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9.

»Mein lieber Harro,« sagte der Professor und hielt seine Hand fest, »Sie sehen wieder miserabel aus. Was ist denn mit Ihnen? Haben Sie noch immer keinen Menschen gefunden?«

»Noch keinen, der mir helfen könnte, Herr Professor. Aber ich habe ja doch meine Geige und Ihre Freundschaft. Man darf nicht unbescheiden sein.«

»Können Sie sich nicht verlieben, Harro? Wie alt sind Sie jetzt?«

»Heute einundzwanzig geworden, Herr Professor.«

»Heute? Mein lieber Harro! Sie wissen, daß ich das Beste von Ihnen erwarte und Ihnen das Beste wünsche. Und wenn es geht, wie ich hoffe, dann haben Sie im nächsten Mai schon die ersten Lorbeeren um Ihre Stirn.«

»Ja, das wäre schön, Herr Professor«, sagte Harro seufzend. »Nicht die Lorbeeren, aber das andre. Arbeiten und ernten ... es wird Zeit.«

»Es ernten nicht viele mit einundzwanzig Jahren, Harro ... aber ich verstehe schon. Nun nochmals alles Gute! Auf Wiedersehen!«

Langsam schlenderte Harro nach seiner Wohnung. Die Gärten in den stillen Vorortstraßen blühten, sparsamer als in der Heimat, aber sie blühten. Gedankenlos blieb er vor einem hohen Gitter stehen, durch das rote Fliederdolden hingen. Er strich sich das Haar aus der Stirn, und der betäubende Duft hob das Vergangene schmerzlich-nahe an sein Bewußtsein. »Wie der Flieder duftet! So schwer und süß ... wie damals ... wie damals ...« Und er neigte in plötzlicher Erschütterung die Stirne gegen das kühle Eisen.

»Also Flieder klemmen, das gibt's hier nich, junges Herrchen!« sagte eine freundlich-mahnende Stimme, und hinter den Stachelbeeren richtete sich der Gärtner auf und stützte sich auf seinen Spaten. »Da macht Sie die Gnädige einen Heidenkrach!«

Harro ging trübe lächelnd weiter. »Nein, nein, ich wollte Ihnen wirklich nichts nehmen«, sagte er entschuldigend.

Die Straßen wurden noch blühender, und er ging träumend durch die flimmernde Sonne. »Wie häßlich die Menschen hier sind,« dachte er seufzend, »und wie sie gehen ... Jetzt fliegen meine schlanken Reiher über das blaue Wasser, und durch die Birken ziehen die Rehe ... und wie feucht und dunkel sind der Tiere Augen ...« Dann floß eine Melodie ihm zu, und er stand eine Weile, selbstvergessen in sich hineinlauschend. Es traf ihn mancher Blick, und er sah ernst in alle Augen, die sich auf ihn richteten, als suche er nach etwas Verlorenem.

»Es ist wenigstens ein Trost,« dachte er schließlich seufzend, »daß Ella einen gesunden Körper hat ... was wissen wir Klugen von der Seele ...?«

Er stieg die schmale Treppe im Gartenhaus in die Höhe und trat in sein Zimmer. Durch die offnen Fenster rauschten die Wipfel des Parkes hinein, und leiser Fliederduft erfüllte auch hier den Raum. Ein Brief von Hause lag auf dem Tisch, und als er auf dem Ruhebett lag, öffnete er ihn langsam. »Mein lieber Harro!« las er in der krausen, zitternden Schrift seiner Mutter. »Wieder naht sich der Tag, an dem ich dir das Leben geschenkt habe, und mein Mutterherz bringt dir zwischen Stolz und Wehmut die innigsten Gratulationen entgegen. Ich bin stolz auf dich, mein Kind, weil du schreibst, daß du bald ein Konzert geben wirst, aber ich bin auch traurig, daß du so weit von uns fort bist. In diesen Tagen wirst du mündig mein Sohn. Vater sagt, daß das ein sehr wichtiger Schritt ist. Ich glaube, du kannst jetzt heiraten, wenn du willst. Aber keine Künstlerin, Harro, sie sind alle unmoralisch, und sie tragen kein Korsett, wenn sie hier auftreten. Vater sagt, du kannst jetzt selbst dein Vermögen verwalten, aber er tut es gerne weiter für dich. Wenn wir sterben, wirst du alles haben, Harro, und ein reicher Mann sein. Wir haben uns redlich gequält.

Es geht mir mit meiner Gesundheit nicht zum besten. Ich habe oft Schwindel, und der Verblichene erscheint mir oft im Traum. Vater meint, es ist vom vielen Essen am Abend, aber es schmeckt mir noch, Gott sei Dank. Sonst habe ich dir wenig zu erzählen. Lea, von Rosenheimers, weißt du, ist gestorben, an ihrer siebenten Geburt. Lina Bumke hat im Winter Zwillinge bekommen. Sie hat einen Oberjäger, der bald Feldwebel wird. Es soll eine sehr gute Partie sein. Sie ist noch dicker geworden. Auf dem Schloß soll soweit alles gesund sein. Fräulein Hedwig wird im Sommer heiraten, einen Grafen, der Millionär ist. Ein sehr vornehmer doppelter Name, aber ich habe ihn vergessen. Er trägt immer ein Glas im Auge. Frau von Santen hat noch immer keine Kinder. Ich glaube, sie schämt sich sehr deshalb. Frau von Gontermann ist viel krank. Und sein Bruder soll bißchen wunderlich sein. Aber das schadet ja nichts, wenn er Dir nur Geld schickt. Ich finde das sehr vornehm von ihm.

