹ sagte sie und lachte ganz leise. Und sie beugte sich über mich und drückte ihren Mund in mein Haar. ›Ist dir jetzt warm?‹ fragte sie, und sie drückte, noch immer mit ganz leisem Lachen, meine eiskalte Hand fester an ihren Körper ... Und ich, ja, ich sprang auf und lief wie gehetzt in den Park, weit, weit, ins Dunkle ... es war sehr merkwürdig, aber ich lüge nicht ... Und in der Nacht, es dämmerte schon, erwache ich plötzlich ... wir schliefen alle zusammen ... und ich sehe, daß Wittich zur Türe hereinkommt, bleich wie der Tod. Und wie ich ihn anstarre, schlägt er die Hände vors Gesicht und wirft sich über mein Bett, und sein Körper zuckt wie im Krampf ... und ich habe sein Haar gestreichelt, was ich niemals getan habe ... Und dann sind wir abgefahren ... Er hat niemals von jener Nacht gesprochen, obwohl ihm später nichts heilig gewesen ist ... er ist dann im Duell gefallen ... Fredi Planitz hat ihn erschossen, oder Egon ... ich weiß es nicht mehr ...«

Die Flammen knisterten, und Onkel Felix schob wieder eine Kohle durch die Eisenstäbe. »Und doch,« sagte er und sah zerstreut auf Hedwig, »vielleicht war ich niemals so glücklich wie damals auf der dunklen Bank ... die Feiertage waren grau und nüchtern, und jetzt ist es immer kalt, immer ...«

»Ach Onkel Felix,« sagte Hedwig lächelnd und verschränkte die Arme im Nacken, »du bist alt und mißmutig geworden, aber wir sind noch so jung! Und das Leben ist sicher so warm! Weißt du, als ich zwölf Jahre alt war, habe ich mich in Herrn Bender verliebt, weil er einen so schönen schwarzen Bart hatte. Und ich habe ihm immer Blumen ins Zimmer gestellt. Aber er hat nur immer ›Danke, mein liebes Kind‹ gesagt, und da ist meine Liebe langsam gestorben. Und dann hatten wir einen Eleven, Herrn Louis Meyer, weißt du noch? Er hatte immer so elegante bunte Taschentücher und einen Scheitel bis auf den Kragen. Den habe ich furchtbar geliebt. Und eines Abends gingen wir durch den Park und seufzten. Bis ich mit zitternder Stimme fragte: ›Fehlt Ihnen etwas, Herr Meyer?‹ Da sagte er: ›Ich ... ich möchte dem gnädigen Fräulein ein Bekenntnis machen.‹ Und ich war wütend, daß ich nur ein Alltagskleid mit einer Tändelschürze trug. Aber ich nahm mich zusammen und sagte entschlossen: ›Sprechen Sie, Herr Meyer!‹ Und da sagte dieses Riesenkamel: ›Gnädiges Fräulein, ich verehre Ihre Frau Mutter fabelhaft!‹ Seitdem habe ich mir vorgenommen, mich nicht mehr unter meinem Stande zu verlieben.«

»Es gibt nur zweierlei Menschen,« sagte Onkel Felix, »die, die ewig in der Sehnsucht lieben, und die, die ewig in der Erfüllung lieben. Jene sind, absolut betrachtet, immer unglücklich und diese immer glücklich. Aber ... jene pflegen in Schönheit zu sterben, wie man heute sagt, und diese erschießen sich meistens, oder vergiften sich, oder sterben am Ekel ... man sollte nicht glauben, wie viele Menschen am Ekel sterben ...«

»Und was ist das, in Sehnsucht lieben?« fragte Harro leise.

»Das ist sehr merkwürdig, Kind ... wenn du eine Schleife bis an deinen Tod aufbewahrst ... wenn der Duft einer Locke dich berauscht ... wenn du ein aufgegangenes Schuhband binden sollst und du drückst deine Lippen auf den zarten Strumpf über den feinen Knöcheln und gehst dann fort, ohne das Band gebunden zu haben ... wenn du beim Küssen, statt ... nun, genug, so ungefähr ist das vielleicht ... es ist süß wie der Duft eines alten Weines, aber man soll ihn nicht austrinken, denn ein zweiter ist auf der ganzen Welt nicht mehr ... und am schönsten sind vielleicht die Lippen für uns, die wir küssen konnten und doch nicht geküßt haben ...«

»Das verstehe ich nicht, Onkel Felix«, sagte Hedwig nachdenklich.

