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4.

Es gab Stunden, in denen Harro still und glücklich bei Herrn Leberecht saß, wenn suchend hier und da eine Seite im Ekkehard umgeschlagen wurde und eine welke Greisenhand freudig beweisend die gefundene Stelle unterstrich.

Aber es gab Stunden, wo wilde Stürme durch seine Seele gingen, wenn er, aus schweren Träumen auffahrend, Maja gesehen hatte. Nicht scharf wie ein Bild des Lebens, sondern mit blassen Zügen, wo nur ein Bruchteil unvergeßlich sich einprägt: ein rotes Kleid mit einer feinen Goldkette, an die ein blauer Vogel sich klammert ... oder einen nackten Arm, der sich langsam um seine Schultern legt, und eine süße, ferne Stimme, die scheu-verwundert wie im zweiten Traume spricht. Und er drückt die Hände über die Augen und verbirgt sich vor dem grauen Morgenlicht.

Aber er kann den Bildern nicht entfliehen, und er sieht die Jungvermählten in demselben grauen Schein der Frühe. Er sieht Majas dunkelumrahmtes Haupt, wie es in den weißen Kissen liegt und mit weit geöffneten Augen in ferne Räume starrt. Und er sieht Herrn Obermeyers blaßbewimperte Lider über den hervorstehenden, schlafenden Augen und seine neugierige Oberlippe über dem zurücktretenden Kinn, und seine fette Hand mit dem Brillanten liegt breit und siegessicher auf der Decke.

Dann erwacht Herr Obermeyer. Er gähnt laut und lange, daß Harro alle seine Zähne sieht, blickt verwirrt umher und stützt sich auf einen Arm, um Maja zu betrachten. »Na, Schatzi,« säuselt er, »gut geschlafen?«

Harro zittert unter der Pein dieser Bilder, aber er wehrt ihnen nicht. Herrn Leberechts Bücherei enthielt alle vier Fakultäten, und auch über die unheilige Fakultät der Liebe stand manches zarte und manches schleierlose Wort in ihr. Heiße Hände schlugen zwischen Traum und Wachen an die Riegel von Harros Seele, und wenn er in den Mondnächten unter den Rohrhalmen auf dem Kahnrande saß, tastete die Tiefe wie mit Händen nach ihm herauf.

Da hob in diesem schwülen, gewitterschweren Sommer, wo seine Seele sich aufrieb und allnächtlich die blauen Schwingen durch seine Träume rauschten, das Schicksal ihn aus seiner bedrückenden Welt.

An einem flimmernden Julimorgen trat Herr Immanuel aus der Tür seines Hauses, knöpfte langsam seinen gelben Staubmantel zu und trat an den Korbwagen, um aufzusteigen. In dem Augenblick aber, als er den Fuß auf den Tritt setzen wollte, widerfuhr ihm etwas Seltsames. Er sah die Welt in rotem, kreisendem Lichte, er vernahm brausende Stimmen, die aus den Baumwipfeln sich auf ihn zu stürzen schienen, seine Beine schienen abzusterben, und während seine Hände vergeblich nach einem Halt griffen, taumelte er und fiel schwer zu Boden, indem er eine Flut gurgelnden Wassers hörte, die ihn langsam, langsam verschlang ...

Als er wieder erwachte, saß er im Wohnzimmer, sah seine Frau aus entsetzten Augen ihn anstarren und hatte einen faden Kognakgeschmack auf der Zunge. Unwillkürlich bewegte er vorsichtig Arme und Beine, und als alle Gelenke zwar müde aber gehorsam ihren alten Dienst versahen, stotterte er unsicher: »Was ... was ... war das ... Brigitte?«

»O Gott,« seufzte sie erschreckt. »Ich glaube, Immanuel, du warst ohnmächtig.«

Er sah sie grübelnd an und sagte dann nach reiflicher Überlegung: »Dumm ... nischt zu machen.«

