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10.

Strahlend erklang der letzte Akkord, und blaß, wie in schwerem Leiden, ließ Harro die Geige sinken, fast gleichzeitig mit dem Stabe des Dirigenten. Für einige Sekunden schloß er die Augen, bis der Beifall einsetzte. Es erschütterte ihn nicht mehr wie beim erstenmal, lange nicht mehr. Er blickte auf und sah wie durch ziehende Nebel die schwarze Masse des Orchesters mit den schimmernden Instrumenten, die hellen Lampen und die müden Gesichter, die nach Schlaf und Schweigen verlangten, wie er selbst. Und im Saale erblickte er, fast mit Widerwillen, dieses flimmernde, ungeheure Wesen, das wie ein Vampyr an seinem Blute sog, das sich mit Geld das Recht nahm, Klage und Jubel seiner Seele zu belauschen, und das mit geschliffenen Gläsern in sein Antlitz starrte wie auf ein Wundertier hinter Gitterstäben.

Er nahm abwesend die Hand des Dirigenten und verbeugte sich, mühsam lächelnd, gegen das Orchester und teilnahmslos gegen den Saal. Es war die letzte Nummer gewesen. Einer der Diener reichte unbewegten Antlitzes einen Lorbeerkranz auf das Podium, und Sträuße mit flatternden Schleifen flogen zwischen die ruhenden Geigen. Harro verließ das Orchester.

Im Künstlerzimmer ließ er sich mit geschlossenen Augen in den Stuhl fallen. Der Vorstand der Künstlerkonzerte stand ehrfürchtig schweigend am Fenster, und der Impresario lächelte nachsichtig. »Ja, ja, es ist nit leicht,« sagte er nach einer Weile freundlich, »aber auch daran gewöhnt man sich halt ... und nun, lieber Herr Bruckner, gehn's schon noch a Mal hinaus ... die armen Leut verlangen sonst ihr Geld zurück.«

Der Saal war noch voll, und neue Blumen fielen. Und in dem Augenblick, als Harro sich zum Gehen wendete, flog ein großer, weißer Rosenstrauß aus den vorderen Reihen durch die Luft und blieb dicht vor seinen Füßen liegen. Harro aber war es in rätselvollem Gefühl, als habe er sein Herz getroffen, als habe er dieses, gerade dieses einmal geträumt oder erlebt ... das Konzert ... und weiße Rosen ... die vor seine Füße fielen ... lange, lange zurück ... Bewegungslos starrte er auf ihn nieder. Dann hob er ihn auf, bis zu seinem tief erblaßten Gesicht, und sah mit angstvollen Augen auf die Menge zu seinen Füßen, von einem zum anderen.

Er fand sie nicht.

Da legte er die Rosen sorgsam auf einen Stuhl, hob die Geige ans Kinn und begann leise, in Selbstvergessenheit sinkend, das Lied von den blauen Schwingen. Und das Lied der Sehnsucht und der Klage, auf fernen Steppen geboren, zog langsam durch den schweigenden Saal, stille machend und ergreifend wie das Weinen einer Frauenstimme, das plötzlich in Fest und Freude fällt.

        »Siehst du, mein Bruder,
        Siehst du, mein Freund,
Fliegen die Kraniche in einer blauen Kette dahin? ...«

Vor Harros Augen aber sprangen die Gräber seines Lebens auf, als ob die Klammern der Deckel unter den Klängen sich lösten, und aus der modernden Tiefe hob sich auferstehend alles, was lange gestorben war: Heimat und Jugend, Frieden des Dorfes und des Simplizius weiter Blick über sinkendem Abend. Wie im Traume nahm er dann die Rosen auf und schritt über das schweigende Podium ins Künstlerzimmer zurück, und wie im Traume hielt er hier Majas Hände und sah wortlos in ihre Augen. Wie man ein Bild sucht in schwerem Fieber, treppauf und treppab, in dunklen, weiten Häusern, schwer und schleppend die Füße, wildschlagend das Herz, und plötzlich ist es da, in unversehrter Schönheit und leuchtet aus hüllenden Decken hervor.

»Maja,« sagte er endlich leise, »es hat sich erfüllt ...«

»So habe ich's mir gedacht,« erwiderte sie, »dich ... das Spiel ... alles.« Und hinter ihrem Kinderblick sah Harro die dunklen Räume, durch die ihre Seele gegangen war.