»Ich habe es auch erst sehr spät verstanden ... sehr spät ...« Er sah zerstreut auf Harro, der in die Flammen starrte, legte die zitternden Hände über den Stock und nickte ein paarmal gedankenvoll, als hätte eine ferne Stimme von draußen durch die dunklen Fenster nach ihm gerufen. »Klingle meinem Diener, Kind, ich will hinauf ... es ist so dunkel hier.«

»Komm, ich bringe dich nach oben«, sagte Hedwig. Und sie gingen langsam durch den dunklen Raum nach der Türe. Das Aufstoßen des Stockes klang regelmäßig und immer ferner, wie der Schritt einer Krücke. »Ah, comme elles sont tristes, ces soirées de décembre!« seufzte Mademoiselle, und sie glitt wie ein Schatten aus der Tür.

Der Wind stieß gegen die Fenster, und in der Ferne rauschte der Regen.

»Und Sie, Harro?« fragte Magda zärtlich. »Werden Sie auch in der Sehnsucht lieben?«

Er schrak zusammen und sah sie hilflos an. »Ich weiß nicht«, flüsterte er verwirrt. »Es ist Ihnen ja auch so gleichgültig ...« Und seine Hände strichen unruhig über die rote Decke.

»Harro!« sagte sie traurig. »Weshalb wollen Sie mir immer fremd bleiben? Jeder hat Anteil an Ihrem reichen Leben, nur ich darf nicht einmal an Ihren Schmerzen teilnehmen ... bin ich soviel schlechter als die andern?« Sie neigte das schöne Kindergesicht und legte die Hand über die Augen.

»Ich will Sie nicht kränken«, antwortete er hilflos. »Vergeben Sie mir. Ich wußte nicht, daß Sie mich ... überhaupt beachten ... es tut mir so leid ...« Und er hob den Arm, der müde und schwer war, und streichelte ihre Hand.

Sie hielt seine Finger fest und legte sie an ihre Wange. Und während sie mit strahlenden Augen zu ihm aufsah, sagte sie flüsternd: »Sie sind mir so lieb, Harro ... so lieb!«

Oben klang ein verhallender Schritt, und der Regen rauschte kalt und traurig.

Sie lauschte mit klopfendem Herzen und fühlte das Blut wie in neuem Fieber durch die Adern seiner Hand rauschen. »Pagenliebe,« dachte sie, »endlich ... endlich!« Sie kauerte sich tiefer zusammen, und ihre Mundwinkel bebten wie unter den Klängen seiner Geige. »Haben Sie schon einmal geliebt, Harro?«

Er nickte nur.

»In Sehnsucht?«

»Ja.«

»Dann war sie nicht barmherzig, Harro.«

Er schloß die Augen. »Wie kann eine Frau ... barmherzig sein?« flüsterte er.

»Sie hat den Becher von Ihren Lippen genommen, ehe Sie ihn berührt hatten.«

»Und ... ist er süß?«

»Daß die Sinne schwinden ...«

Sie schwiegen. Der Knabe starrte in die Flammen. Er sah die Frühlingsnacht am See und Majas blasses Antlitz, und es schien ihm, als glitte sein Leben tiefer und tiefer in wirre Gärten, wo die Schleier fielen. Aber es war angstvoll, lähmend, und das Herz schlug mit schweren Schlägen.

»Armes Kind«, sagte Magda leise.

Die süße Woge kam wieder über ihn, die die Glieder so müde machte. »Und ...«, begann er fast unhörbar, »wären Sie ... barmherzig gewesen?«

Sie stand langsam auf, und während sie ihre Wange leicht und schnell in sein Haar drückte, sagte sie: »Ich glaube ... ja.«

Dann verließ sie schnell das Zimmer.

Seine erhobenen Hände fielen zurück. »Was tue ich denn?« dachte er schwindelnd. »Aber wozu ist diese Qual? Und weshalb ist sie so süß? Ich möchte wohl wieder bei Maja sitzen ... aber er, er?« Ihn fröstelte. Er warf einen scheuen Blick in die dunklen Ecken und stieg müde und zerschlagen zu seinem Zimmer hinauf.

Er ging nicht zum Essen, und als Gerhard zurückkam, lag er, in die rote Decke gehüllt, mit fieberheißen Wangen auf dem Ruhebett.