Harro wurde gerufen und sah prüfend auf seinen Stiefvater. »Also,« sagte dieser, während er vorsichtig seinen Kragen abknöpfte, »du bekommst einen ehrenvollen Auftrag, mein Sohn. Frau von Gontermann im Schloß hat heute Geburtstag. Sie zählt zu meiner allervornehmsten Kundschaft, und ich pflege ihr seit Jahren an diesem Tage ein Schock prima Krebse höchst eigenhändig zu überreichen. Er war mal sehr kulant gegen mich. Die Krebse ißt er übrigens, aber das macht ja nischt. Also, du küßt ihr die Hand und sagst, ich lege mich ihr zu Füßen. Krankheitshalber überlasse ich dies Geschäft Parplies Nachfolger. So, nun fahr' los.« Er legte den Arm um Frau Brigittens Schulter und verschwand im Schlafzimmer.

Als Harro die lange Kastanienallee auf das Schloß zufuhr und aus dunkelgoldnen Schatten in die grelle Sonne des Rasenplatzes vor der breiten Treppe bog, schien ihm das schweigende Schloß wie ein lange bekanntes Haus. Aus hohen Ahornwipfeln schwang sich das schwere Dach empor, und der wilde Wein spann sich bis über die grauen Dachpfannen. Die Treppe lag im Schatten der beiden Linden, und auf der andern Seite rauschten grüne Wipfel in ein vornehmes Schweigen.

Er band das Pferd an einen jungen Eschenstamm im Schatten und ging träumerisch an der Fensterreihe entlang um das Haus herum. Feierliche Stille floß aus den Wipfeln des Parkes über die Wege. Auf der weiten Rasenfläche blühten die Rosen, sonnige Pfade verloren sich in dunklem Gebüsch. In den breit geschwungenen Laubkronen ging ohne Ende ein feines Flüstern, als ob von draußen her suchende Hände an grünen Mauern hin und her strichen, und hoch über dem Garten schien ein unveränderlicher Ton auf- und abschwellend in der blauen Luft zu stehen.

So tief umhüllte ihn nach jahrelanger Last gleichmäßigen, von der lauten Stimme Herrn Immanuels beherrschten Lebens der Zauber fremdartigen Schweigens, daß, als er vom Tisch der Terrasse eine vergessene Geige nahm, es ihm wie ein Verwundern durch den Sinn ging, kein Spinngewebe an den Saiten zu finden. Auf der obersten Treppenstufe sitzend, begann er ein altes Lied aus den Saiten zu zupfen, fast als sitze er, Jahrhunderte zurück, auf alten Steinstufen und spiele zwischen Kommen und Gehen eine klagende Minneweise zu den schweigenden Fenstern hinauf.

Verwundert trat durch die offene Türe ein Knabe an einem Stock auf die Terrasse und ließ sich leise im Korbstuhl nieder, das rechte Bein in den Eisenschienen vorsichtig mit beiden Händen gerade streckend. Dann stützte er die mageren Hände auf seinen Stock und sah regungslos auf Harro.

Dieser, nur tiefer in seiner Welt versinkend, nickte ihm zu, lauschte zärtlich in die Geige hinein und spielte, scheu und schwermütig, nach langer Zeit zum ersten Male das Lied von den blauen Schwingen. Und es schien ihm, als vertropfe der Schmerz jüngsten Erlebens, von den klagenden Tönen neu geweckt, leise verhallend in dem tiefen Schweigen des sonnigen Parkes.

Zögernd trat Frau von Gontermann durch die Tür. Als Harro geendet hatte, sagte der Knabe scheu: »Bitte, spiele das noch einmal.«

Harro setzte wieder den Bogen an, und als er eine Strophe gespielt hatte, sang er halblaut zum Klange der Saiten das Lied von den Kranichen. Dann ließ er die Geige sinken und lehnte den Kopf in das Weinlaub der Treppe. Wie an dem Sommerabend auf der Heide unter Mischas Tönen wurde seine Seele eins mit der aus den Klängen sich formenden Welt, so daß alle Wirklichkeit nur traumhaft erschien und das Wunder menschengleich durch alle Dinge schritt.

»Was war das, mein Kind?« fragte Frau von Gontermann gütig.