Sonst ist alles beim alten. Mit der Fischerei geht es sehr gut, wir können nicht klagen, unberufen. Nun schreib' uns bald, ob du wirklich ein Konzert geben wirst. Tante Paula sagt, sie glaubt das nicht. Heute schimpft sich jeder Künstler. Sie wird immer unausstehlicher. Herzlich grüßt und küßt Dich viele Male Deine liebe Mutter.

N. B. Schreibe mir doch, Harro, ob Du eine Liebste hast, ja? Und sieh Dich mit den Mädchen vor. Die meisten sind krank. Deine Mutter.«

Darunter stand, in flüssiger Schrift, mit ornamentalen Schnörkeln geziert: »Mein lieber Sohn! Auch ich gratuliere Dir herzlich und wünsche Gottes Segen auf Deinen Lebenspfad herab. Er sieht in unser Herz, und wer auf ihn traut, dem wird es wohlergehen.

Dein Vermögen will ich gerne weiterverwalten. Du wirst einmal ein reicher Mann sein. Also verplempere Dich nicht! Dies wünscht Dir aufrichtig Dein treuer Stiefvater Immanuel Parplies.«

Harro ließ den Brief sinken und lächelte traurig. Wie weit, wie weit! »Auf der Reiherinsel, in der Rohrhütte, da möchte ich noch einen Sommer leben«, dachte er. »Wenn die Möven schreien und das Rohr rauscht und die Heide blüht am Moor.« Aber sie standen alle an den Toren der Heimat und scheuchten ihn zurück, alle. Sie ließen ihm seinen Frieden nicht. Nur den Wald wollte er hören, nur eine Nacht lang, das ferne, ruhige, atmende Brausen ...

Nach dem Essen zog er sich um und trat auf die Straße. Am Schmuckplatz bei der ersten Kreuzung sah er Ella auf- und abgehen, während sie mit dem roten Sonnenschirm ein Steinchen kunstvoll vor sich her schleuderte. Er zog tief den Hut vor ihr, und sie nickte ernsthaft. Dann lachte sie leise auf und nahm seine beiden Hände. »Also, Harro, am liebsten möchte ich dich jetzt abküssen! Aber so sehe ich dir nur in deine lieben Augen. Dann weißt du schon alles, ja?«

»Danke, danke, Ella!«

Sie gingen langsam zum Bahnhof. »Weißt du, Harro, ich habe eben daran gedacht, daß du mich jetzt heiraten kannst, wo du mündig geworden bist.«

»So?« fragte er lächelnd.

»Ja. Du wirst es zwar nicht tun, aber es ist doch hübsch, das zu wissen.« Sie warf einen prüfenden Blick in die Spiegelfensterscheibe, an der sie vorbeikamen, und rückte ihren breiten roten Hut eine Kleinigkeit schiefer.

»Es ist sehr anerkennenswert, Ella, daß du immer hübsch gekleidet bist. Nichts ist mir unangenehmer als Unordnung oder Unsauberkeit im Anzug.«

»Siehst du!« sagte sie ruhig. »Und ohne Schulden oder sonstige Extratouren, mein Lieber! Der Rock ist noch aus meinem Einsegnungskleid, und die Bluse trage ich schon das zweite Jahr. Nur Hut, Schirm und das übrige sind Repräsentationsgegenstände, weil ich so einen vornehmen Geigenkünstler zum Liebsten habe. Das Unterzeug natürlich auch.«

»So, so.« Er lächelte beständig, wenn er mit ihr zusammenging, halb gütig, halb ironisch. »Du, hör' mal!« sagte er nach einer Weile und sah sie prüfend von der Seite an. »Bist du nicht etwas sehr luftig angezogen?«

»Wieso? Ich werde nicht frieren.«

»Nein, nicht deshalb.«

Sie sah unbefangen an sich herunter. »Ach so, du meinst ...« Sie errötete leicht. »Es macht dir doch Freude, Harro,« sagte sie leise, »und du sollst dich doch freuen. Dazu bin ich doch auf deiner Welt.«

»Auf meiner Welt ... wie gut du bist, Ella.«

»Na also!«

»Hat dein gestrenger Chef dir auch so ohne weiteres Urlaub gegeben, Ella?«

»Ach, Harro, du bist noch sehr dumm.« Sie lächelte überlegen. »Das mache ich einfach so. Wenn ich einen Brief zu Ende getippt habe, dann verschränke ich die Hände im Nacken, biege mich weit zurück und sage dann sehr sehnsüchtig: ›Herr Blankenburg, ich muß wieder einen Nachmittag in den Wald, sonst werde ich krank.‹ ›Nun ja, ja,‹ sagt er dann ein bißchen unruhig und starrt mich von der Seite wie behext an, ›Sie dürfen ja ... aber ich dürste doch endlich mal mitkommen ...‹ ›Das paßt sich nicht,‹ sage ich ermahnend, ›der Chef mit seinem Tippfräulein. Aber ich danke Ihnen.‹ Und dann lasse ich die Arme herunter, und die Sache ist erledigt. Weißt du, dieses Kamel denkt wirklich noch immer, daß ich sein Verhältnis werden könnte.«

»Du bist köstlich, Ella.«

»Hör' mal, ich glaube, du weißt die Treue nicht ganz zu schätzen, die ich dir halte?«

»Durchaus, mein Liebes, denn ich halte sie dir ebenso.«

»Nun, siehst du!« Und sie hängte sich zärtlich in seinen Arm.