»Geh' hinunter!« bat er. »Aber bleib' nicht zu lange, nein?«

Dann lauschte er wieder in den Regen hinaus. Das Rauschen des Parkes ging wie ferne Meeresbrandung durch die Nacht. Unten spielte Herr Bender ein wehmütiges Andante ...

»Ich möchte nicht in der Stadt sein«, sagte Gerhard, als er wieder bei ihm saß. »Alles ist so finster und traurig. Ich möchte immer in einem alten Hause leben, wo die Menschen leise auftreten und wo ich meinen Friedhof habe, auf dem meine Vorfahren schlafen.«

»Weshalb ist das Leben so traurig, Gerhard?«

»Ich weiß nicht, Harro. Vielleicht weiß das niemand. Wenn ich ein Buch lese, oder du spielst, oder ich sitze bei Mama und lehne meinen Kopf an ihre Schulter, dann vergesse ich alles und glaube, ich sei glücklich. Aber wenn das zu Ende ist und ich gehe in mein Zimmer, dann ist mir so, als rufe es leise hinter mir her, und alles ist wieder so bang ...«

»Glaubst du Gerhard, daß ... es steht so oft in den Büchern ... daß die Liebe glücklich macht?«

»Ich weiß nicht, Harro ... Ich habe einmal die Tochter unsres Gärtners geliebt. Sie war immer blaß und hatte dunkle Augen wie die Tiere im Wald. Ich bin immer vorbeigegangen, wo sie arbeitete, und einmal, da habe ich ihr eine Apfelsine gegeben, weil ich sie so liebte. Sie sagte nichts, nur als ich fortgehen wollte, zeigte sie auf meinen Fuß und sagte: ›Tut das sehr weh?‹ Und sie hatte eine dunkle Stimme wie eine Saite auf einer alten Geige ... Dann sind sie fortgezogen, und ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist ...«

»Hast du ... hast du sie geküßt?«

»Nein niemals ... und doch war es eine glückliche Zeit ...«

»Was ist Glück? Wann hört dies Sehnen auf?«

»Wenn du heiraten wirst,« sagte Gerhard scheu, »dann wirst du vielleicht glücklich sein.«

Harro drehte sein Gesicht zur Wand und schloß die Augen. »Es quält mich so«, sagte er leidenschaftlich. »Was ist es, das so süß ist und so müde macht? Ihr Haar duftet wie die Sommernacht, ihre Arme sind wie aus einer andern Welt, die Falten ihrer Kleider rauschen wie über einem wundervollen Geheimnis, und wenn ihre Hand deine Wange berührt, dann steigen dir die Tränen in die Augen und du möchtest sterben vor Glück und vor Grauen ... Und alle, die groß sind, gehen umher und leben, als ob es nichts Fremdes auf der Welt gebe. Sie weinen nicht mehr oder nur über andre Dinge. Sie gehen im Alltagskleid, nüchtern und laut ... Und ich habe solche Angst, daß es uns ebenso gehen wird. Was ist die Erfüllung? Das Wissen, das Barmherzige, wird es nicht unser Tod sein?« ...

Es war ganz still im Zimmer. Die Dezembernacht ging wie ein ferner Strom vorüber, dessen Wellen nicht bis an die Mauern des Hauses schlugen. Herr Bender hatte aufgehört zu spielen, und in dem weiten Hause hörte man nur ab und zu eine Türe gehen oder ein verwehtes Wort, das in den dunklen Gängen erstarb.

Zwischen Weihnachten und Neujahr fiel wieder Schnee, lange und dicht, in schweren Flocken. Wenn Harro am Vormittag in Herrn Benders Zimmer Unterricht hatte, sah er durch das breite Fenster über den Park, durch den die weißen Wolken glitten und der auch bei Tage in blasser Dämmerung lag. »Nun, Harro,« sagte dann Herr Bender, »wir wollen die Konstruktion mal von dieser Seite versuchen.« Harro sah ihn zerstreut an. »Ach, Herr Bender, mir ist so traurig ums Herz.«

»Nun, mein Junge, das ist der Schnee. Aber das ist auch die Zeit, wo du noch einmal mit dem Bogen über die Saiten fährst, bevor das Konzert beginnt. Und dazu muß man schon etwas lernen, nicht?« Und Harro wandte sich wieder seufzend zu den Büchern.

