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8.

»Komm, Harro,« sagte Simplizius, »du kannst heute mein Abendgebet mit mir halten.«

»Was für ein Abendgebet?«

»Du wirst sehen.«

Er rief seinen Hunden, und sie schritten langsam in den fallenden Abend hinein. Mit harter Lebendigkeit, fast aufdringlich, tönten ihre Tritte durch das Schweigen, so daß sie vorsichtiger die Füße im trocknen Laube hoben. Nebel lag über Wiese und Bruch, für alle Zeiten leer schienen die Wege, und Baum und Busch standen tief im Verlassensein.

»Simplizius,« sagte Harro wehmütig, »ich möchte sein wie der Wald, blühen und erfüllen und dann schlafen oder sterben. Tief unter der Rinde alle Sehnsucht verschließen und dann jedes Jahr neu erwachen zu neuer Erfüllung. Aber keinen Herbst, keinen Winter, keine tote Zeit.«

»Mein Harro, der Wald wird hundert Jahre alt und zweihundert, und seine Wipfel rauschen: ›Ich habe Zeit‹. Aber der Mensch wird siebzig Jahre alt, und sein Herz klopft: ›Ich habe keine Zeit‹. Nicht zum Träumen und nicht zum Schlafen. Jedes Jahr blüht der Wald, und tausendfältig ist die Liebe der Wipfel. Aber der Mensch blüht nur einmal, und er blüht einfältig. Und kommt dann einmal eine späte Blüte über Nacht, so ist sie nur wie Asternschein im Herbstgarten, bangend vor nahem Frost. Und die erste Blüte, Harro, sie ist so oft ohne Frucht. Denn der Menschen Liebe rauscht nicht zusammen wie die Liebe der Wipfel oder des Tieres Liebe, in einer Nacht über das ganze Land. Sondern sie sucht Tag und Nacht, das Leben lang, und findet selten.

Die andern aber suchen nicht lange. Sie stürzen sich in das erste Meer, das vor ihnen rauscht, und verströmen uferlos ihr Sein. Und heben sich fröstelnd, müde, erschrocken aus dem Wasser und hüllen sich wieder in ihr Gewand, und suchen irrend weiter bis an das nächste Meer. Jeder findet sein Feld, aber wenige finden ihre Ernte ... und vielleicht lebt man nicht, um zu blühen, sondern um zu sterben.«

»Man müßte sterben, wenn man blüht, Simplizius ...«

»Ja, vielleicht ist die Ernte ein Fluch des Samens ... es wird in deinem Leben ein Augenblick sein, Harro, wo du in höchster Lebenswonne denken wirst: ›Könnte ich jetzt sterben!‹ Aber es ist ein Augenblick, Harro, ein einziger! Und wenn er vorüber ist, kommt er niemals wieder. Denn dann bedenkst du, daß du die Seligkeit noch einmal kosten kannst, noch tausendmal, und in diesem Augenblick gehst du aus dem Paradiese, und du empfängst die Furcht vor dem Tode, eine blasse, elende, erbärmliche Angst, die Angst des Tafelnden, daß seine Speisen erkalten könnten, oder versinken, und der in Gier und Bangen rafft und schlingt. Heilig ist vielleicht nur das Einmalige, das Geborenwerden und das Sterben. Und das andre ist ein wüstes Spiel, Laufen und Gefangenwerden. Einer nach dem andern wird eingeholt und angeschlagen und schleicht sich scheu zur Seite, fort von dem großen Plan. Er kommt nicht wieder ... Und wenn du hinausgehst, Harro, um dich mitzustellen in den Kreis, dann wird auch dich die Hand einholen und leise deine Schulter berühren. Dann wirst du dich umsehen, tief erschüttert, wenn deine Hand den Bogen führt, oder wenn deine Lippen sich zu andern neigen, oder wenn du einsam durch den Herbstwald gehst. Und du wirst ihn erblicken, der aus Spiel und Tanz dich fortruft. Deine Karte ist abgelaufen, du hast genug gesehen, und hinter den Türen stehen schon die andern, viele, viele, die auf den Plan wollen ... Und vielleicht ist es besser, nicht mitzuspielen, wo die Lippen lachen und die Augen weinen. Vielleicht ist es besser, auf den Stufen zu sitzen und schweigend hinauszublicken über Tag und Nacht ...«

»Das Einmalige, sagtest du, Simplizius ... immer und überall?«

»Immer und überall! Das Einmalige ist göttlich, das andre ist menschlich. Das erste ist Schauder, das andre ist Lust.«