Dann öffnete sich die Tür, und Obermeyer trat ein. Der kleine Kopf war noch glänzender geworden, die runden Augen traten sehr weit hervor, und das Kinn verbarg sich ängstlich hinter dem hohen Kragen. In spiegelnden Lackschuhen, etwas kurzatmig geworden, kam er auf Harro zu, streckte ihm zwei reich beringte Hände mit betonter Herzlichkeit entgegen und sprach mit vertraulichem Lächeln: »Mein lieber junger Freund! Ich bin erstaunt ... aus einer grauen Puppe ... sozusagen ... ein bedeutender Schmetterling! Einen Bogenstrich haben Sie! Phänomenal, tja! ...«

Harro lächelte, und Maja bemerkte mit Wehmut die Kindlichkeit dieses Lächelns. Dann legte er vorsichtig eine Hand in Herrn Obermeyers Hände und sagte mit demselben entwaffnenden Lächeln: »Ja, Herr Obermeyer, ich habe ein gutes Handgelenk.«

Maja blickte schnell von einem zum andern und sagte dann mit ihrer dunklen Stimme: »So sehr ich mich gefreut habe, Harro, aber du bist todmüde, und wir sind rücksichtslos. Morgen ißt du bei uns, wir wohnen in der Parkstraße, ja bitte?«

»Wir speisen um drei Uhr,« bemerkte Herr Obermeyer, »Hausmannskost, aber reichlich und von Herzen.«

Maja gab ihm schnell die Hand. »Auf Wiedersehen, Harro, ich freue mich sehr!« Und sie raffte den schweren Samt ihres Kleides, neigte den Kopf gegen die Übrigen und ging zur Tür, mit ihrem stolzen, geraden Gang, unter dem nur leise die gleitenden Falten rauschten. Obermeyer nahm einen etwas überstürzten Abschied, lächelte vielsagend und winkte von der Tür zurück. »Kavalierspflichten, sozusagen ... tja.«

Am nächsten Nachmittag stand Harro vor einem stillen Hause, das tief im Garten zwischen entlaubten Bäumen lag. Er sah eine Weile auf das gelbe Messingschild mit dem Namen ›Ludwig Obermeyer‹ an dem hohen Eisengitter und mußte an die Namenstafeln denken, die an Raubtierkäfigen hingen. Langsam ging er den mit Edeltannen eingefaßten Gang zur Treppe hinauf. Ein kalter Wind strich über den verlassenen Garten und bewegte die Äste der Bäume. »Buchen,« dachte Harro, »... ja, weshalb sollten es auch nicht Buchen sein? ...« Dann glitten seine Augen die stillen Fensterreihen entlang, und es war ihm, als wisse er schon jetzt, was hinter ihnen wohne und wie es mit traurigen Augen über das eiserne Gitter in die Ferne sehen müsse.

Er hob den Bronzegriff, und die schwere Eichentür sprang leise auf. In der Diele nahm ein Diener ihm den Mantel ab. »Die Herrschaften warten im Empfangszimmer«, flüsterte er und ließ Harro durch die geöffnete Tür treten.

Herr Obermeyer verspürte schon Hunger und war sehr erfreut.

»Tja, mein lieber Freund,« meinte er und blickte lächelnd durch die Zimmerflucht, »das haben Sie sich sicher auch nicht träumen lassen, als Sie an Ihrer Reiherinsel fischten, daß Sie noch einmal in solchen Räumen ein- und ausgehen würden, nicht wahr?«

Harro lächelte. »Sie wohl auch nicht, Herr Obermeyer.«

»Nun nun, wir hatten ein solides Haus, gut bürgerlich, sozusagen, aber doch solide, schon damals ... aber immerhin, immerhin, ich habe das Geschlecht der Obermeyer hinaufgebracht!«

Harro spielte unruhig mit der Tischdecke. »Haben Sie Kinder?« fragte er endlich.

