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2.

Still und flammend stand der Herbst um die Seen. Alle dunklen Waldwege waren Brücken zwischen Feuermeeren. Weißbuchenäste vergoldeten den Fichtenwald, und auf einsamer Lichtung brannte die rote Fackel des Ahorns. Nur der Kranich rief aus verschleiertem Blau, und von den Ablagen rollten die letzten Stämme hinab. Verklang dann das Holpern der Rückerwagen und der weite Widerhall in blauer Dämmerung, dann schärften sich fremdartig alle Linien des Horizontes, und die jungen Birken standen als Wächter, goldgerüstet, vor dem dunkelnden Dom. Sehr weit war die Welt, hallend wie ein leeres Haus.

Harro schloß die Tür seiner Hütte und blickte erschrocken über das leuchtende Land. So überfiel ihn Farbe und Glut und Kranichschrei. Und er lauschte, ob die Geige nicht klänge in dem Kasten, den er in der Hand hielt. Dann verabschiedete er sich von seiner Mutter. »Sei hübsch artig«, sagte Frau Brigitte, »und gieß' den Kaffee nicht um, und iß nicht zu viel, denn das kann sie nicht leiden.«

Herr Immanuel kam pfeifend im Alltagsgewand vom See herauf. »Ah, Harro, der Geigerkönig!« meinte er gemütlich, indem er ihn von der Seite betrachtete. »Was wird der Junge mal für ein Herbarium haben!« dachte er seufzend. »Du, Harro,« sagte er dann, »im Kahn liegen Fische für Frau Ruhoff. Die gib ihr ab und bestelle Grüße von Haus zu Haus.«

Harro nickte und ging zu den Booten. Langsam ruderte er nach dem Schwarzen Fluß. Sein Herz war ihm leicht. Der Krebsfang war zu Ende, und der Stiefvater hielt einen Gehilfen. Noch immer war er im Morgennebel auf dem Wasser und warf vor Abend die Stellnetze aus, aber die Glieder waren nicht mehr so dumpf und schwer, und es blieb Zeit, aus Herrn Ruhoffs Büchern in sich zu reißen, was von dem großen Rätsel sprach.

Der Kahn glitt langsam in die Rohrkämpe, über denen der Blick nur den Himmel fand. Dann wurde das Wasser dunkler, und hinter der letzten Rohrwand trieb mit leise ziehenden Wirbeln der Schwarze Fluß in die Tiefe des düsteren Fichtenwaldes. Harro zog die Ruder ein und ließ das Boot treiben. Wie ein feiner Spiegel empfing seine Seele die veränderte Landschaft. Blutbuchen leuchteten auf den Hängen, und unter müdem Wind verstreute der Wald das langsam fallende Laub. Der Häher rief, und die dunkle Straße floß wie durch eine gestorbene Stadt. »Hier müßten alle Toten einmal einziehen,« dachte Herro, »und auf den beiden dunklen Saiten müßte eine Geige klingen ... und mein Vater würde einen Stern über seiner Wunde tragen ...«

In der Birke, die über der Strömung hing und unter deren schwimmenden Asien das Boot hindurch mußte, lachte es leise auf. »Harro,« rief es, »nimm mich mit, du Märchenprinz!« Und ehe er antworten konnte, saß sie im Kahn, eine Wildnis von leuchtenden Zweigen im Arm.

»Wie wild du bist, Maja,« sagte er nur.

Sie strich ihr rotes Kleid über die Füße und begann aus Vogelbeerbüscheln einen Kranz zu flechten. »Weißt du, wie lange ich fort bin?« fragte sie strahlend. »Seit Mittag! Vater schmökert im Ekkehard, dem Meister aller Meister, und bei Mutter war wieder Sturm. Zwei Goldreinetten waren gemaust. Aber ich, an der Ablage war ich, in den Brüchen, auf dem Signal! Die Reiherinsel hab' ich gesehen, Eichkatzen hab' ich gejagt, die ebenso erstaunte Augen machen wie mein lieber Harro ... ach ihr, ihr ... weshalb kann ich nicht fliegen?« Und sie hob die Arme mit dem roten Laub und ließ sie mit tiefem Seufzer sinken.