»Aber es treibt mich, Simplizius! Es treibt mich wie auf Schwingen, über Lachen und Weinen, über Sieg und Sturz, hinaus und hinaus! Vielleicht blüht es doch irgendwo, ganz im weiten, wonach man die Arme breitet, der Frühling ohne Ende, der Weg, auf den die dunkle Hand nicht reicht, der Schauder ohne Lust ... Vielleicht sind sie alle durch ein falsches Tor gegangen, vielleicht gibt es irgendwo eine stille, dunkle Pforte, und ihr Riegel springt auf, wenn man das Wort weiß, das Rätselwort, das im Walde rauscht und das man nie versteht ...«

»Sie gehen alle durch dasselbe Tor, durch das auch du gehst, Harro, durch das Tor der Jugend, der Liebe und der Sehnsucht, und niemals findet ein Menschenkind die dunkle Pforte. Das Tor des Lebens und das Tor des Todes stehen unverrückt von Anfang an. Dein Weg kann lang oder kurz sein, hell oder dunkel, aber niemals geht er um die ehernen Flügel. Immer gehst du einmal aus dem Paradiese, und immer nimmst du einmal den Apfel, den man dir reicht ... Wir sind wie ein Strom, der zum Meere zieht, und jeder Tropfen rinnt nach ewigen Gesetzen. Die Sonne leuchtet über ihm, der Regenbogen hebt sich auf, aber er selbst zieht dunkel und unaufhaltsam, getrieben und gezogen, durch das Land, und Tag und Nacht wechseln ungerührt über seinem Gesang ... Auch du wirst zurückkehren von den Festen des Lebens, müde die Schwingen, staubig das Kleid. Auch du wirst das Meer nicht überfliegen. Und wohl dir, wenn du im Abendlicht von[vor???] den Hütten der Heimat sitzen wirst und über die Wipfel sehen, wo die Feuer des Abends erlöschen über der gnadenreichen Nacht. Denn unsre Eltern sterben, und unsre Kinder verlassen uns, aber die Mutter Erde läßt uns nicht von ihrer Hand.«

Sie traten auf die Schonungen. Der Hochwald blieb zurück, ein Heer von glatten Schäften mit abendlichem Glanz. Einsam hob der Weg sich zur Höhe. Dort reckte aus Busch und Gesträuch eine Schirmkiefer ihren geraden, gewaltigen Stamm in den Himmel hinauf, einen zerrissenen Wipfel wie Fahnentuch um den Schaft und darüber einen grauen, trockenen Ast wie eine harte Eisenspitze, die nach dem Leib der Wolken drohte. Da stand sie gleich der letzten Lanze über niedergebrochenem Heer, und in ihrer Krone hing der Abendwind mit auf- und niedergleitenden Tönen.

»Hier ist es, Harro.«

Sie blickten über den Wald. Kein Laut zerriß mit lohendem Glanz das breite Bild. Nur Schonungen, grau und grün und blau bis an das ferne Ufer, wo des Hochwalds Masten im gelben Abendlicht die schweren Segel trugen. Kein Sturm ging über das Meer, kein Leuchten brach aus Wolkentoren, nur ein leises Weben war auf allen Seiten, in großem Rhythmus, wie schwankender Orgelton unter verdämmernden Bogen: »Ich bin ... der Wald ... der Wald ... der weite ... weite ... Wald ...« Kein Vogel rief, kein Wild trat heimlich aus unbewegtem Gebüsch. Schwere Wolken zogen, seltsam groß und klar, über das schweigende Rund und versanken wie sich bäumende Schiffe hinter dem Wald.

Da klang von ferne ein klagender Schrei, sechsmal, siebenmal sich hebend im Schlag der Flügel, und hingezogen ersterbend.

»Simplizius!« Er griff nach seinem Arm.

»Rühre dich nicht!«

Noch einmal schrie es über den Wäldern, näher rufend. Dann kam ein jagender, klingender Flügelschlag, und auf der Spitze der Kiefer schwang sich der Wanderfalke ein und wandte seinen kühnen Kopf über das Meer zu seinen Füßen. Hoch im leeren Grau saß er einsam, und seine Augen blickten königlich über die Wälder. Und noch einmal kam der klagende Schrei, der zwischen Wolken und Wald schmerzlich und jäh den Abend zerriß.

Und dann, wie er gekommen war, mit dem tönenden Flügelschlag, schwang er sich ab, warf sich über die Schonungen fort, über den hohen Wald, und ferne verklang der wilde Schrei, der das Schweigen zerschlug, daß man hinunterlauschte bis auf den Grund.