Harro schlug die Augen zu ihr auf. »Das Lied von den blauen Schwingen.«

»Welch ein schöner Name!« sagte sie verwirrt.

Er hob die Hand zum dunklen Saum ihres Kleides. »Du müßtest blaue Kleider tragen,« sagte er versonnen, »mit Gold gestickt ... wie die Königsfrauen ...«

Ein feines Rot stieg langsam in ihre Wangen, und sie sah ratlos auf ihren Sohn, dessen vergrämtes Gesicht leuchtete.

»Wer bist du?« fragte sie, leise sein Haar streichelnd.

»Ich bin Harro Bruckner. Mein Vater ist tot, er kam nicht mehr zurück aus dem Kriege. Jetzt habe ich einen Stiefvater ...«

In diesem Augenblick kamen schnelle Schritte durch das Zimmer, und Herr von Gontermann trat in den Sonnenschein der Terrasse, blieb in Verblüffung stehen, drückte das Einglas ins Auge und sah eine Weile schweigend auf das seltsame Bild. »Nun?« fragte er dann ironisch, »ein neues Blatt der Barmherzigkeit?«

Harro sprang auf, warf einen verwirrten Blick auf die Geige in seiner Hand und sagte endlich unter heißem Erröten: »Ich ... ich habe ...«

»Du hast dich verirrt, mein Sohn, nicht wahr?« fiel Herr von Gontermann ein.

»Siegfried!« bat sie leise.

Harro legte Geige und Bogen vorsichtig auf die Treppe, sah furchtlos auf Herrn von Gontermann und sagte zornig: »Ich habe nur Krebse gebracht für Frau von Gontermann ... von Parplies ...«

»Köstlich dieser Junge ... also Parplies Nachfolger! Wie gefällt dir das, Maria?«

»Mama,« rief der Knabe flehend. »Bitte, er soll bei mir bleiben und das Lied spielen, er soll nicht gehen, hörst du?«

Sie hatte schon den Arm um Harro gelegt. »Siegfried,« sagte sie erregt. »Ich habe jedes Jahr an diesem Tage einen Wunsch frei, du hast es mir versprochen ... ich bitte um dieses Kind, ich will es bei mir behalten.«

»Maria, das ist lächerlich. Willst du ihn zum Pagen ausbilden? Er hat seine Eltern.«

»Du hast ihn nicht gesehen, wie wir ihn gesehen haben. Er ist ein Künstler und er hat keine Liebe. Ich will ihn ausbilden lassen, und Gerhard wird soviel Freude an ihm haben ...«

»Ist das dein Ernst, Maria? Deine Wünsche fangen an, einschneidender Natur zu werden.«

»Wir sind reich genug, und ... wer vom Kriege nur Vorteil gehabt hat, der hat wohl auch die leise Verpflichtung, auszugleichen, nicht?«

»Ach so!« sagte er mit leiser Betonung. »Also ein Opfer an die Götter.«

»Mir ist es kein Opfer,« gab sie ruhig zurück, »viel eher ein Glück.«

»Wie du befiehlst, heilige Maria,« und er küßte ihr die Hand. »Also ... werdet Freunde und Jünger der Barmherzigkeit, Gontermann und Parplies Nachfolger! Eine ganz nette Firma, Herr Harro, nicht?«

Harro sah ihn gerade an mit seinem unverschleierten Blick. »Ich weiß nicht, was Sie meinen, aber in der Barmherzigkeit gibt es keine Firma.«

»Sieh da, nicht übel ... aber noch eins: ich verpflichte mich vorläufig nur auf ein halbes Jahr. Dann wollen wir erst sehen.« Und er nickte mit seinem ironischen Lächeln um die glatten Lippen und ging ins Zimmer. Sie sahen ihm alle drei nach, wie er, den schmalen, grauen Kopf leicht aufrichtend, durch den dunklen Raum ging, gerade, herrisch und ein ganz leises Gefühl von Kälte verbreitend.