»Du, Maja,« sagte er nach einer Weile leise, »du müßtest einen Purpurmantel tragen ...«

»Ach Harro, Harro,« erwiderte sie leise und sah ihn nachdenklich an, »es gibt doch keine Märchen mehr ...« Und sie ließ die abgefallenen Vogelbeeren durch die Finger gleiten.

Als der Kranz fertig war, sah sie prüfend auf Harro. Dann kam sie mit ernstem Gesicht durch den schwankenden Kahn auf ihn zu, kniete neben ihm nieder und drückte ihm den Kranz über die Schläfen. Dann legte sie ihre Arme auf seine Knie und blickte lange und forschend über Kranz und Augen. Und als er, erblassend und schwer atmend, versuchte, die roten Trauben aus seinem Haar zu nehmen, hielt sie seine Hände fest und sagte mit veränderter Stimme: »Wenn du mich ein klein bißchen lieb hast, Harro, dann nimm ihn nicht fort.« Dann ging sie zurück, flocht sich Blutbuchenlaub ins Haar und blieb den Rest der Fahrt schweigsam.

Langsam lichtete sich der Wald. Frische Schollen glänzten zwischen Stoppelfeldern, und hinter der nächsten Biegung lag das Dorf auf der Uferhöhe, Frieden fallenden Laubes über den Rohrdächern, Astern hinter allen Zäunen und jene weite Stille, die nur Kinderruf aus reifenden Apfelbäumen kennt.

Vor der Weinlaube hinter dem Bootsstege saß Herr Leberecht Ruhoff in seinem blauen, bis auf die Knie fallenden Rock, die Hände über dem Stock gefaltet, während der leise Uferwind in seinem langen, grauen Haar spielte.

Maja warf mit beiden Armen Laub und Äste in die Flut, setzte den linken Fuß auf den Kahnrand und sang nach einer ihrer unzähligen eigenen Melodien:

»Sie kommen angefahren,
Dein Sohn mit Schwert und Schild,
In sonnenhellen Haaren
Dein Töchterlein Gunild.«

Herr Ruhoff sprang auf mit der eigentümlichen Unsicherheit der Alternden und Kurzsichtigen, rückte die Brille zurecht und kam eilend an den Steg. »Meine Kinder, meine Kinder!« sagte er mit seiner hohen, feinen Stimme, als der Kiel an die Bretter stieß.

»Vater,« sagte Maja zärtlich, indem sie die Arme um seinen Hals legte und den Kopf rückwärts nach Harro wandte, »sieht er nicht aus wie ein Königssohn?«

»Ja, mein Kind, aber du mußt ihm eine Harfe geben. kein Schwert.«

Harro sprang errötend aus dem Kahn. »Guten Tag, Onkel Leberecht ... es ist alles so schön heute ...«

Als sie den Steg verließen, nahm Harro die Fische aus dem Boot. »Harro,« sagte Herr Ruhoff strahlend, »das ist das große Los! Sie war heute wieder problematisch,« setzte er geheimnisvoll hinzu, und hundert kleine Fältchen stahlen sich unter der Brille hervor. »Zwei Goldreinetten, Baum 1 b im a-Ouadrat. Es war sehr böse. Aber jetzt mußt du vorangehen.«

Harro trat tapfer auf die große Frau zu, die in der offenen Hauslaube stand und sich mit beiden Händen ihr glattgekämmtes Haar noch straffer zurückstrich. Herr Leberecht stieß etwas unvermutet seinen Stock in einen Maulwurfshügel und hob warnend seinen Zeigefinger gegen Maja.