Nach dem Neujahrtage kam eine Woche mit strengem Frost, daß auf den Seen glasgrüne Flächen zwischen den Wäldern erwuchsen. Onkel Felix saß dicht am Kaminfeuer und legte viele Patiencen. Frau Maria ging beim Abendschein durch die verschneiten Parkwege und sah durch das Gartentor der Mauer lange nach den verglühenden Wolken.

»Mutter,« sagte Harro und lehnte sich an sie, »bist du auch traurig?«

»Wenn die kurzen Tage so schön sterben, dann macht es mich immer wehmütig, Harro, aber du bist noch jung, und einmal wirst du leise lächeln über deine Schmerzen ... Wir, ja, wir waren so selten jung, man hat uns früh die Schwingen gebrochen ... nun sehen wir hinter der Mauer in den Abend ... Eine Frau trägt immer viele Schmerzen, Harro. Vergiß das niemals!«

Dann kam Hedwig mit den Hunden durch den Park und schloß sich den beiden an. »Sieht sie nicht aus wie ein Ritterfräulein?« fragte Harro und sah sie nachdenklich an. »Seit dem Sommer hat sie ein ganz andres Gesicht bekommen. Ich glaube, sie wird sehr schön werden.«

»Ich bin kein Gemälde, das man gegen Eintrittsgeld anstarren darf«, sagte sie schroff.

»Aber Hedwig!« Frau Maria sah sie aufmerksam an und nahm dann ihren Arm.

»Frau Maria, ich möchte morgen gern über den See laufen, weit und lange. Ich glaube, es wird mir gut tun. Herr Bender sagt, ich sei sehr fleißig gewesen.«

»Gewiß, Harro, aber du mußt vorsichtig sein. Und nicht auf den Schwarzen Fluß laufen.«

»Ach, Mutter, wo ist der Schwarze Fluß?« Und er fiel wieder in trübe Gedanken.

»Nun kommt hinein, Kinder; es wird dunkel, und Onkel Felix wird uns vermissen.«

»O, Tante Magda läßt sich von der Liebe in Sehnsucht erzählen, Mama, da langweilt er sich nicht.«

»Von der Liebe in Sehnsucht?«

»Ja, das ist eine fixe Idee von ihm, und das ist sehr interessant. Neuland, weißt du.« Und sie lächelte bitter. Frau Maria schüttelte schweigend den Kopf.

Als sie zum Kamin traten, sah Magda prüfend auf. Sie arbeitete an einer Stickerei auf dunklem Stoff, von dem ihre Hände sich leuchtend abhoben, und trug ein ausgeschnittenes, loses Kleid. »Im Sommer ...«, dachte sie, unbewußt lächelnd. »Wie schön dies Spiel doch ist ...«

Der See leuchtete zwischen weißen Schonungen. Langsam glitt Harro auf die gläserne Fläche. »Wo die Fische jetzt sein mögen?« dachte er und sah schnell und bang auf die gedämpfte Tiefe zu seinen Füßen. »Am Abend bin ich wieder zurück und sie fragen mich, wie es war, und ich sehe den roten Schein über ihre warme Haut gleiten ... ach, ihr Hände, ihr lieben Hände ...« Und er schob die Pelzkappe aus der Stirn und fuhr in langem Gleiten um die Waldecke.

Zur Linken lag ein Dorf auf schweigender Lichtung, blassen Rauch über niedrigen Hütten und letzte Sonne in blinden Fensterscheiben. Ein Mensch kam aus dem Walde, glitt über die flimmernde Schneefläche und verschwand hinter den Zäunen. Ein Hund bellte, und eine Kinderstimme rief über die kahlen Gärten ein langgezogenes, fremdes Wort, das einsam in den Abend klang.

An fremden Wäldern lief er entlang, über dunkler werdendes Eis. Auf steilem Hang lag ein schweigendes Haus, verloren im Schnee wie ein grauer Stein. Das hielt ihn so, daß er die Schlittschuhe löste und zur Höhe stieg. Die schweren Fichten schienen zu brechen über ihm, und Schnee rieselte in sein Haar, als am westlichen Giebel ein Hund anschlug und der Widerhall drohend von Wäldern zu Wäldern ging. Auf der Bank unter dem tiefen Dach saß ein Mann im kurzen Pelzrock, die bloßen Hände um zwei Wolfshunde gelegt. Er wandte langsam sein hageres Gesicht und sah mit grauen, kalten Augen auf Harro, als kehrte sein Blick aus weiten und baumlosen Ebenen zurück. Seine weißblonden Brauen waren fast unsichtbar, nur das Fehlen der trennenden Grenze gegen die Stirn gab seinem Blick das Drohende von Falkenaugen.