Dann saßen sie schweigend auf der obersten Treppenstufe, und Frau von Gontermann blickte mit ihren stillen Augen lange auf Harro, in deren brauner Tiefe es wie von Goldkörnern schimmerte. Und als ob alles Vorhergegangene nicht gewesen wäre, sagte sie: »Willst du bei uns bleiben, Harro?«

Er nahm nur ihre Hand und antwortete: »Ich will dir dienen und gehorsam sein.« Und auf den alten Ring niederblickend, dessen grünes Licht über ihre gelblichblasse Hand schimmerte, setzte er zögernd hinzu: »Wenn ich euch nicht gefunden hätte ... dann würde die ... Tiefe mich genommen haben ...«

Als er mit dem Wagen in die Kastanienallee einbog, stürmte durch die aufgestoßene Türe des Vordereinganges ein Mädchen mit losem Haar auf die Treppe, hielt, um einen der Pfeiler sich drehend, im Laufen inne und rief mit heller Stimme: »Halt! Halt! Wo ist der Page? Ich will sehen, ob er blaue Augen hat ...«

Harro drehte sich um, aber Frau Maria winkte ihm mit ernstem Gesicht zu, und so sah er nur, wie die Mädchengestalt mit ihrem dunklen Haar ihm wie mit einem Schleier nachwinkte und dann hell auflachte.

Seine Eltern kamen nach anfänglicher Bestürzung ziemlich schnell zu einer erfreulichen Betrachtung der veränderten Sachlage. Herr Immanuel, der mit Zahlen rechnete, hatte wenig Hemmungen zu überwinden. Frau Brigitte, von Gefühlen mehr belastet, bedurfte erst einiger Winke ihres Gatten, um sich zu fügen. Es ging ihr wie einem Kinde, das eine unansehnliche Puppe ärgerlich fortwirft, das sich aber löwengleich auf dieselbe Puppe stürzt, wenn es einer Schwester in den Sinn kommen sollte, sich der Entthronten zu erbarmen. »Er macht sein Glück, Gittchen,« sagte Parplies, »unser Renommee hebt sich, und wir sind ungestörter ... wie die Turteltauben, nicht?« Trotzdem ging Frau Brigitte wie eine opfernde Mutter umher.

Als Frau Maria bei ihr im Salon saß, führte sie ihr Taschentuch an die Augen: »Es ist mein einziges Kind, Frau Baronin, und mit tausend Wurzeln in mein Herz gesenkt ... und wir sprechen so oft von meinem seligen Mann, der für Haus und Herd sein Leben gelassen hat ... ach, ein Mutterherz muß viel leiden.«

»Er wird wie ein Kind gehalten werden«, sagte Frau Maria und fröstelte. »Er hat so herrliche Gaben, daß es Sünde wäre, sie nicht auszubilden. Außerdem ist es ja kein fremdes Land, und er bleibt in Ihrer Nähe.«

»Gewiß, gewiß, gnädigste Frau Baronin«, fiel Herr Immanuel ein. »Das ist ein wertvoller Trost, auch für mein Vaterherz. Denn er ist mir ans Herz gewachsen ... Auch geschäftlich ist es ... ein kleiner Schlag. Viel jugendkräftige Hilfe, aber schließlich: was Gott tut, das ist wohlgetan.« Und er faltete die Hände und sah sie an wie ein Altarbild.

Sie fuhren an der Treppe vor und gingen langsam Seite an Seite durch den Garten nach der Terrasse. Herr von Gontermann legte die Zeitschrift auf den Tisch und stand leise lächelnd auf. »Nun, da seid ihr ja ... es freut mich.« Und er reichte Harro seine kühle Hand mit losem Druck.