»Fabelhaft elegant bist du, Harro«, sagte sie nach einer Weile.

»Soll ich dich nicht auch ein bißchen neu einkleiden, Ella?«

Sie sah nachdenklich über die Straße. »Nein, Harro, laß nur. Du brauchst dein Geld nötiger.«

»Ein sonderbares Menschenkind bist du, Ella.«

Sie lächelte. »Ich führe eben eine kleine Vorehe, Harro, bevor ich Frau Happek werde. Und dafür brauchst du mich doch nicht zu bezahlen.«

Harro seufzte. »Richtig, Michael Happek! Ich vergesse ihn so oft.«

»Du Harro,« sagte sie plötzlich nachdenklich, »ich glaube, wir sehen aus wie ein richtiges Brautpaar, meinst du nicht?«

»Sicher nicht, Ella. Ich sehe noch viel zu jung aus.«

»Du? Wie ein Meister, der schon drei Opern geschrieben hat, siehst du aus.«

»Ich glaub's aber nicht.«

»Gut!«

In diesem Augenblick trat vor ihnen aus einem Blumenladen ein sehr sorgfältig gekleideter junger Herr und roch errötend an einem in weißes Seidenpapier gewickelten Fliederast.

»Bitte, einen Augenblick, Harro.« Ella ließ seinen Arm los und neigte flüchtig den roten Hut vor dem Fremden. »Verzeihen Sie, mein Herr. Es handelt sich um eine Wette. Halten Sie uns beide hier für ein Brautpaar oder nicht?«

Der maßlos Verblüffte errötete tiefer, hob den Hut, setzte ihn schnell wieder auf und öffnete den Mund.

»Vielleicht ist er taubstumm?« sagte Ella teilnehmend zu Harro.

»Verzeihen Sie, nein ... im Gegenteil ... das ist ein Irrtum ... ich bin nur kolossal erstaunt ... Aber sicherlich sind ... sind die Herrschaften ... ein Brautpaar. Natürlich! Effektiv!« Und er preßte das Seidenpapier zu unkenntlichen Formen.

»Siehst du!« sagte Ella freundlich, neigte gemessen ihr Haupt und schritt mit Harro weiter.

»Na du! Hör' mal!« brachte er endlich hervor.

»Bitte? Du solltest nur sehen, daß ich recht habe.«

»Aber höre, das war ein kolossaler Idiot ...«

»Da hast du auch recht, Harro.«

Sie fanden noch zwei Plätze, einander schräg gegenüber. Harro sah sich unbefangen um. Dann erfreute er sich leidenschaftslos an Ellas Anblick. Sie war frisch, sauber, gesund, und ein erfreuender Hauch von Sicherheit und Kraft strömte aus den schlanken Gliedern und den braunen Augen. Über ein Jahr schon liebte sie ihn, und fast zwei Jahre war sie verlobt, mit Michael Happek, der im fernen Ostelbien in ihrer kleinen Vaterstadt Gewürz und Heringe verkaufte und mit zäher Eindringlichkeit nach Höherem strebte. Ihre jungen Schultern rundeten sich ungebeugt unter dieser Doppellast. Sie arbeitete in freien Stunden an ihrer Aussteuer und war ruhig entschlossen, nach zwei, drei Jahren dem jungen Happekschen Haushalt treu und fleißig vorzustehen. Sie kannte das Leben, viel mehr als Harro, kannte Sorgen, Entsagung und still entwaffnende Unbefangenheit. Nur Stimmungen hatte sie nicht, solange Harro sie sah. Ihre beängstigende Freiheit im Umgang mit ihm war ohne jede Berechnung und ruhte auf sehr früh erworbener, wenn auch nicht gesuchter Reife und einer gesunden, völlig unverhüllten Leidenschaftlichkeit. So genoß sie, ohne moralische Einschränkungen, mit fast mütterlicher Hingabe ihre »Vorehe«.

Der Zug glitt am Strom entlang. Wasser und Birkenlaub dufteten durch die offnen Fenster. Eine Ziehharmonika erklang von einem träge ziehenden Kahn. Harro gegenüber, neben Ella, saß ein weißhaariger Herr, die Hände über einem Stock mit Elfenbeinkrücke gefaltet wie Onkel Leberecht. »Es ist hübsch, jung zu sein, nicht?« sagte er, Harro lächelnd zunickend.

Harro errötete leicht. »Gewiß«, antwortete er höflich. »Es ist so schön heute.«

Ella sah unter dem breiten Hut lustig auf ihren Nachbar.

»Haben Sie auch im Mai Geburtstag?«

»Nein, Sie etwa?«

»Ebensowenig. Aber dieser junge Herr.« Und sie deutete mit einer leisen Handbewegung auf Harro.

»Ah, viel Glück, viel Glück!« Und er sah strahlend auf die beiden jungen Menschenkinder.

Ellas Gegenüber, eine sehr starke Dame mit einem ganz kleinen Kinde, und ein noch junger, aber sehr müder Herr, sahen sich an und lächelten. Das Kind begann zu schreien, zuerst stoßweise, wie eine anziehende Lokomotive, dann in unaufhaltsamer Fahrt. Harro wurde unruhig, Ella betrachtete aufmerksam die Gruppe, und der alte Herr sah aus dem Fenster.