»Guten Tag, Frau Lehrer,« sagte Harro leise und schlug seine Augen voll zu ihr auf. »Die Eltern lassen grüßen, und ... mein Stiefvater schickt diese Fische, und ... ich habe mich so gefreut, daß ich kommen durfte.«

Frau Ruhoff sah ihm starr in die Augen, strich ihm mit einer scheuen Handbewegung das Haar aus der Stirne, und während sie mit einem leise gebrochenen Klang in der Stimme sagte: »Mein Kind, sie sollen dir keine Blutstropfen ins Haar legen,« nahm sie ihm den roten Kranz von den Schläfen und barg ihn in ihrer Schürze. Dann wurdet: ihre Züge wieder unbewegt, sie nahm ihm wortlos das Netz mit den Fischen ab, und indem sie es wägend hob und senkte, sagte sie spöttisch: »Fünf Pfund! Ist ein starker Mann, der Herr Immanuel. Maja, Tisch decken!«

»Na also!« rief Herr Ruhoff strahlend, ließ sein eingebildetes Wild leben und kam die Stufen herauf.

Sie saßen zu vieren um den Kaffeetisch. Herbert Ruhoff war im Kriege geblieben, vermißt seit einer der Winterschlachten im ersten Jahre. Seine Mutter wartete noch immer auf ihn.

»Jetzt sieht er gar nicht mehr aus wie ein Königssohn,« sagte Maja vorwurfsvoll.

Frau Hella schüttelte ihre kräftige Faust durch das lichte Weinlaub nach dem Gartenzaun, von dem es raschelnd davonstob. »Diebsgesindel!« rief sie mit hallender Stimme. Dann sah sie von ihrer Tochter zu Harro und sagte ruhig: »Unsinn! Pelzmützen sind besser als Königskronen.«

Herr Leberecht war erschrocken zusammengezuckt und hatte seine hellen Augen aufgerissen wie ein Käuzlein vor einer Kerzenflamme. Nun machte er es sich wieder heimlich am Tisch, sah lächelnd von einem zum andern und sagte freundlich: »Immer Theater spielen, Maja! Das Leben ist auch so bunt genug.«

»Ja, weiß Gott!« seufzte seine Frau. Dann saß sie wieder kerzengerade auf ihrem Stuhl, zog Bleistift und Notizbuch aus der Schürzentasche, rechnete ein paar Zahlen zusammen und sah eine Weile nachdenklich über den Fluß. »So,« sagte sie endlich. »Nun soll Harro erzählen, was er jetzt den ganzen Tag treibt. Aber nichts auslassen!« setzte sie streng hinzu. »Ich weiß Bescheid.«

Harro machte ein gehorsames Gesicht, faltete befangen die Hände unter dem Tisch und erzählte. »Vor der Schule muß ich die Stellnetze aufnehmen. Dann ...«

»Halt! Wo stehen sie?«

»Am Moor.«

»Wann stehst du auf?«

»Wenn es hell wird ... Dann hänge ich sie auf und nehme die Fische heraus. Manchmal geht es sehr schnell, manchmal ist es sehr schwer, wenn viele Hechte drin sind. Dann fahre ich zur Schule.«

»Um die Zeit steht meine Tochter auf,« warf Frau Ruhoff ein.

»Wenn ich zurück bin, mache ich die Schularbeiten, spiele eine Stunde Geige und liege an den Reiherbäumen. Dann lege ich die Stellnetze wieder aus und bleibe am Moor. Da steht eine Kiefer am Rande, die hat oben einen bequemen Ast, da sitze ich eine Weile ...«

Er lehnte sich zurück und sah über den Garten. »Dann steht die Sonne über den Blutbuchen,« fuhr er selbstvergessen fort. »Es ist so still wie in der Kirche. Alle sind fort, die häßlich und böse sind. Und ich denke, wie ich groß sein werde und fortgehen und Geige spielen vor vielen Menschen ... Dann geht die Sonne unter, und das Wasser wird schwarz. Und ich möchte eine große Schwester haben, und ich bin wohl etwas traurig, wenn ich so allein bin ...«

Maja hatte regungslos zugehört, die Arme aufgestützt und die linke Wange in ihre Hände geschmiegt. Ihre Oberlippe war leicht gehoben und ließ ihre Zähne durchschimmern, wie immer, wenn sie ihr Äußeres vergaß. »Es ist schade, Harro,« sagte sie, auffahrend und ihre Haarschnecken festerdrückend, »daß du nicht fünf Jahre älter bist ...«

»Geht in den Garten, Kinder,« sagte Frau Hella in Gedanken. »Ich habe zu tun. Harro, du bleibst zum Abendessen.«

Die drei standen gehorsam auf, denn auch Herr Leberecht war gemeint. »Jetzt gehen wir in die Schlaraffei!« rief Maja.