»Komm«, sagte Frau Maria und nahm seinen Arm. »Ich will dich mit uns allen bekannt machen ... Hier, Gerhard kennst du schon ... dies ist meine Schwägerin, Frau von Lassen ...« Die junge Frau warf einen höflichen Blick auf Harro und neigte ihren Kopf. Da Harro ihr aber seine Hand entgegenstreckte, legte sie mit erstauntem Lächeln ihre Fingerspitzen hinein. Frau von Gontermann errötete, aber sie ging mit der gleichen beherrschenden Ruhe weiter. »Herr von Santen, ein Vetter meines Mannes.« Der Vetter ließ sein Einglas fallen, so daß Harro erschrak, und verbeugte sich. »Sehr erfreut!« sagte er und tauschte mit Frau von Lassen einen übermütigen Blick. »Herr von Gontermann, ein Bruder meines Mannes, Harro.« Die trüben, etwas starren Augen hoben sich überrascht. »Wie hübsch er aussieht, Maria«, sagte er mit höflicher Verbeugung. »Wie ein venetianischer Page.« »Meine Tochter Hedwig.« »Ich sah Sie vormittags«, sagte Harro ernst, aber sie blickte ihn nur hochmütig an. »Fräulein Antoinette Le Blanc, die mich erzogen hat.« » Ah, qu'il est beau, ma chérie!« Und ihre sanften Augen strahlten. Harro war verblüfft. »Auch das wirst du noch lernen«, tröstete Frau Maria lächelnd. »So, und hier ist Herr Dr. Bender, bei dem du soviel lernen wirst.« Sie atmete heimlich ein wenig auf. »Er hat eine klare Stirne, gnädige Frau«, sagte Herr Bender. »Wir werden schon Freunde werden.«

Als der Gong durch das Haus dröhnte und zum Abendessen rief, fuhr Harro erschreckt zusammen. Gerhard lachte. »Sie rufen zum Essen, Harro, damit es alle hören, die im Garten sind oder noch schlafen wie Tante Magda.«

»Wer ist Tante Magda?«

»Frau von Lassen. Sie ist sehr schön, nicht? Ihr Mann ist gefallen, aber ich liebe sie nicht.«

Harro seufzte, als sie langsam die Treppe hinunterstiegen.

Als sie in die große Diele traten, saß Frau von Lassen auf dem niedrigen Sofa und sah gelangweilt auf Hedwig, die vor dem Spiegel neben der Treppe eine Rose in ihr Haar zu stecken versuchte. »Gib es auf, meine Liebe,« sagte Magda, »der blonde Fischerknabe wird auch so von dir träumen.«

»In diesem Alter, teure Tante, schwärmt man für reife Frauen mit der Fülle holder Weiblichkeit.«

»Du bist impertinent, Hedwig. Übrigens hast du für deine Jahre und für dieses heilige Haus eine reichlich freie Ausdrucksweise.«

Das Mädchen kauerte sich neben ihr auf das Sofa. »Ohne Scherz, Tante Magda, wollen wir einen kleinen Feuerbrand in sein Pagenherz werfen? Denke, was für Verwicklungen! Herr von Santen als Othello mit Monokel!« Und sie ließ die schmalen Schultern sinken, zog die Mundwinkel blasiert herunter und ließ die Lider zur Hälfte über die grauen Augen fallen.

»Du bist geschmacklos, Hedwig.«

»Aber du errötest trotzdem!«

»Also bitte, höre jetzt auf!«

Herr von Gontermann trat in die Diele und begleitete Herrn Rosenheimer senior zur Tür.

»Es bleibt also dabei,« sagte er ruhig und putzte sorgfältig mit dem weißen Taschentuch sein Einglas. »Mit einem Prozent können Sie übrigens sehr zufrieden sein.«

Herr Rosenheimer knackte mit den langen Fingern, verbeugte sich tief und ging.

»Nun, Siegfried, wieder verdient?« fragte Magda.

»Ich hoffe«, antwortete er lächelnd.

»Wirklich, für dich war der Krieg auch ein Segen.«

»Gott, meine Liebe, ich war nie sentimental.« Und er ging mit einer leichten Verbeugung ins Speisezimmer.

Die beiden Knaben traten gleichzeitig mit den übrigen in die Diele. Felix von Gontermann steuerte seinen schweren, unsicheren Körper mit Hilfe eines Stockes über den Teppich. Er trug eine Nelke im schwarzen Überrock, und seine frisch rasierten Wangen waren ganz leicht gepudert. »Also, Lorenzo,« sagte er, »und seine trüben Augen blickten Harro freundlich an. »Die Krebse von gestern waren großartig! Delikat!«

»Ich heiße doch nicht Lorenzo, ich heiße doch Harro«, sagte er erstaunt.