Die Mutter begann ein Wiegenlied zu summen, und der müde Herr schnitt seltsame Gesichter, um das Kind zum erlösenden Lächeln zu bringen, aber es half nichts. Endlich sagte die Dame, peinlich berührt durch Ellas Beobachtung, mit klagendem Erstaunen: »Was fehlt dem süßen Kleinen nur?«

In das ohne Antwort bleibende Schweigen sagte Ella nachdenklich: »Der süße Kleine ist feucht, gnädige Frau.«

Der alte Herr zog ein Taschentuch, und Mutter und Kind verschwanden. Der müde Gatte, um die Situation zu retten, fragte mit überlegener Ironie: »Gnädiges Fräulein haben einen verblüffend scharfen Blick ... vielleicht ...«

»Kinderfräulein gewesen?« ergänzte Ella und lehnte sich lächelnd zurück. »Nein, aber Oberin in einem Säuglingsheim.«

An der nächsten Haltestelle blieben sie allein. Der alte Herr winkte ihnen vom Bahnsteig, und Ella warf ihm eine Kußhand zu.

Als der Zug den Bahnhof verlassen hatte und der Birkenduft wieder im Raume war, setzte Ella sich plötzlich auf Harros Knie und bedeckte sein Gesicht mit raschen Küssen, daß er nach ihren Armen faßte.

»Was ist, Ella?« sagte er endlich, sie mühsam etwas zurückdrängend. Sie sah ihn atemlos lächelnd an. »Es ist doch dein Geburtstag, Harro!«

Er fuhr sich ordnend über das Haar. »Was du für ein Wildfang bist, Ella!«

Sie sah einen Augenblick gedankenvoll aus dem Fenster. »Ich werde ja bald zahm werden, Harro«, sagte sie ohne Wehmut. Dann legte sie ihre Wange in sein Haar, daß der breite Hut sie beide überschattete und begann halblaut, ohne Worte, ein Walzerlied vor sich hin zu summen, dem Rhythmus der Räder angepaßt. Und leise, zuerst fast unmerklich, begann sie ihre beiden Körper im Takt des Liedes hin und her zu neigen, immer nach der Melodie des Liedes und dem Stoßen der Räder. Ihre Augen sahen wieder wolkenlos auf die dunklen Wälder am Horizont, vor denen die auf- und niedergleitenden Bogen der Telegraphendrähte flimmerten, und in träumerischen Gedanken nahm sie Harros Hand und drückte sie fest an ihre warme Brust.

Er atmete den reinen, vertrauten Duft ihres Körpers, und ein etwas müdes Gefühl der Zufriedenheit erfüllte langsam seine Seele.

Dann stiegen sie als die einzigen aus und gingen Hand in Hand in dem Schatten des Waldes. »Das ist ein sehr hübscher Tag heute«, sagte Harro dankbar.

»Bei dir ist es immer hübsch, Harro.«

»Du bist ein liebes, gutes Mädel, Ella.« Er zog sie an sich und küßte sie auf den Mund. Sie hielt mit geschlossenen Augen still und ging dann leise singend weiter.

»Hör' mal, Ella,« begann er nach einer Weile, »wollen wir zuerst in der Mühle Kaffee trinken und dann in den Wald gehen oder umgekehrt?«

Sie dachte nach. »Erst in die Mühle, Harro. Nachher haben wir das Schönste noch vor uns.«

»Gut, dann fahren wir früh zurück und essen in der Stadt irgendwo zusammen.«

Sie saßen in der Hauslaube über dem leise rauschenden Bach, in den tiefen Stühlen. Harro rauchte und sah sie nachdenklich an.

»Weißt du, Ella, du könntest ebensogut mal eine Gräfin werden wie Frau Happek. Es ist wunderbar, wie reizend du heute aussiehst.«

»Man kann sein Leben nie voraussagen, Harro. Möglich ist alles. Aber wenn du fortgehst von hier, dann werde ich doch wohl meine Aussteuer fertigmachen.«

»Keine neue Vorehe, Ella?«

Sie sah ihn groß an. »Harro!«

»Verzeih mir«, bat er leise und streichelte ihre Hand. »Es war ein dummer Scherz.«

»Es ist schon bemerkenswert, daß mein kühler Harro einmal zu scherzen versucht.« Und sie lächelte schon wieder.

Der Kellner brachte den Kaffee. Dann lehnte er am andern Ende des Laubenganges in der Tür. Ella winkte ihm. »Was soll das bedeuten?« fragte sie ruhig und deutete mit dem kleinen Finger ihrer Rechten auf einen Sprung in der Tasse.

»Bitte um Verzeihung!« flüsterte er, sich verbeugend. »Ein Versehen in der Küche ...« Und er kehrte mit bemerkenswerter Schnelligkeit zurück.

Sie nickte kaum merklich, und Harro lächelte.

Dann gingen sie in den Wald, durch weite Schonungen bis in einsames hohes Holz. Die Birken dufteten, und unaufhörlich rief der Kuckuck.

»Hier bleiben wir, Harro. Hier findet uns niemand.«

»Es sucht uns ja auch niemand, Kleines.« Er legte sich zu ihren Füßen auf den warmen Boden und sah ihr zu, wie sie die Maiblumen in einen Strauß band, den Oberkörper an einen leuchtenden Birkenstamm gelehnt und leise vor sich hin singend. Zwei Tauben überquerten in schnellem Fluge die Lichtung, und eine Eidechse glänzte über das Moos. Die sonnigen Wipfel tönten im Wind.

»Kennst du die blauen Schwingen, Ella?« Er stützte den Kopf in die Hand, so daß er sie beständig ansehen konnte.