Obermeyers Augen wurden bekümmert. »Nein, mein lieber Herr Bruckner, leider Gottes nein. Meine Frau ist ... wie soll ich sagen ... etwas merkwürdig, ja. Zuerst habe ich mit ihr darüber gesprochen, mehrmals. Aber sie hat so merkwürdige Augen, wissen Sie. Sie hatte sie schon damals ... Aber es ist traurig. All das schöne Geld und die gute Firma. Sehr traurig!« Und er tupfte das Taschentuch leicht auf die noch immer tränenden Augen. »Wissen Sie ...« Er beugte sich vor und legte seine fette Hand auf Harros Knie. »Wissen Sie, im Anfang hab' ich manchmal gedacht, ihr Verstand wäre ab und zu verwirrt. Es gibt so was, in der ersten Ehezeit, wenn die neuen Eindrücke kommen, nicht wahr?« Er lächelte verschmitzt, und Harro sah seine gelben Zähne. »Denn manchmal, wenn ich ernsthaft mit ihr sprach, dann sah sie durch mich hindurch wie durch Glas und sagte, als sehe sie mich garnicht: ›Ich will das nicht hören ... ich will das Meer überfliegen, weit, wie die Kraniche ...‹ Manchmal hat mir gegraut, wissen Sie, trotzdem wir im Kriege damals das Grauen verlernt haben ... Na, aber da war denn nichts zu machen. Ich hoffe auch noch immer. Es ist, sozusagen, noch nicht aller Tage Abend, und man ist doch noch jung und kräftig, hähä ... tja. Also abwarten und dann Tee trinken!«

Harro sah schweigend auf die fette Hand, die auf seinem Knie lag und die ihm trotz den Brillantringen doch als die Hand eines Schlächters erschien, weich, roh, mit Nägeln, die einen bräunlichen Rand hatten, als habe das getrocknete Blut sich nicht ganz fortwischen lassen.

Dann trat Maja ein, in demselben roten Kleid, mit einer feinen Kette um die Hüften. »Es ist nicht Unhöflichkeit, Harro,« sagte sie entschuldigend, »aber in diesen grauen Wintertagen kann man wirklich nur Rot tragen, sonst friert die Seele zu Tode.«

»Gewiß«, antwortete er zerstreut und küßte ihre Hand, ergriffen von der durchleuchteten Zartheit der Adern. »Es ist doch ein schönes Gewand ... wie Purpur.«

»Ich muß immer an Ochsenblut denken,« sagte Obermeyer lachend, »aber die Geschmäcker sind verschieden, tja. Und nun kommt essen, Herrschaften! Ich hab' einen Mordshunger.«

Die »Hausmannskost« war sehr üppig, und als der Hausherr das Mundtuch um den Hals gebunden hatte und sich behaglich zurechtsetzte, sah man, daß das Essen ihm ein fröhliches Fest war. »Nicht übel«, bemerkte er glücklich und leckte sorgsam seine Lippen: »Nicht wahr, Herr Bruckner? Wissen Sie, schlecht oder wenig essen zu müssen, muß ein Unglück sein. Wie eine gute, blanke, schöne Maschine, die zu wenig Öl bekommt. Das ist für mich ... sozusagen ... direkt tragisch. Verhungerte Menschen erinnern mich immer an den Tod. Ich sehe immer die Knochen unter den Kleidern. Das ist nicht hübsch. Aber das nötige Kleingeld haben, gut essen und trinken, ruhig schlafen, wenn man tüchtig und mit Erfolg gearbeitet hat ... Das Leben ist gar nicht so übel, wissen Sie! Und wenn die Menschen besser essen würden, dann würde auch all das Gefasel von Weltschmerz aufhören, von Untergang des Abendlandes und sittlicher Erneuerung. Erneuerung des Magens, das ist die Sache, jawoll!«

Harro hörte zu und sah hin und wieder von der Seite auf Maja, deren Augen ruhig fragend von einem zum andern gingen. »Nein, nein, hab' keine Angst, Harro«, sagte sie tröstend. »Ich esse noch immer Hagebutten vom Strauch, wie zu Hause am Dorfzaun.«

Herr Obermeyer zerlegte kunstgerecht einen Flügel. »Ja ... sie ist nicht ganz mitgegangen«, bemerkte er, aufmerksam sein Messer führend. »Sie war es von Hause aus ja nicht gewohnt, aber trotzdem ... in alles andre hat sie sich viel besser gefunden.«

»Ja,« sagte sie mit leisem Spott, »in Häusern, wo der Laden neben dem Eßzimmer liegt, pflegt man immer gut zu essen. Mutter hielt auf andre Dinge mehr.«