Der Obst- und Wirtschaftsgarten war bei Ruhoffs nach der Hausfrau Angaben in Quadrate geteilt, die auf einer kunstlosen Zeichnung mit Buchstaben benannt waren. Jeder Obstbaum und jedes Gemüsebeet hatte seine Nummer, so daß der rätselvolle Ausspruch: »Baum 1c im b-Quadrat wird einen Scheffel Birnen geben« im Schulhause eine jedem verständliche Sprache war. Frau Hella behauptete, Ausgaben und Erträge ließen sich so viel leichter berechnen und vergleichen. Alles andre hieß bei ihr die »Schlaraffei«.

Dort war Herrn Leberechts Reich, Blumen, Lauben, Ziersträucher und Weißdornhecken, in denen die Vögel nisteten. Dort ging der Garten langsam in den Wald über. »Hier brauche ich nur am Sonntagmorgen hinaufzusteigen,« sagte Herr Leberecht, »und das göttliche Wesen, das in allen Dingen ist, steht schon am Waldessaum und reicht mir die Hand.« Hier oben stand unter den schweren Laubmassen zweier großer Kastanien die Gedächtnisbank, und von hier sah man den schwarzen Spiegel des Flusses, einen schmalen Seestreifen und das Rund der schweren Wälder.

Hier saß Herr Leberecht oft und lange, geschirmt vom Dache der Kastanien, eingefriedet von den dichten Weißdornhecken, immer etwas ängstlich nach dem Leben lauschend, das draußen gefährlich nahe vorüberzog. Lange Zeit war er so töricht gewesen, seine zahlreichen Wünsche und Träume für ebenso berechtigt zu halten wie die seiner Umwelt. Und obwohl diese ihm sehr bald bedeutete, daß bei der Zartheit seines Körpers und seiner Seele ein solches Unterfangen vergeblich, ja vermessen sei, so hatte es doch einer langen Reihe von Erfahrungen bedurft, bis er dahin kam, ihr recht zu geben. Die gesunden Leute pflegten ihn einen Idealisten zu nennen, wenn sie gut gelaunt waren, und einen Idioten, wenn sie es nicht waren. Somit hatte er die erste Jugend schon lange hinter sich, als er aus dem Wettlauf ausschied und weniger begangene Pfade des Daseins zu wandeln begann. Doch war ihm aus jenen atemlosen Tagen jene Art des äußeren und inneren Schreitens verblieben, die nur innerhalb seiner Weißdornhecken weder auffallend noch störend wirkte. Er kannte keine politischen Parteien, er konnte nicht Skat spielen noch Reden über die Notwendigkeit der Zulassung zum Universitätsstudium halten; er war weder dazu zu bringen, sich in alternde Töchter von Ortsschulinspektoren zu verlieben noch die pädagogische und theologische Weisheit ihrer Väter ohne Vorbehalt anzuerkennen. Und so tat man an vorgesetzter Stelle das beste, was man mit ihm tun konnte: man schickte ihn mit den freundlichsten Wünschen in eines jener zahlreichen sehr ostelbischen Walddörfer, wo noch einigermaßen Platz war für Idealisten, wo etliches Korn ihres Geistes, das sie durchaus säen wollten, auf dürres Land fiel, wo aber Befremden und Ärgernis, das sie gelegentlich erregten, auf engere Kreise beschränkt blieb.