»Verzeih ... natürlich, ja natürlich ... weißt du, ich bin manchmal etwas zerstreut ...« Und er sah starr und abwesend auf Herrn von Santen, der eben auf Frau Magda zuging. »Ja, also zu Hause hast du wohl jeden Tag Krebse gegessen, diese schönen, großen, nicht?«

»Ich esse keine Krebse, Herr von Gontermann. Sie fressen Leichen, und das ist widerlich.«

»Nun, nun!« Onkel Felix fuhr erschreckt zurück, und sein sauberes Kinn zitterte noch mehr. »Das ist aber ...«, und er schüttelte unruhig den Kopf.

Frau Maria ging in das Speisezimmer, und Harro trat zu Gerhard. Als er von seinem Platz verwirrt auf die schimmernde Tafel starrte, kam Onkel Felix noch einmal zu ihm heran und flüsterte ihm zu: »Weißt du, Harro, aber mit ganz altem Rheinwein schmecken sie doch ganz gut ... man vergißt dann ... das ... das andre ...« Und er stolperte eilfertig nach seinem Platz.

»Sprich wenig und halte die Augen offen, Harro!« sagte Dr. Bender leise.

»Hast du Nachricht von den Verwandten deines Mannes, Magda?« fragte Frau von Gontermann.

»Ja, ich hatte heute einen Brief von meiner Schwägerin. Sie sind im Gebirge und laden mich ein. Graf Hahn ist auch bei ihnen ... Aber ich mag nicht, ich bin noch zu müde ...« Und sie zog die Schale mit weißen Rosen zu sich heran und drückte ihr Gesicht in die Blüten.

»Gewiß,« sagte Frau Maria höflich, »du bist uns immer angenehm ... aber verletze dich nicht, sie haben Dornen.«

»Das eben ist so schön an ihnen.« Und sie rieb mit geschlossenen Augen die Wange an den weichen Blüten.

Herr von Santen ließ das Einglas fallen, und Frau Maria spielte nervös mit ihrem Armband.

»Hahn, gnädigste Kusine?« fragte Onkel Felix und hob die traurigen Augen. »Hahn? ... Ist das Alex Hahn, der so kolossal viel Austern essen konnte? Er war berühmt deswegen?«

»Er heißt, soviel ich weiß, Fritz, Onkel Felix, und ich kann dir wirklich nicht sagen, ob er sehr gerne Austern ißt.«

»Ja, es war kolossal,« sagte er nachdenklich, »ein sehr merkwürdiger Mensch ... aber ich hatte ihn sehr gern ...« Und er sah bekümmert über die Tafel.

»Du hast eine ganze Reihe merkwürdiger Menschen kennen gelernt, Felix«, meinte Herr von Gontermann spöttisch und öffnete seine Zigarettendose. »Ist es erlaubt, Maria?« fragte er, indem er das Streichholz anrieb. Sie nickte zerstreut. »Alle diese Menschen,« fuhr er fort und zog mit halbgeschlossenen Augen den Rauch ein, »die ihr Leben nicht zusammenhalten können ... Austern essen, Gedichte machen, Tänzerinnen heiraten, sich in Monte Carlo erschießen und ähnliche Geschmacklosigkeiten ... unbegreiflich.«

Frau Maria sah nach Harro hinüber. »Nun, weißt du, Siegfried, Austern essen und Gedichte machen, das ist doch wohl ein Unterschied?«

»Gemeinsam ist solchen Leuten, meine Liebe, daß sie zu nichts kommen. Phantasten, des Magens oder der Seele. Leute, die wie der verrückte Treskow mit sechzig Jahren als Kriegsfreiwillige eingetreten sind.«

»Erlaube, lieber Siegfried!« Herr von Santen klemmte sein Glas ins Auge. Da muß ich als Offizier doch ...«

»Gut, gut!« sagte Herr von Gontermann ungeduldig. »Aber mir fehlt der Sinn dafür. Einen Kerl, der dich beleidigt hat, mit der Pistole abschießen, das hat Sinn und kann sogar Spaß machen. Aber im Artilleriefeuer liegen und sich von einem Splitter den Arm abreißen lassen ... ich verstehe es nicht.«

»Das kann wohl nur der ganz verstehen, der es erlebt hat«, sagte Frau Maria und schob mit zitternder Hand ihr Weinglas zurück.