»Blaue Schwingen? Keine Ahnung, Harro. Ein Stück? Oder ein Lied?«

»Ja, ein altes Lied, aber der Text ist ganz unbekannt ...«

»Nein, in der Schule haben wir es nicht gesungen, und hier singen die Menschen doch nur Schund.«

Er nickte nachdenklich. »Wie geht es zu Hause, Ella?«

»O danke ... seit ich verlobt bin, hat Vater viel weniger Ärger. Die Konkurrenz hat ihn ganz krank gemacht. Jetzt arbeiten die beiden Läden doch in eine Kasse, und da kann ich viel ruhiger sein. Mein Bruder ist bei Happek in der Lehre, und Grete soll einmal bei Herrn Blankenburg meine Nachfolgerin werden, wenn ich heirate.«

»Hast du gar keine Angst vor der Ehe, Ella?«

Sie sah in die sonnigen Wipfel hinauf. »Mein Gott, Harro, wir armen Mädels müssen doch zufrieden sein, wenn wir unterkommen. Wir müssen an Eltern und Geschwister denken, nicht an uns. Dafür habe ich doch meine schönen Jahre hier mit dir.«

»Er ist nicht sehr hübsch, Ella.«

»Nein,« lachte sie gutmütig, »er ist sehr blond und hat einen sehr langen Hals und sehr, aber sehr blaue Augen.«

»X-Beine hat er auch etwas«, meinte Harro nachdenklich.

»Ja, leider Gottes ... Aber er hat ein gutes Herz, und er wird mich gut behandeln. Und das ist für unsereinen schon sehr viel.«

Er lächelte trübe. »Er wird dich küssen, Ella ... überall, wo ich dich geküßt habe ... und du wirst stillhalten müssen ... auch zu allem andern ...«

Sie schauerte leise zusammen. »Quäle mich doch nicht so, Harro!«

»Wirst du es ihm sagen? Das mit mir?«

»Ich weiß nicht ... vielleicht ... ich schäme mich nicht.«

»Das brauchst du auch nicht.«

»Harro, bitte, laß uns heute von was andrem sprechen! Die Zukunft kommt von selbst, und es ist so schön hier.« Sie legte sich zur Seite, so daß ihr Gesicht vor seinen Augen lag. »Weshalb hab' ich dich eigentlich so lieb, Harro?«

»Ich weiß wirklich nicht, mein Kleines.«

»Du bist hübsch, klug und gut. Aber du hast mich doch nicht so lieb, wie ich dich. Du bist so oft kalt und weit fort von mir, und du lächelst immer, auch wenn ... wenn ich sehr zärtlich bin.«

»Das hast du heute sehr zart ausgedrückt, Ella«, sagte er anerkennend.

»Ich kann's auch anders sagen.« Und sie lachte leise.

»Nein, nein, laß nur ... ja, und was hast du noch auszusetzen an mir?«

»Ich weiß nicht, ob du mich überhaupt lieb hast.«

»Doch«, sagte er ernst. »Vielleicht nicht so, wie du es dir geträumt hast, aber ich habe dich sehr lieb. Du bist sogar auf der ganzen Welt der einzige Mensch jetzt, den ich lieb habe, soweit es mir möglich ist.«

Sie fuhr ihm streichelnd durchs Haar.

»Sieh mal, als ich in die Stadt kam, konnte ich kein Mädchen ansehen, lange Zeit nicht. Damals habe ich nur gearbeitet wie im Fieber. Aber als ich langsam gesund wurde, da habe ich wieder begonnen, mich zu sehnen. Und da habe ich sehr lange gesucht. Bis ich dich fand. Du warst damals schon ein bißchen frech, aber es war nicht die andre Frechheit, sondern eine natürliche, die ich durchschaute. Und du warst so sauber und frisch, und ich mochte mich nicht mehr quälen.«

»Und da hast du mich einfach verführt«, sagte sie glücklich.

»Verführt ist gut«, bemerkte er belustigt.

»Na du, erlaub' mal!« Sie richtete sich entrüstet auf. »War ich vielleicht nicht unschuldig?«

»Ja, ja, Kleinchen. Körperlich schon, aber deine Seele war wirklich nicht mehr ganz unschuldig.«

»Wenn ich dich doch endlich halbtot küssen wollte!«

»Aber es blieb nicht dabei, kleine Unschuld.«

»Und es war doch so hübsch, Harro«, seufzte sie aufrichtig. »Ich hatte gar keine Angst vor dir, nicht ein bißchen.«

»Ich war ja auch bescheiden, Ella«, sagte er lächelnd.

»Viel zu bescheiden.« Sie nickte langsam. »Auch heute noch.«

Sie schwiegen beide. Der Kuckuck rief. Hohe, weiße Wolken zogen über die Bäume, durch leuchtendes Blau: »Wie Schwäne in der Sommernacht ...«

»Was denn?«

»Die Wolken, mein liebes Mädel, die Wolken.«

»Meine Mutter hat mir heute geschrieben«, sagte er nach einer Weile. »Ich soll mit den Mädchen vorsichtig sein.«

Sie lächelte nur mitleidig.

»Sie ist sehr dick geworden, Ella. Und früher war sie sehr hübsch. Wenn ich dir später einmal begegne, dann habe ich nur Angst davor, daß du bei deinem ruhigen Leben stark werden wirst, Ella.«

Sie richtete sich auf. »Nun hör' mal, du! Das verbitte ich mir! Mit solchen Beinen wird man nicht stark!« Und sie schlug unbefangen den Rock bis über die Knie zurück.

Er lachte laut und herzlich, und schließlich lachte sie mit.