Hier pflanzte er seine Weißdornhecken, versenkte sich in die trostvollen Geheimnisse Meister Ekkehards und saß oft mit über dem Stock gefalteten Händen auf der Kastanienbank. Und hier erfüllte sich ein erstes Wunder seines suchenden Lebens, indem ihm Hella lächelnd-erstaunt ihr Jawort gab, ohne daß ein andrer ihm zuvorgekommen war, nachdem man allerdings ihn rechtzeitig und eindringlich ermahnt hatte, daß es höchste Zeit für ihn sei. Und da sie in ihrer lebenserprobten Art von Stund an die Zügel ihres bescheidenen Wägleins in ihre festen Hände nahm, so kamen für ihn wohl noch alljährlich ein paar holpernde und beklemmende Wegstrecken, etwa, wenn der neue Schülerjahrgang in den Schulpausen der ersten Tage ein leises Liedlein von Kleberecht und Weberknecht summte, oder wenn er auf einem unaufschiebbaren Gang durch die Dorfstraße sich beim Grüßen verkannte und dann verlegen an der bereits erfaßten Hutkrempe herumwischte: aber im allgemeinen waren die Stürme der Jugend für ihn vorbei, und das Schifflein des Lebens glitt mit leicht gewölbtem Segel zwischen freundlichen Uferhängen friedenvoll in die Abendröte hinein.

»Ich wünsche dir nichts, Harro,« sagte Herr Leberecht, »als daß du im Alter solch eine Bank dein eigen nennen könntest. Hier habe ich gesessen, als ich meinen Einzug in dies Haus gehalten habe. Fünfunddreißig Jahre war ich alt, und ich hatte Angst vor den Schuljungens. Hier habe ich die Kinder auf meinen Knien geschaukelt und Herbert nachgesehen, als er in den Krieg gegangen ist. Immer hatte ich etwas Angst, aber nun ist das alles gut. Wenn man jung ist, Harro, will man so viel vom Leben, aber wenn man alt ist, dann ist man so zufrieden, daß man eine Bank hat, von der man weit über die Wälder sehen kann.«

»Ach Vater,« sagte Maja leidenschaftlich, »aber Harro und ich, wir sind jung, und wir wollen Kränze im Haar tragen! Hier ist alles so still und schön, und man meint schon, man ist alt. Aber dann kommt der Winter, der viele Schnee und die weißen Wälder, und dann liest du im Ekkehard, und Mutter strickt und denkt an Herbert. Und die Uhr tickt, immerzu und immerzu. Dann möchte ich so weinen. Menschen gibt es und Wagen und Musik, aber hier ist alles so dunkel und so still. Im Saal möchte ich mit Harro stehen ... weiße Rosen fliegen ... das Konzert, das große Konzert ... und wir kommen wieder zu dir, berühmt und schön ... und dann haben wir auch unsre Bank ... aber jetzt ...« Sie schluchzte wild und verzweifelt an ihres Vaters Schulter.

»Kind, Kind!« sagte Herr Leberecht ratlos und strich ihr über das Haar. »Du darfst nicht soviel vom Leben erwarten. Es handelt nicht nach dem Worte: ›Gib denen, die sich sehnen‹. Wenn es nicht will, dann gibt es nicht, und wenn du auf Knien liegst. Und mit den Menschen ... ach, Maja, es ist auch nicht viel mit ihnen. Sie geben auch nicht gern, weder Apfel noch Liebe, noch Ehren und Stellen. Ich bin immer zu langsam gegangen; ich kam nie als erster an. Dann hatten sie das Beste schon fortgenommen und Wege und Blumen zertreten. Aber ein Stückchen Schönheit blieb doch immer übrig, weil keiner es mehr haben wollte. Und es war nicht immer das schlechteste ... Ich glaube beinahe, es gibt kein größeres Glück, als von den Menschen in Ruhe gelassen zu werden ...«