»Wie geht es bei dir zu Hause, Maja?« fragte Harro. »Ich habe solange nichts gehört.«

»Zu Hause ist es wie im Märchen, Harro. Im Herbst war ich vier Wochen dort. Ich hätte nicht geglaubt, daß es so stille Dörfer geben könnte. Und die Bank ... wenn die großen Kastanienblätter fallen ... und die Uhr tickt wie früher. Vater liest noch immer im Ekkehard, und Mutter strickt ... und draußen bellt ein Hund, in der Dorfstraße oder beim Nachbar ... und wenn du in den Garten trittst, dann hörst du den Fluß rauschen, immerzu ... so tief und schwer ...« Sie legte Messer und Gabel hin und stützte den Kopf in die Hand, und Harro sah, wie weit ihre Seele aus dem Leben war.

»Es ist schon ein merkwürdiges Dörfchen«, sagte Obermeyer kopfnickend. »Wie ein ... warten Sie ... wie ein Siechenhaus, sozusagen, tja. Oder ein Altersheim. Mit ganz verhutzelten Menschen. Um neun kriechen sie ins Bett, und jeden Sonntag gehen sie zur Kirche.«

»Ja, Konservenfabriken würde man da nicht bauen können,« bemerkte Maja erwachend. »Aber daß es solche Dörfer noch gibt und solche Menschen ... wie eine alte Kirche im finsteren Wald ...«

Der Hausherr lächelte. »Na ja«, meinte er abschließend. Dann spülte er mit einem Schluck Rotwein seinen Mund, lehnte sich behaglich zurück, faltete sein Mundtuch sorgfältig in die alten Falten und fragte freundlich-gleichmütig: »Nun sagen Sie mal, Herr Bruckner, wieviel verdienen Sie so eigentlich pro Jährchen mit Ihrer Fiedelei, hm?«

»Das ist verschieden, Herr Obermeyer. Wie oft ich spiele und wo ich spiele. Aber durchschnittlich so zwischen dreißig- und fünfzigtausend.«

»Waas?« Seine Augen traten sehr weit hervor. »Na hör'n Se mal! Das ist aber ...«

»Ein Skandal, meinen Sie? Ja, die Leute wollen's doch haben.«

»Ich verdiene zwar mehr, manchmal beträchtlich mehr, aber dafür muß man auch schuften das ganze Jahr und hat Sorgen genug. Und Sie stellen sich einfach einen Abend in der Woche auf so'n Podium und fiedeln ein bißchen, und dann streichen Sie Ihr Geld ein? Na hör'n Se mal!« Und er sah kopfschüttelnd von Harro zu seiner Frau.

»Ja, es gibt viel Ungerechtigkeit in der Welt, Ludwig«, sagte Maja ernst und stand auf. »Aber sieh mal, die Frackanzüge kosten auch viel Geld, und die brauchst du in deiner Fabrik nicht.«

Sie ging in das Bibliothekzimmer, und die Herren folgten, Obermeyer noch immer kopfschüttelnd. Das Feuer brannte im Kamin. Leise fiel schon die Dämmerung. Sie saßen in den tiefen Ledersesseln vor den Flammen, und der Wind fiel von Zeit zu Zeit bewegend in die stille Glut.

»Tja, mein lieber Freund,« sagte Herr Obermeyer etwas schläfrig und sah unter halbgesenkten Lidern dem Zigarrenrauche nach, »in solchen Stunden ist das Leben doch recht behaglich, so zwischen Essen und Schlafen. Da verliert es seine schlechten Seiten, und selbst ich empfinde dann so etwas wie Poesie, sozusagen.« Er trank andächtig seinen Kognak und erwartete keine Antwort.

Majas gefaltete Hände spielten mit der feinen, klirrenden Kette, und ihre Augen sahen durch die hohen Fenster in die graue Luft des Gartens. »Jetzt kommt der Winter,« sagte sie müde, »als Kinder haben wir uns gefreut, Harro ...«

»Tja ... aus Kindern werden Leute,« bemerkte der Hausherr und gähnte verstohlen. »Es ist auch ganz nett. Im Winter wird immer besser gegessen als im Sommer, länger und inhaltreicher ... wir werden bald eine Gesellschaft geben müssen, Mausi, einen guten, vornehmen Auftakt.«