»Aber im Ernst du! Ich habe noch so feine Knöchel.«

»Hübsch, Ella, sehr hübsch.« Und er legte sich wieder ins Moos zurück und ließ nur die Hand auf der Seide des Strumpfes.

»Aber ... das mußt du nicht tun, Harro«, sagte sie verwirrt.

»Weshalb nicht?«

»Du machst mir ... das Herz schwer«, sagte sie mühsam, und langsam stiegen die Tränen in ihre Augen.

»Das will ich nicht.« Er zog sie zu sich hernieder, und über ihren Scheitel fort sah er mit traurigen Augen zu den Wolken empor. »Du Arme, Gute du.«

Ihre feuchten Augen sahen ihn wehrlos an, bis sein Mund sich leise auf ihre Lider drückte.

Auf der Rückfahrt war sie heiter und plauderte unaufhörlich. Harro lächelte zerstreut und blickte schweigsam über die Ufer des Stromes.

Als sie durch den hellen Abend die Hauptstraße entlanggingen, überholte sie, fast geräuschlos, ein Wagen. Nur die Pferdehufe klangen hart und schnell auf dem Asphalt. Harro nahm aufatmend den Hut ab und fuhr sich über die Stirn. »Wie warm es ist, Ella!«

In diesem Augenblick rief eine laute, fast jubelnde Stimme: »Harro! Harro!« Der Wagen hielt scharf neben ihnen, und Gerhard stieg schwerfällig vom Tritt herunter. »Harro! Daß ich dich endlich finde! Und gerade heute!« Er umarmte ihn, und sein altes Gesicht mit den vergrämten Zügen leuchtete vor Glück. Harro drückte stumm seine Hände, und wie geblendet stand er plötzlich wieder in einer Welt, von der die hüllenden Vorhänge rauschend auseinanderschlugen.

»Gerhard ... ich bin ... so verwirrt ...«, sagte er endlich mühsam.

Gerhard zog den Hut vor Ella.

Harro nahm sich zusammen. »Liebe Ella, das ist Gerhard von Gontermann, von dem ich dir erzählt habe, und dies, Gerhard, ist Fräulein Ella Behrmann, die mir etwas Sonne in mein Leben scheinen läßt.«

»Das ist ein glücklicher Beruf«, sagte Gerhard freundlich.

»Bist du allein, Gerhard?«

»Nein, mit Hedwig. Wir wohnen bei ihren Schwiegereltern. Im Sommer soll die Hochzeit sein ... welch ein Zufall!«

»Ja ... aber nun höre. Ihr kommt jetzt zu mir, nicht wahr? Wir wollten auswärts essen, aber nun ist es hübscher, wenn ihr bei mir seid. Ist es dir recht, Ella?«

»Gewiß, mein Meister.«

Gerhard lächelte. »Und dir, Gerhard?«

»Sehr recht, Harro. Ich freue mich ja so. Wir nehmen jetzt den Wagen, ich schicke ihn dann nachher zurück. Bitte, kommt.«

Ella raffte ihren Rock und lehnte sich zurück, als sei sie niemals anders gefahren. Gerhard saß ihnen gegenüber und sah zwischen Glück und Befangenheit von einem zum andern.

»Also, Herr von Gontermann,« sagte Ella freundlich, »eigentlich heiße ich Elisabeth. Aber in unsrem Laden riefen die Kunden mich immer ›Ellachen‹, und Harro hat das übernommen. Nur wenn er böse wird, sagt er Elisabeth, oder in feierlichen Momenten. Er hat vorher sehr hübsch von meinem Beruf gesprochen, aber er hat nicht alles gesagt, und vielleicht müssen Sie das wissen, bevor Sie mit mir an einem Tisch sitzen ... Ich trage keinen Trauring, sehen Sie, aber der liebe Gott hat uns getraut, ja?«

»Ella!« sagte Harro errötend.

»Bitte?« Sie neigte ihren Hut und sah ihn unschuldig an.

Gerhard verlor die letzte Befangenheit und blickte ihr strahlend in die klaren Augen. »Und darf ich ›Fräulein Ella‹ zu Ihnen sagen? Nicht etwa ...« Er errötete plötzlich. »Nun ja, das war sehr dumm ... aber weil ich Sie sehr gern habe und Sie mir so gefallen.«

»O bitte, das ist mir sehr lieb.«

Als sie in Harros Zimmer waren, deckte Ella, leise vor sich hin singend, den Tisch. Harro gab der Wirtin Aufträge, und Gerhard sah sich aufmerksam im Zimmer um.

»Hübsch, nicht wahr?« meinte Ella. »Alles Harros eigene Sachen. Er hat fast schon so viel, daß er damit heiraten könnte. Aber er meint, er wird nie heiraten.«

Harro trat wieder ein. »Gefällt's dir, Gerhard? Das ist mein kleines Eigenheim. Ella hat viel daran geholfen im letzten Jahr.«

Sie gingen langsam umher, und Gerhard sah die Bilder an. Ella begleitete sie, die Teelöffel in der Hand, immer das leise Lied auf den Lippen.

»Und hier,« sagte sie und schlug die Vorhänge zurück, »ist Harros Schlafzimmer. Klein, aber furchtbar gemütlich.«

»Elisabeth!«

Sie lief lachend hinter den Tisch.

Kerzen brannten, und es sah sehr freundlich aus. Harro schenkte Sekt ein, war müder, gütiger und ironischer als gewöhnlich, Gerhard erzählte von der Heimat, und Ella sah schweigend auf Harro.