»Aber es gibt auch Sterne,« sagte Maja leise, »so viel Sterne ...«

Dann schwiegen sie. Stärker wurde der welkende Duft der Kartoffelfelder, und leuchtender hob sich das Laub der Kastanien über die niedrigen Rohrdächer. Auf das Dunkel des Schwarzen Flusses legte sich, als die Sonne in eine ferne Waldlücke trat, ein schräger Strahl gleich einer goldenen Brücke, und langsam glitt, mit Laub beladen, ein grauer Kahn unter ihr hindurch, aufbrennend und gleich danach in aufsteigenden Nebeln versinkend. Und eine müde Frauenstimme sang, deutlich vernehmbar, über das ziehende Wasser:

Wozu soll ich denn warten,
Wo ich so müde bin?
Verödet ist mein Garten,
Ich weine vor mich hin.
Der Tag ist mir vergangen,
Jetzt kommt das Abendrot.
In der Heimat, ja in der Heimat ...
Mein Liebster, der ist tot.
Wozu soll ich denn warten,
Die Augen fallen mir zu.
Es blüht ein Gottesgarten,
Da komm auch ich zur Ruh.

Wortlos ging Maja ins Haus.

Als Frau Hella heraufkam, um zum Essen zu rufen, dunkelte es bereits. Ein paar Minuten saß sie streng und gerade neben Harro auf der Bank, die Hände im Schoße faltend, und blickte ins Abendrot. Und während Herr Leberecht noch eilig und sorgsam einige Astern schnitt, sagte sie müde: »Harro ... ob er noch wiederkommt?«

Das Kind legte schüchtern seine weiche Hand auf ihre gefalteten Hände und flüsterte: »Nein, Frau Hella, jetzt kommt keiner mehr wieder ...«

Dann gingen sie alle ins Haus.

Nach dem Essen zündete Maja die Lichte auf den Notenpulten an. Herr Leberecht saß aufrecht in seinem Armstuhl, die Geige auf das linke Knie gestützt, rückte die Brille zurecht und sah dann ernst über ihre Ränder zu Harro auf, der die Geige schon unters Kinn drückte. Und dann hob Herr Leberecht langsam den Bogen, schlug feierlich den Takt vor, und der Gesang der Geigen floß, unaufhaltsam wie ein leuchtender Strom, in den halbdunklen Raum.

Frau Hella saß unbeweglich neben der Lampe, nur ihre Hände mit dem Strickzeug bewegten sich lautlos über dem schwarzen Kleide. Und wenn die Geigen dringlicher riefen, ließ sie mit einem leisen Seufzer die Arbeit sinken und sah die Spieler an. Aber ihr Blick ging durch sie hindurch, und ihre Züge spannten sich, als ob von weit her eine Stimme nach ihr verlangte, eine fremde und seltsame Stimme mit einem leise verwehenden Klagelaut.

Maja kauerte auf dem Ruhebett, die Füße hinaufgezogen und die zerschrammten Hände um die Knie gefaltet. Ihr Kopf lag unbeweglich an der grünen Tapete, und ihre dunklen Augen hingen regungslos an den auf- und niederstreichenden, schimmernden Bogen. Und während ihr Körper, ihrem Bewußtsein entrückt, unter einem schmerzlich-fallenden Gang der Geigen erschauerte, sah sie durch die Wände hindurch die junge Frau im Kahne und hörte die Worte des Liedes in die Klänge sich fügen: »Wozu soll ich denn warten ... wozu soll ich denn warten?« Und ihre Augen füllten sich ganz langsam mit Tränen.

Als die Uhr neunmal schlug, legte Frau Hella das Strickzeug zusammen, stach die Nadel durch das Knäuel und sagte: »Es ist Zeit, Harro. Der Mond ist schon hoch.«

Herr Leberecht spannte den Bogen ab, und Harro seufzte. »Das Lied, Mutter,« sagte Maja. »Das Lied von den blauen Schwingen! Sonst ist der Abend gar nichts.«

Frau Hella seufzte nur, aber sie widersprach nicht.

Das Lied war ein ukrainisches Volkslied und stammte von Mischa. Harro hatte es für zwei Geigen gesetzt. Als sie die Bogen ansetzten, sprang Maja auf und löschte die Lampe, schmiegte schnell ihre Wange an das erzürnte Gesicht ihrer Mutter und nahm dann wieder ihren alten Platz ein.