Maja nickte fröstelnd. »Was für ein trauriges Gesicht sie eigentlich hat«, dachte Harro. »Auch wenn sie lacht ... sie ist so sehr verändert ... wie Simplizius ... auch ich mag wohl so sein ... wie schwer das Leben ist ...«

»Ja, Herrschaften,« sagte Herr Obermeyer und legte die Zigarre vorsichtig in einen besonderen Aschbecher, »ihr müßt mich schon entschuldigen, aber in zwei Stunden beginnt meine größte Arbeitszeit, und ich muß etwas schlafen.«

»Ich wundere mich,« antwortete Maja gleichmütig, »wie tapfer du heute geblieben bist.«

»Tja nun, der hohen Kunst zu Ehren muß man doch schon ... also, mein lieber Freund, wir sehen uns abends noch. Natürlich! Natürlich! Vertreiben Sie meiner Frau die Zeit, um neun bin ich wieder da ... Verlieben werden Sie sich doch nicht, hä?« Und er klopfte ihm laut und wohlwollend auf die Schulter.

Harro errötete, und Maja sah ihn groß an. »Du könntest bald Kommerzienrat werden, Ludwig«, sagte sie nachdenklich.

Er stand schon in der Türe. »Wieso, hm?«

»Ich meine nur, es würde dir schon ganz gut stehen. Gewisse Vorbedingungen sind dir angeboren.«

»Ja, ja«, meinte er, plötzlich ernst werdend. »Da könntest du eigentlich recht haben.« Dann ging er.

Hinter ihm blieb ein langes Schweigen. Die Dämmerung wurde tiefer. Maja legte den Kopf auf das Leder der tiefen Lehne zurück und sah geradeaus in die glühenden Scheite. »Was denkst du, Harro?« fragte sie leise.

»Ich denke, Maja, wie wunderbar das Leben ist ... Vor dreizehn Jahren habe ich auch vor solch einem Kaminfeuer gesessen, und Onkel Felix hat von der Liebe erzählt, von der Liebe in Sehnsucht ... damals hat meine Seele gezittert ... und nun sitze ich wieder am Kamin, und alles ist so weit, so weit ...«

»Und nun zittert deine Seele nicht mehr?«

»Doch, Maja, doch! Anders als damals, leiser vielleicht. Aber im Grunde ist doch alles dasselbe ...«

Und er erzählte von seinem Leben, langsam, schwermütig, aber ohne jede Scheu, alles was seinen Weg gekreuzt hatte. Das große Haus lag ohne Laut, und wenn der Wind in den Rollstäben vor den Fenstern klapperte, horchte er eine Weile hinaus, wie ein Kind, das noch einen weiten Weg nach Hause hat.

Sie hatte den Kopf in die Hand gestützt und sah ihn schweigend an, wie er Jahr auf Jahr seines Lebens vor ihr enthüllte, und deutlich wurde ihr bewußt, wie alles andre so bedeutungslos war gegen das, was sie jetzt erlebte.

»Und dann, nach Ellas Heirat,« sagte er sinnend, »bin ich ganz ohne Liebe durchs Leben gegangen. Schon sieben Jahre, wie im Märchen. Da sind es auch immer sieben Jahre. Hier und da war wohl ein Rausch, ein müder Taumel, aber mein Herz blieb still, ganz still ... Und das Geheimnis des Lebens? Noch immer nichts ...«

»Und doch, weißt du, sieht mich noch immer dein Kindergesicht an.«

»Es scheint so, Maja. Aber das Kind ist tot, in dir, in uns allen ... Alle Kinder sterben, für immer, unwiederbringlich. Was aufwächst, das ist kein Kind mehr, niemals ... Und wenn ich solche Sehnsucht habe ... eure stille Stube, Volkslieder für zwei Geigen, der Wind in den Kastanien, du vor der grünen Tapete ... auch dies ist unwiederbringlich ... Und das Meer, hast du das Meer überflogen?«

»Glaubst du es?«

»Nein ... Dann würde ich dich vielleicht beneiden, und ich beneide dich nicht. Mir ist sogar, als ob du oft vor diesem Feuer sitzest, wie heute, im roten Kleid, wenn draußen der Winter beginnt, die Hände über den Knien gefaltet. Und mir ist, als müßten manchmal Tränen deine Wangen herunterrinnen, und du tust mir leid, so leid ...«