Frau Magda schloß die Augen und lächelte. »Das einzige sind die Flieger ... die sind wenigstens interessant.«

»Die Leute mit den blauen Schwingen«, schloß Herr von Gontermann ironisch ab.

Frau Maria hob die Tafel auf und ging um den Tisch herum zu Harro. »Wirst du uns jetzt etwas spielen, Kind?«

»Ja,« sagte er bedrückt, »nur nicht unser Lied.«

Im Musiksaal leuchtete der schwarze Flügel feierlich im Schein der beiden Kerzen. Alles andre blieb im Dämmerlicht. Frau von Gontermann saß in der dunkelsten Ecke, Gerhard neben ihr.

»Bist du plötzlich musikalisch geworden, Tante Magda?« fragte Hedwig höflich.

»Wenn die Rosen blühen, ist jeder Mensch musikalisch, meine Liebe. Das wirst du später noch selbst erfahren.«

Harro trat hinter Herrn Bender und hob den Bogen. » Ah, qu'il est beau, madame!« flüsterte Mademoiselle. » Un vrai ange.« Und sie kauerte ihre kleine, dunkle Gestalt fröstelnd in den Sessel und faltete die blassen Hände. Die andern saßen auf der Terrasse.

Harro spielte ein Konzert von Mozart. Die blauen Vorhänge wehten auf und nieder. Die Geige sang wie dunkle Menschenstimme, und flüsternd sagte Gerhard mit einem traurigen Lächeln in dem alten Gesicht: »Ich glaube, Mama, er wird jung sterben ...«

Als Harro den Bogen sinken ließ, schloß Bender ihn in seine Arme. »In zehn Jahren, gnädige Frau ... wenn ich etwas davon verstehe ... in zehn Jahren wird er die Welt bezwingen.«

Frau Maria sah mit ihrem stillen Lächeln zu ihm auf.

»Du spielst jeden Ton in meinem Herzen, Harro, und jeder Ton ist so rein wie deine Augen ... und jetzt spiel' uns noch etwas allein, ja?«

Er sah auf ihren braunen Scheitel und lächelte mühsam.

»Ich werde Mischas Lieder spielen, Frau Maria«, sagte er.

Er lehnte den Rücken gegen den Flügel, und die flackernden Kerzen warfen einen unruhigen Schein über seine Züge, daß sein Gesicht von weitem herbe und alt aussah.

Er spielte Mischas Lieder anders als vor drei Jahren. Der Sturm war drohender, und die Wolken waren schwerer. Schon hatte das Leid jener Frühlingsnacht verborgene Tore leise geöffnet, und die Geige sang ergreifender, seit echtes Herzblut in roten Tropfen auf den Weg des Lebens gefallen war. Und sehnsüchtig hoben sich hohe Flügel über den dämmernden Jugendgarten. Aber die letzte Melodie war dieselbe geblieben, die fallenden Töne, die noch einmal sich bäumten wie unter erstickenden Tüchern, und dann sanken und vergingen. Und so unentrinnbar war ihre Klage, daß das Gespräch auf der Terrasse verstummte und nur die blauen Vorhänge sich leise rauschend bewegten.

Frau Magda drückte sich tiefer in ihren Sitz, und ihre Mundwinkel zitterten wie bei einem Spieler, der die entscheidende Karte aufdecken sieht.

» Mon Dieu, quelle passion étonnante!« seufzte Mademoiselle.

Frau Magda schrak zusammen. » Un ange avec des passions, ma chérie,« sagte sie und lächelte gedankenlos.