Harro blieb stehen. »Ist dies ein Märchenhaus?« fragte er scheu.

»Bist du ein Prinz, der erlösen will?«

»Nein.«

»So komm, setz' dich zu mir. Augen wie deine sind selten geworden auf der Welt ... frierst du?«

»Nein.«

»Wir auch nicht. Wenn die Feuer erloschen sind, gehen wir hinein ... nun erzähle!«

»Das ist gut«, sagte der Mann. »Kinder erziehen, Geld verdienen, Korn säen: alles das ist Spielerei, sinnlos. Aber Geige spielen, das ist gut, tut nicht weh, vergeht und verklingt. Geld kann töten, Kinder können morden, wenn sie groß sind ... aber eine Geige kann nicht morden. Sie klagt, wenn es zu spät ist, aber sie kann nicht morden. Morden kann nur der Mensch.« Und ein bitteres Lächeln, traurig wie Lächeln eines Kindes, flog um sein hartes Gesicht.

Die Feuer erloschen, und nur ein fahler Schein wie von glimmendem Gebälk lag über dem Walde. Der erste Kauz rief, und im Eise schrie es gellend und böse auf. Die Hunde zitterten vor Frost.

Sie gingen ins Haus. Harro sah schwere Bücherschränke und das Bild einer Frau an der Wand. Die Hunde legten sich in den Flammenschein des Ofens. Als sie saßen, sah Harro erschreckt auf des Mannes graues, fast weißes Haar.

»Du wunderst dich? Alle tun es. Ich bin erst vierzig Jahre alt. Haar färbt sich über Nacht wie der Wald im Herbst ... Hier, nimm eine Zigarette. Rauchen, Geigen und Schlafen sind wundervolle Dinge auf dieser Welt. Das hat einer gesagt, der es wissen mußte.«

Ein altes Mädchen trat ein, sah mit traurigen Augen auf Harro, stellte Kaffee auf den Tisch und ging hinaus.

»Nun willst du wissen, wer ich bin«, sagte der Mann und blickte in die Flammen. »Du kannst mich Simplizius nennen. Ich heiße anders, aber Namen sind leer und tot. Die Vögel über dem See und das Wild in den Wäldern, sie haben auch keine Namen ... Weißt du, wer Simplizius war?«

Harro nickte.

»Nun ja ... auch ich bin nur einer unter vielen. Wir haben im Kriege unsren Namen verloren. Wir hatten Nummern auf den Schultern und brauchten keine Namen. Nenne mich Simplizius, und komme wieder mit deiner Geige. Ich habe so lange keine Geige gehört.«

»Weshalb leben Sie hier so verlassen?« fragte Harro, und sein Herz schlug bang.

»Ich lebe nicht, ich sterbe. Als ich lebte, bin ich mit meiner Frau durch die Sommergärten gegangen, wo hinter den Fenstern eine Geige sang. Ich hatte sie nur fünf Jahre. Sie hatte so blaue Augen wie du. Damals habe ich gelebt und Kinder gelehrt, die alle etwas Großes werden wollten, Ärzte und Offiziere, und Minister und Mörder, und ich habe die Sterne geliebt und die Menschen ... Und dann bin ich in den Krieg gezogen und habe gemordet. Was siehst du mich an? Dein Vater hat auch gemordet, wir alle, viele Millionen. Wir sind marschiert und marschiert, und haben gesungen, und dann haben wir gemordet. Wir haben gehungert und gedurstet und gefroren, aber wir haben gemordet. Wir haben zu Gott gebetet und zur Jungfrau Maria, und doch gemordet. Schweigend und schreiend, betend und fluchend, aber wir haben gemordet. Zuerst mit zitternder Hand und wie in Krämpfen, und dann ruhig und lächelnd wie an einer vornehmen Tafel ... immer gemordet. Wir hatten einen Star im Stollen, den lehrten wir pfeifen: ›Großer Gott, wir loben dich!‹, und der Pfarrer hat uns gesagt, daß Gott mit uns kämpfe ... Das hat lange gedauert, drei Jahre oder zehn, ich weiß es nicht mehr. Und die Augen meiner Frau waren immer bei mir, aber sie sind immer größer und starrer geworden, wie von einem wunden Wild, über dem man das Messer hebt ... Und dann ist sie gestorben, einsam, während ich schrie und mordete. Und sie hatte ein Kinderbild von mir in den kalten Händen ...