Sie stützte die Stirn in die Hand. »Weshalb?«

»Du bist nicht glücklich, Maja.«

»Du bist es auch nicht.«

»Das ist etwas andres. Wir sind dazu da, um zu suchen und zu kämpfen, bevor wir schlafen gehen können. Aber ich glaube, die Frauen sind dazu da, um glücklich zu werden. Nur dazu. Und wir, wir verstehen das nicht ganz, euch glücklich zu machen. Ihr seid so schwer zu verstehen. Ihr bleibt uns fern, und manchmal seht ihr uns an, traurig, erschreckt, wie gequälte Tiere. Wir alle sind einsam, aber keiner ist so einsam wie ihr.«

»Wie wenig du dich geändert hast«, sagte sie leise.

Er beugte sich vor und sah ihr in die Augen. »Nur eines sag' mir: bist du sehr unglücklich?«

Sie wendete langsam den Blick von seinem Gesicht. »Weshalb, Harro? Du siehst ja, wie ich lebe. Reich, ohne Sorgen. Und ... er ist ja auch gut auf seine Art ...«

»Also unglücklicher, als ich dachte.«

»Ein seltsamer Schluß, Harro«, sagte sie mit trübem Lächeln. »Aber ich habe es ja gewollt.«

»Ja, du bist aus meinem Leben gegangen wie aus einem dunklen Zimmer. Du machtest die Türe zu, und ich blieb allein, ein Kind. Es ist den Kindern nicht gut, wenn man so von ihnen geht ...«

Ein Wagen fuhr unten die Straße entlang. Das dumpfe Rollen erstarb in der Ferne. Der Wind fuhr über den Garten, und die Flamme lohte auf.

»Sing' mir ein Lied«, bat er endlich. »Ich fürchte mich, noch immer.« Sein Lächeln war unsicher.

Sie öffnete bereitwillig die Türen zum Nebenzimmer. Gedämpft fiel das Deckenlicht über den Flügel und das schwere, traurige Rot ihres Kleides. »Ich kann nur noch ein Lied«, sagte sie.

Er schloß die Augen, und ihm war, als säße er bei Simplizius und die ferne Glocke klänge über die Wälder hinüber.

»Wozu soll ich denn warten,
Wo ich so müde bin?
Verödet ist mein Garten,
Ich weine vor mich hin.

Der Tag ist mir vergangen,
Jetzt kommt das Abendrot.
In der Heimat, ja in der Heimat ...
Mein Liebster, der ist tot.

Wozu soll ich denn warten?
Die Augen fallen mir zu.
Es blüht ein Gottesgarten,
Da komm' auch ich zur Ruh.«

Als sie zurückkehrte, hatte er nur die Hände qualvoll gefaltet.

»Wir sind aus einem zu stillen Lande«, sagte sie mit schmerzlichem Lächeln. »Gräme dich nicht, Harro ... auch für uns gibt es Frieden ... vielleicht habe ich zu früh geheiratet. Aber es wird wohl so sein, daß ich nicht zum Erobern auf der Welt war, sondern zum Beglücken, in einem stillen Kreise. Und ich habe mich eben geirrt ... Nun ist es zu spät.«

»Nichts ist zu spät!« sagte er heftig.

Sie sah ihn nur schwermütig an.

»Noch eins, Harro«, sagte sie in der Diele. »Es ist noch ein Irrtum. Das Lied von den blauen Schwingen, weißt du? Wir machten es zu einem Evangelium für uns. Wir haben uns getäuscht. Die Kraniche ziehen in die Heimat, nicht in die Fremde. Wir aber wollten in die Fremde, um glücklich zu werden. Vielleicht ist es das. Ich weiß es nicht. Mein Kopf ist so müde ... Nun leb' wohl und komm bald wieder. Ich werde mich immer freuen, Harro.«

Er ging durch die hellen Straßen, gequält vom Licht der Bogenlampen und dem Lärmen des Abends. An einer Straßenkreuzung blieb er stehen und sah lange in das Treiben. »Es hält mich doch nichts hier«, dachte er grübelnd. »Sie sagen, der Künstler brauche Menschen, aber ich spiele doch nur für mich. Nur meine Seele hört mir zu. Ich kenne Liebe und Leid, und für Geld spiele ich mein Leben ... Aber alles ist so fremd und ferne. Bin ich denn schon so alt und müde? Oder habe ich auch nur falsch gelebt? Hunger, Liebe, Ruhm, ist es nicht alles so einfach? Ich habe es gehabt und bin doch müde? Es ist noch etwas anderes im Leben, sicherlich. Aber was? Einen Zaun um den Garten und ein Gitter ums Grab? ... Ich muß Maja noch einmal fragen ... arme Schwester ... und schlägt das Herz nicht wieder? ... O endlose Qual ...«