»Weißt du noch,« sagte Gerhard träumerisch, »als wir damals im Dezember am Kamin saßen und Onkel Felix von der Liebe sprach?«

»Ich weiß«, antwortete Harro traurig.

»Und nachher saß ich oben bei dir, und wir sprachen von Leben und Zukunft und von den Frauen. Und ich sagte dir, daß du später einmal sehr glücklich sein würdest.«

»Ich weiß ... ich weiß ...« Seine Augen wurden immer schwermütiger.

Ella legte leise ihren Kopf an seine Schulter. Er sah gedankenlos auf ihren Scheitel und legte langsam seine Hand auf ihre Wange.

»Nun ist alles anders geworden, Harro«, fuhr Gerhard fort. »Wir sind jetzt einsam im Schloß, die Terrasse ist leer, und wenn es wetterleuchtet, dann sitzt Onkel Felix allein auf der Treppe und sieht über den Park.«

»Und sucht das Rätsel, Gerhard, wie wir alle suchen. Und noch immer kann er nicht schlafen.«

»Aber dein Stern wird bald aufgehen, Harro. Und in ein paar Jahren, wenn du berühmt bist, dann wirst du lächeln über uns sonderbare Menschen, die wir dort in den Wäldern auf den Schlaf warten, statt ins Leben hineinzujauchzen.«

»Berühmt ... ja ja, Gerhard, das ist schon etwas zum Jauchzen ... dann werde ich wohl das Meer überfliegen ... zu den blühenden Gärten mit den blauen Vögeln ...« Und er lächelte trostlos.

»Dann werde ich Frau Happek sein«, sagte Ella leise.

Er drückte seine Lippen auf ihren Scheitel. »Ja, mein Liebes ... schön ist die Jugend ...«

Die Kerzen flackerten, und durch die offenen Fenster, unmerklich die Vorhänge hebend, zog der Duft des Flieders wie ein Purpurstrom durch das Schweigen.

Ella stand auf. »Ich muß jetzt gehen, Harro ... es dämmert schon, und ich habe der Tante noch versprochen, zu kommen.«

»Willst du schon fort?« sagte er müde.

Sie setzte ihren Hut auf, nahm Handschuhe und Schirm und bot Gerhard die Hand. »Ich habe mich sehr gefreut!« sagte sie mit ihrer unverhüllten Herzlichkeit. »Und heitern Sie ihn etwas auf, ja? Bitte!«

Gerhard küßte schweigend ihre braune Hand, und errötend trat sie zu Harro.

»Fürchtest du dich nicht?« fragte er zerstreut.

»Aber Harro ... die paar Häuser ... als ob es das erstemal wäre.«

Sie bot ihm unbefangen die Lippen, und er küßte sie nach einem verwirrten Blick auf Gerhard leise und schnell.

»Du kommst wohl heute nicht mehr?« fragte sie, sich im Zimmer umblickend.

Er faltete die Stirne und begleitete sie zur Tür.

»Gute Nacht!«

»Auf Wiedersehen!«

Harro schenkte die Gläser wieder voll und schob die Zigaretten näher zu Gerhard. »Du erlaubst, daß ich mich lege, ja? Ich kann dann besser zuhören.«

»Harro,« sagte Gerhard leise, »welch ein Menschenkind! Bist du auch ein guter Gärtner?«

»Sie braucht keinen Gärtner, Gerhard. Aber sie ist wirklich mein einziger Sonnenschein.«

»Verzeih, Harro, aber weshalb heiratest du sie nicht?«

»Ja, weshalb ... ich suche, Gerhard, immer noch ... übrigens ist sie verlobt.«

Gerhard wurde verwirrt.

»Ja ja, mein Lieber ... aber trotzdem ist sie wundervoll.«

»Das werde ich nie bezweifeln, Harro. Aber versäume nicht dein Glück!«

»Zwei Mahnungen habe ich heute aus der Heimat bekommen, die eine, mich nicht wegzuwerfen, die andre, nicht mein Glück zu versäumen ... Ach, wie trostlos ist das Leben.«

»Harro!«

»Ich weiß, Gerhard, ich weiß. Ich bin blind, ich bin undankbar und noch mehr. Es ist alles wahr, aber ich kann nicht, ich kann nicht. Ich habe einen Klang gehört, den Anfang eines Liedes, und das Lied sang von der Erlösung. Aber es war nur ein Anfang. Auch bei ihr ist es nur ein Anfang. Und wenn ich bleibe, dann ist es doch nur dasselbe ... Die Zweiheit stirbt nicht, verstehst du? Sie ist so mein, wie ein Mädchen unser sein kann ... aus Unschuld zum Weibe geworden ... ganz mein. Und doch ... jetzt ging sie fort, von mir hinaus, aus dem Hause ... sind wir nicht zwei? Wenn sie lacht, lache ich, lacht es? Nein, ich kann weinen dabei. Und wenn sie stirbt, werde ich leben. Wo ist der Weg zu Gott?«

»Du bist ein Metaphysiker der Liebe, Harro.«

»Ja, kann sein, aber soll man lieber ihr Sklave sein?«

»Harro, das auch nicht ... aber deine Kunst, Harro?«

»Das ist ebenso. Herr Bender hat gesagt, die Saiten meiner Geige seien über die Brunnen der Tiefe gespannt, und der Professor sagt dasselbe. Aber sie sind über der Tiefe. Sie steigt nicht herauf und blüht nicht, denn auch dort ist das Rätsel. Die Geige ist Holz, und mein Herz ist Blut.«