Dann traten sie schweigend auf die Terrasse.

Weiß und mondlos lag die Nacht über den Wipfeln des Parkes. Die Rosen leuchteten noch im Dunklen, und hin und wieder ging ein feines Rauschen durch die Kronen.

»Es wetterleuchtet«, sagte eine flüsternde Stimme. Man wußte nicht, wer es war.

Ein irrendes Licht flog über den Garten, bläulich und unirdisch. Es tastete lautlos über blasse Gesichter, glitt über die weiße Mauer des Schlosses und verschwand.

»Horch!« sagte dieselbe Stimme.

Es murrte leise auf, irgendwo hinter den Wäldern. Und ein schwüler Atem glitt über den Garten, wie von einem dunklen Tier, das die Vorderpranken auf die ferne Parkmauer legte und mit grünen Augen auf das Schloß sah, lange und regungslos.

»Eine merkwürdige Melodie, Harro«, sagte Onkel Felix nachdenklich und sah mit traurigen Augen in den Park. »Pückler, mit dem ich studierte, erschoß sich wegen einer solchen Melodie ... sie war ganz ähnlich ... es war auch eine Zigeunerkapelle, und er wollte von der Geigerin erfahren, was die Melodie bedeute ... sie konnte es ihm nicht sagen, und da erschoß er sich, im Café ... er war im Frack, und in dem weißen Hemd war ein ganz kleines Loch mit verbrannten Rändern ...«

»Onkel Felix!« bat Frau Maria leise.

»Ja, es war sehr merkwürdig, Maria,« sagte er bekümmert und ließ den Kopf sinken, »eine kuriose Melodie ... und nur diese paar Töne ...«

Es wetterleuchtete wieder. Das dunkle Tier hob sich höher über die Mauer.

»Was tatest du sonst um diese Zeit, Harro?« fragte Frau Maria.

Er stützte den Kopf in die Hände und blickte in den Park. »Ich saß am Ufer,« sagte er leise, »und sah in das Wasser. Man kann die ganze Nacht so sitzen. Wenn es wetterleuchtet, wird das Wasser noch einmal so tief. Es leuchtet wie eine Gruft. Und die Nachtvögel rufen, traurig, als wenn sie nicht erlöst wären ... Und dann wandern die Fische ... das ist so seltsam ... sie kommen herauf aus dem dunklen Kraut und stehen ohne Regung in der schwarzen Flut. Und wenn das blaue Licht über das Wasser geht, dann wandern sie, glatt und leise, wie die Schatten. Zuerst allein, über das Kraut, zwischen den Algen, dann in die Buchten, wo das Rohr spricht ... da reichen die Stengel der Seerosen auf den Grund. Da gleiten die Fische vorbei, und wenn einer ertrunken ist, dann liegt er dort unten, und das blaue Licht scheint in seine offenen Augen ... Und sie wandern und wandern, jetzt schon viele, und wenn die Tiefe leuchtet, schrecken sie zusammen ... So kommen sie ins Netz. Da stehen sie ganz still und stoßen mit einem Mal wie wahnsinnig in das Garn, daß die Blasen bis nach oben steigen ... und stehen wieder still, bis zum Morgen, mit seinem traurigen Licht ... Und ich habe gedacht, daß wir auch so wandern müssen, in der Tiefe, wenn es oben leuchtet ... immer hin und her ... unser ganzes Leben lang ...«

Frau Maria weinte lautlos. Niemand sprach ein Wort. Die Wipfel rauschten auf, urplötzlich, in mächtigem Brausen, durch den ganzen weiten Park. Und verstummten schnell wie auf unhörbaren Befehl. Das dunkle Tier lag schwer auf der Mauer.

Sie standen auf und gingen ins Haus. Nur Onkel Felix wartete noch auf seinen Diener und horchte in den Park hinaus. Er nahm gedankenlos die verwelkte Nelke aus dem Knopfloch, hob sie mit der zitternden Hand an sein Gesicht und ließ sie fallen.

»Eine merkwürdige Melodie«, sagte er leise und zerstreut.


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