Langsam und feierlich strichen die Bogen über die Saiten. Und die slawische Weise hob sich klagend und weinend wie die Weisen alter, geknechteter Völker, in denen schwere Last wie leises Kettengeklirr durch die Steppen der Verbannung zieht, hob sich höher und höher auf abendrote Hügel, breitete die Arme in wilder Klage und sank und sank, von Stufe zu Stufe, und endete mit pochenden Rhythmen der Trauermärsche.

Dann fiel leise Majas Stimme ein.

        »Siehst du, mein Bruder,
        Siehst du, mein Freund,
Fliegen die Kraniche in einer blauen Kette dahin?
    Schreien »Kruh ... kruh ... kruh ...

        In der Fremde
        Werde ich sterben.
    Bevor ich noch das Meer überfliege,
    Nutze ich meine Flügel ab ...«
        Siehst du, mein Bruder,
        Siehst du, mein Freund,
Fliegen die Kraniche in einer blauen Kette dahin?
    Schreien »Kruh ... kruh ... kruh ...

    Es flimmert mir vor den Augen
        Der endlose Weg ...«
    Es verschwindet, es verschwindet
        Im blauen Äther
        Die Spur der Kraniche ...
    Und immer: »Kruh ... kruh ... kruh ...«
    Immer: »Kruh ... kruh ... kruh ...«

Auf ihrem dunklen Platz, alle Gegenwärtigkeit verlierend, gab Maja ihre Seele den Klängen hin. Ihr Kopf sank noch weiter hintenüber, ihre Schultern zogen sich hoch, und während ihre Oberarme sich fest an den Körper legten, hob sie, getragen vom Zwang des Erlebens, ihre gefalteten Hände vor die Brust, wie erstarrend im immer gleichen Ausdruck des Schmerzes. In diesem Augenblick glitt durch aufrauschende Blätter das Mondlicht über ihre Hände, und Harro, dessen Bogenstrich stockte, starrte auf sie wie auf eine Erscheinung. Dann rauschte das Laub wieder zusammen, und Frau Hella stand auf. Leise verließ Maja das Zimmer.

Als Harro nach verwirrtem Abschied von den Stufen der Hauslaube in den Garten trat, bebten seine Knie, und er lehnte sich an das Geländer, um nicht umzusinken. Blaues Licht floß über die Beete. Über den Kiefernkronen hing die Scheibe des Mondes, und Stimmen über den Wassern klangen wie aus ziehenden Träumen.

Am Bootsstege saß Maja. Sie wandte sich nicht um. Harro setzte den Geigenkasten auf die Bank und blieb vor ihr stehen. Die Wirbel des Schwarzen Flusses glitten zu ihren Füßen entlang. Alles war ihm wie in schwerem Traum.

»Maja,« sagte er endlich, erschreckend vor seiner fremden Stimme. »Ich glaubte schon, du wolltest mir nicht Gute Nacht sagen ...«

»Harro!« rief sie beschwörend und zog ihn neben sich nieder. »Nicht wahr, wir werden das Meer überfliegen?«

»Wir ... ja wir beide ...,« dachte er sinnlos und erschüttert, indem er ihre Hände streichelte. Und dann drückte er schluchzend seinen Kopf in ihren Schoß, indem er vor ihr niedersank, und flüsterte mit vergehender Stimme: »Maja ... sei meine Schwester ... hab' mich lieb ...«

Und das Mädchen, das ein Kind war, neigte sich mit einer gütigen, frauenhaften Bewegung über ihn und küßte seinen zitternden Mund.

Dann trieb das Boot auf den Fluß hinaus. Bei jedem Ruderschlag brach das dunkle Wasser wie Schollen. Silber quoll zwischen ihnen hervor und verschwand in kreisenden Strudeln. Und aus den Wäldern glitt das Flüstern der Herbstnacht fieberwirr über den Strom, als ob tiefe Sterne an die Baumkronen rührten und Blatt auf Blatt von den Zweigen lösten.


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