In der Nacht nach dem nächsten Konzert saß er schon wieder im Zuge und fuhr zurück. Die Luft war still, und es begann zu schneien. Auf den Haltestellen stand er vor seinem Abteil, ohne Mantel und Hut, und fing die Flocken mit den Händen auf. Die Erde wurde langsam weiß. Auch in der Parkstraße würde Schnee liegen. Das Gitter würde verschneit sein und die Edeltannen, und oben in den stillen Räumen würde das matte Licht sein, das nur vor Weihnachten über der Erde ist.

Es schneite den ganzen nächsten Tag, und mittags stand er vor Maja.

»Was ist dir, Harro? Hast du soviel Erfolg gehabt?«

»Ach, Erfolg! Es schneit, Maja!« Er ließ ihre Hände nicht los.

Sie lächelte wehmütig. »Sind wir denn wieder Kinder, Harro?«

»Nein, aber wir wollen in den Wald fahren, wir beide, ja? Ich habe mich so gefreut, Maja ...«

Sie zögerte. »Nun gut«, sagte sie dann seufzend. »Hole mich in einer Stunde ab.«

Sie saßen allein in ihrem Abteil. Die Landschaft schwang in weichen Linien vorüber, klar und hell die Nähe, dunstig die Fernen. Alles Lebende hob sich schärfer aus dem weißen Schweigen, Gehöfte, Tier und Mensch. Auf Hügeln und Hängen standen die Wälder wie Friedhöfe, und beschneite Fichtenwipfel hingen über stillen Straßen.

»Was ist dir, Harro?« fragte Maja lächelnd. »Was siehst du mich so an?«

Er streichelte ihre Wangen. »Wie aus tiefen Wäldern gekommen siehst du aus ... wie meine Jugendzeit.«

Sie schob leise seine Hände zurück. »Du mußt vernünftig sein, Harro.«

»Meine Schwester«, sagte er zärtlich. »Meine Schwester ... laß mir doch mein Wintermärchen. Mit wem kann ich so sprechen wie mit dir? Ich glaube gar nicht, daß du verheiratet bist. Du warst nur im Walde, und nun hab' ich dich wiedergefunden.«

»Für wie lange?«

»Für immer.«

»Was bist du für ein Kind, Harro!«

»Aber ein liebes Kind, ja?«

Sie versteckte die Hände im Muff und lächelte. »Es schneit, Harro. Sieh nur den stillen Hof auf der Höhe!«

»Ja, es schneit.« Er verlor sich in Gedanken. »Weißt du, Maja, ich möchte jetzt fahren bis an den Schwarzen Fluß. Am Wasser entlang gehen wir, durch den großen Wald. Das Ufer steigen wir empor, durch den kahlen Garten über dem schlafenden Dorf, und klopfen an die Tür. Beide kommen sie heraus und sind wirr vor Freude. Im grünen Ofen brennt das Feuer. Wir erzählen. Alles ist eng, bescheiden, und doch so hafenstill. Straßen sind fort, Häuser, Menschen, alles was bitter und ruhelos war ... Und dann gehen wir hinauf und sehen durch das kleine Fenster noch einmal über das Dorf. Der Mond steht über dem Walde, Häuser und Felder schlafen. Alles Wache aber ist doppelt selig. Das Feuer brennt im Ofen, und wir sitzen noch vor der knisternden Glut. Alt und müde, wie Kinder, noch etwas zitternd und verwirrt, aber zu Hause, geborgen. Gerettet aus diesem Wahnsinn, der uns das Blut aus der Seele trinkt ...«

»Schiffbrüchig«, sagte sie leise.

»Du armes Menschenkind, was hat man aus deinem Leben gemacht!«

»Ich selbst, Harro, ich selbst! Sei nicht ungerecht.«

Er öffnete das Fenster und ließ die Flocken in sein Haar treiben. »Vielleicht,« sagte er ernst, »wenn man zur Zeit hinausspringt ... wie aus diesem Zuge ...«

Sie antwortete nicht und blickte nur schweigend durch das geöffnete Fenster über die verschneite Ebene.