»Die Menschen machen das Leben, Harro, die Menschen. Du bist ohne sie aufgewachsen, und nur sie werden dich erlösen. Die Kunst kann dir nur helfen.«

»Ich suche ja, Gerhard ... Damals, da glaubte ich gefunden zu haben, aber es war eine Täuschung. Und jetzt ... ich habe es auch nicht gefunden. Sie ist so rein wie aus dem Paradiese, aber mein Herz schlägt matt. Wenn sie heute ginge, so würde ich sie nicht halten, und wenn sie bleiben wollte, so würde ich sie vielleicht behalten bis an das Ende meines Lebens. Aber immer würde ich lauschen. Tag und Nacht, ob ich nicht die ferne Stimme höre ...«

»Du bist sehr unglücklich, Harro.«

»Ich glaube es fast. Ein Zauber muß über mich gefallen sein wie im Märchen, und nun muß ich warten, bis man mich erlöst ... Ich möchte wieder einen Sommer auf der Insel leben, in meiner Rohrhütte, wenn die Möwen schreien. Aber sie lassen mich nicht hin. Sie stehen an den Wegen, Menschen und Erinnerungen, und lassen mich nicht hin. Und ich habe solche Sehnsucht nach der Heimat, Gerhard! Meine Träume leben nur von ihr ... Vielleicht wird es besser, wenn ich erst auftrete und zu kämpfen habe um jeden Tag.«

»Wir wollen hoffen, Harro.«

»Wie geht es deiner Mutter, Gerhard? Erzähle mir von ihr.«

»Sie hat nichts gesagt, als ich abreiste. Aber ich habe sie verstanden. Sie ist viel krank, und mir ist manchmal, als denke sie nur an dich.«

»Wenn ich erst etwas geworden bin, Gerhard, vielleicht komme ich dann doch einmal zu euch. Sie wird mir die Hände nicht entziehen ... Und ich möchte alles noch einmal wiedersehen, euch und den Park, und die Terrasse, und Simplizius und Mischa ... aber später, noch ein paar Jahre ... wenn ich vergessen habe.«

»Ja, Harro.«

»... du, Gerhard?«

»Ja?«

»Sag' mir noch eins ... Frau von Santen?«

»Es geht ihr gut«, sagte er leise.

»Nein ... nicht ...«

»Sie scheint glücklich zu sein.«

»Ob sie ... einen Pagen hat?«

»Ich glaube, ja, Harro.«

»Wieder ein ... Kind?«

»Nein.«

»Nun ja ... sie ist ja auch älter geworden ... schön ist die Jugend.« Und er lächelte bitter.

»Wir wollen nicht vergessen, Harro, daß wir beide einundzwanzig Jahre alt sind, nicht wahr?« Er stand auf und lauschte in den Park hinaus. »Du mußt nicht böse sein, Harro, aber ich habe den Wagen bestellt. Ich habe nicht allein Anspruch auf dich an diesem Tage. Morgen fahre ich zurück. Wir werden uns wiedersehen, in ein paar Jahren vielleicht erst, aber wir werden uns wiedersehen. Und anders als heute. Leb' wohl und vergiß die Menschen nicht!«

Harro brachte ihn zum Wagen. »Küsse deine Mutter, Gerhard, wenn sie sich nicht scheut. Und grüße Onkel Felix. Sage ihm, daß ich suche.«

Sie nickten sich zu, und leise rollten die Räder in die helle Nacht.

Oben stand Harro am offenen Fenster. Die Sterne glänzten noch über dem dunklen Garten. Ferne dröhnte die Stadt, und ein spätes Lied hob sich leise aus der steinernen Welt. Schauernd rührten sich die Wipfel der Bäume.

»Wie Kinder im Dunklen,« dachte er, »wie wir alle ...«

Er nahm seinen Hut und ging langsam die Treppe hinunter, über die schweigende Straße, wo die Häuser wie Särge standen und die Blumen wie aus Kränzen dufteten. Leise klopfte er an Ellas Tür.

Sie weinte an seinem Halse.

»Was ist, Kind? Stimmungen?«

»Was willst du, Harro? Hast du vergessen, mir etwas zu sagen?« Sie sah ihn angstvoll an.

»Ja, Liebes, vergessen, daß ich heute bei dir sein wollte. Und es ist noch nicht zu spät, dir das zu sagen, nicht?«

Sie drückte sich schluchzend an ihn. »So schwer war mir das Herz,« flüsterte sie, »so schwer ...«

Er saß an ihrem kleinen Nähtisch, den Kopf an die Lehne des hohen Stuhles gelegt, die Arme müde herabhängend, und sah ihr träumerisch zu, wie sie sich entkleidete. »Ich glaube, Ella,« sagte er grübelnd, »ich habe dich doch sehr lieb ...«

Sie warf das gelöste Haar zurück und lief an seinen Stuhl.

»Verlaß mich noch nicht, Harro«, flüsterte sie, das Antlitz an seiner Brust verbergend. »Noch nicht ...«

»Wenn ich ein Narr wäre?« dachte er erschüttert. »Ein Narr der Qualen?«

Und er hob sie in seine Arme und trug sie in ihre Kammer. Da kniete er neben ihr nieder und bedeckte sie mit Küssen, von der Stirn bis zu den Füßen.

Sie hob die gefalteten Hände hoch über ihren Kopf und flüsterte in jubelndem Erschrecken: »Harro ... was ist ... mit dir?«

Er barg sein Gesicht an ihrer Brust, und leise sagte er wie über einer Erscheinung: »Ich blühe, Elisabeth ... ich blühe ...«


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