Und als wir zu Ende gemordet hatten, da hat man den Tisch abgewischt, mit einem nassen Tuch, und wir sind in die Heimat gezogen. Die Fahnen flatterten, und in den Straßen war Musik. Ich aber sah, wie das Pflaster sich hob und öffnete. Die Steine rollten zur Seite, und aus der Tiefe standen sie auf, taumelnd, blutig, die Toten. Und sie stützten einander und griffen mit grünen Händen nach den Steinen, um nicht umzusinken. Auf ihre grauen Gesichter hingen die Fahnen, und ihre Augen sahen blind und glasig auf die einziehenden Kolonnen. Alle aber hatten sie weißes Haar, Kindergesichter und alte Männer, alle, alle. Und Straßen auf und Straßen ab brach das Pflaster auf, und die Toten hoben sich ans Licht. Aber niemand schien sie zu sehen. Räder gingen über ihre Hände, Regen fiel in ihre Wunden ... sie aber sahen mit ihren toten Augen immerzu auf die Kolonnen, immerzu ...

Damals hörte ich auf zu leben, und ich habe mich ins Dickicht verkrochen, weil ich eine unsagbare Angst hatte. Nicht vor dem Tode, sondern vor dem Leben ... Hier aber ist es schön. Die Wolken ziehen über das Haus, und das Wild kommt an mein Fenster. Weit draußen rauscht der dunkle Strom, den ich überschritten habe, und wenn ich mit meinen Hunden in das Abendrot sehe, dann ziehen hinter mir wie Schatten die Masten der Schiffe vorüber, Lichter, Gesang und Stöhnen, eines nach dem andern, in das furchtbare Leben hinein. Ich aber sehe in das Leuchten, das hinter den Wipfeln steht. Und wenn ich tot bin, dann werde ich eins mit der warmen Erde ... das Menschliche ist versunken, der Mörder steht nicht mehr auf ...«

»Ich werde mit Frau Maria kommen«, sagte Harro erschüttert. »Sie kann erlösen.«

Aber Simplizius lächelte nur milde.

Dann fuhr Harro zurück. Kalt hing der Mond über den Fichtenwäldern, und lange stand gegen den blauflimmernden Hang die Gestalt des Simplizius, als sei er, lange gestorben, aus weiten Wäldern gekommen, um noch einmal Menschenlaut zu hören.

Harro aber erschauerte vor dem Rauschen, mit dem das neue Blatt des Lebens vor ihm umschlug. Seine leise pochende Angst, von Sehnsucht getränkt und aus dem Geheimnis des Weibes geboren, fand einen fernen Widerhall an Mauern, die er stumm geglaubt. Leise war er durch einen weiten, dämmernden Saal geglitten, die bangen Augen auf eine lautlos sich öffnende Tür gerichtet. Und während er, die Hände gegen das Herz gedrückt, atemlos vorüberschlich, sprangen auf der andern Seite hallende Riegel, und eine zweite Türe begann sich zu öffnen, gerade so lautlos, so dunkel und unaufhaltsam.

Und wie er über die tote Eisfläche zu Licht und Menschen fuhr, jagte schwarz und lang sein Schatten vor ihm her, als hielte er seinen Körper in nie sich lösenden Klammern und eilte mit ihm, lautlos und unaufhaltsam, dem ferne dämmernden Abgrund des Lebens zu.

Atemlos erreichte er das Schloß, lief durch die dunklen Räume bis zur Bibliothek, kauerte sich neben Frau Maria nieder, faltete seine Hände um ihren Arm und rief, fast aufschreiend:

»O Mutter, Mutter! Daß ich wieder bei dir bin!«

Sie fuhren erschrocken auf, und Frau Maria zog ihn voller Angst an sich: »Mein Kind, was ist geschehen?«

»Ich war bei Simplizius ... im Märchenwald ... o halte mich, Mutter, halte mich ganz fest ...«


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