Dann stiegen sie aus. Die Haltestelle lag im Walde. Über den Schienen hingen die weißen Schnüre der Telegraphendrähte. In den Stangen flackerten die Klänge auf und nieder. Das Geäst der Sträucher, tief verschneit, spann weiße Fäden durch den Fichtenwald. Auf einem Steig schritten sie nebeneinander in das rieselnde Schweigen.

Ununterbrochen fiel der Schnee.

Harro blieb stehen und nahm Majas Hand. »Hörst du?«

»Ja, Harro.«

Die Wipfel rauschten, ganz hoch und ruhig. Ferne erklang der Schlag einer Axt.

Er zog ihren Arm unter den seinen. Auf der Höhe senkten sich die Schonungen zu ihren Füßen. In weißen Zweigen versank der Himmel. Sie standen am Ende der Welt.

»Ich möchte nicht mehr nach Hause«, sagte sie leise.

Ohne Weg und Steg kehrten sie zur breiten Straße zurück. Es dunkelte schon. Die Drähte brausten, und wie eine helle Brücke lief die Chaussee in das finstere Meer des Waldes. Ein Reh kreuzte vor ihnen den Weg und übersprang lautlos den Graben. Die Zweige schlugen hinter ihm zusammen. »Wie dunkel und weit der Wald ist, Harro!« Sie schauerte an seiner Seite. »Wenn wir verirrt wären und müßten uns suchen! Du auf dieser Seite und ich auf jener. Und müßten rufen, die ganze Nacht, im dunklen, weglosen Wald ... Laß mich nicht ganz allein, Harro!«

»Arme Schwester, du verirrst dich nicht mehr. Sieh, der Weg ist hell und weit.«

Eine trübe Laterne brannte an der Haltestelle. Die Schienen flimmerten in ihrem Lichtschein. Sie saßen auf der Bank vor dem kleinen Bahnhofsgebäude und sahen die Strecke entlang. Das weiße Kreuz an der Weiche leuchtete an der fernen Biegung. Von innen klang das Ticken des Telegraphen gleichmäßig durch die Stille, und ein Kind sang aus einer der Stuben, auf und nieder, immer die gleiche müde Melodie. Es brauste noch immer in den Telegraphendrähten.

»Maja,« sagte er traurig, »weshalb weinst du?«

»Ich weiß nicht, Harro ...«

Leise dröhnten die Schienen. Das Läutewerk tönte aus den dunklen Wäldern. Lichter sprangen auf, starr und feindlich, nahe bei einander wie Augen eines jagenden Tieres. Eine heiße Woge brüllte donnernd heran, zerstob in Dampf und Lärm und begrub die Stille. Der Zug war da.

Schweigend fuhren sie zurück.

Als sie sich durch die gefüllte Bahnhofshalle treiben ließen, fielen Harros Blicke auf ein Paar unweit von ihnen. Der breite Hut und das strohgelbe Haar der Dame waren ihm fremd, und als sie ihren Begleiter anblickte, sah er nur ein geschminktes, schon leise verwüstetes Gesicht. Ihr Begleiter aber, in dessen Arm sie vertraulich hing, war Obermeyer.

Harro schrak zusammen, und Maja folgte der Richtung seiner Augen. Sie trat schweigend zur Seite, aber sie konnte es nicht hindern, daß ein brennendes Rot langsam in ihre Wangen stieg.

Das Paar stieg in einen Wagen und rollte davon.

»Du hast es mir verschwiegen«, sagte Harro finster.

»Ach Harro,« antwortete sie müde, »wozu? Sonst ist er wohl vorsichtiger ... ich kann mich nicht beklagen ... ein Sohn seiner Väter.«

Vor dem eisernen Gitter hielt er ihre Hand. »Ich weiß noch nicht, was es ist,« sagte er, zerstreut über den dunklen Garten blickend, »aber vielleicht bereitet sich ein neues Leben in mir vor ...«

Sie nickte ihm zu und schritt den Gang zwischen den Edeltannen hinauf. Die schwere Tür fiel hinter ihr ins Schloß, und eine kleine Schneewolke stäubte vom Gesims über die große Laterne, die die Treppe beleuchtete.


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