Die Hände gefaltet, mit starrem Blick sah Harro hinter dem Vogel her. Wortlos schied er von Simplizius, und über ihm rauschte auf dunklem Heimweg das Lied der Wipfel: »Ich bin ... der Wald ... der Wald ... der weite ... weite ... Wald ...«

Und so, das Bild des Vogels und seinen Schrei in der ergriffenen Seele, trat er in der Nacht in Magdas Zimmer.

Sie fuhr erschrocken aus den Kissen und ließ das Buch fallen, in dem sie gelesen hatte. »Harro, was fällt dir ein? Wie kannst du so unvorsichtig sein?«

Er lächelte trübe und setzte sich auf den Bettrand.

»Was ist dir, mein Junge? Was hat man dir getan?«

»Nichts ... ich habe gehört, wie der Wald rauscht und habe den Wanderfalken gesehen. Und nun sage mir: Was wird morgen sein? Was in einem Jahr? Wohin geht dies Leben?«

Sie schloß die Hände fest um die Decke und sah angstvoll in seine Augen.

»Ich wußte es«, flüsterte sie. »Du wirst mich anhören, Harro? Alles?«

»Alles.«

»Als du in dieses Haus kamst, Harro,« begann sie endlich, das Antlitz zur Wand wendend, »habe ich gelacht über dich, denn du warst anders als die Menschen, mit denen ich gelebt hatte. Aber das dauerte nicht lange, denn ich sah, wie hübsch du warst, ein Kind in allem, durstig und ungeküßt. Ich war schon ein paar Jahre allein, und das Leben war mir freudlos. Auch ich wollte übers Meer. Ich spielte mit dir, und das Spiel war hübsch. Und so gewann ich dich. Hedwig sollte dich nicht haben, und die andern auch nicht. Ich lächelte noch, während du schon branntest. Bis zur Schlittenfahrt. Da fiel deine Liebe über mich, und ich verlor das Spiel, indem ich es gewann. Denn ich wurde wehrlos, und aller Widerstand war nur ein süßer Rausch ... So süß war deine Liebe, aber der Sommer verging, und ich wußte, daß ich dich nicht halten konnte.«

»Und? ...« fragte er nach langer Pause.

»Da habe ich mich verlobt,« flüsterte sie, »mit ... ihm ...«

»Das sechste Gebot«, sagte er schwerfällig, mit weit offenen Augen auf das Fenster blickend, hinter dem die Buchen rauschten. »Aber das ist es nicht ... ich wußte schon ... das ist es nicht ...« Er beugte sich über sie und sah ihr mit grübelnder Qual in die nahen Augen. »Weshalb tatest du es? Bist du müde? Weshalb bist du müde?«

»Ich bin nicht müde«, antwortete sie scheu. »Nicht deshalb ... ich denke nicht ... an das ... bei ihm ...«

»Aber ich bin müde«, sagte er dumpf, fast verzweifelt. »Weshalb kannst du mich nicht erlösen? Antworte mir! Weshalb nicht?«

»Wie soll ich, Harro ...?«

Er schlug die Hände vor sein Gesicht. »Das Einmalige,« flüsterte er, »weshalb ist es nicht ewig? ... Ich starb, ja ich starb in deinen Armen. Alles schwieg, keine Stimme fragte, keine ... weshalb ließest du mich erwachen? Die Lust begann, die Qual der Lust. Im Gottesgarten fand ich dich, der erste Mensch, und in mich trank ich dich, daß wir eins waren ... Aber dann wurden wir zwei, und nun bist du entheiligt ... fühlst du das Leid?«

Sie sah ihn bange an. »Harro, ich bin doch so glücklich, wenn du bei mir bist ... was quälst du dich?«

»Du bist glücklich?« fragte er grübelnd. »Wie kann man glücklich sein? Ich gehe doch fort, wenn ... wenn dein Herz wieder still ist. Ich schließe die Tür, ich gehe durch das Haus, einen langen Gang, in eine andre Welt. Und du bleibst doch allein? Wo bin ich, wenn du allein bist? Außer dir, fort von dir, so ferne ... zwei Menschen! Verstehst du das, zwei Menschen?«

»Aber du kommst doch wieder, Harro ...«

Er lächelte wie ein Sterbender. »Ja, Magda, ich weiß ... das Blut ... mit dem Blute liebst du, arm und getrieben. Aber ich, mit der Seele liebe ich ... ach, so leer die Worte ... mit meinem Leben, mit aller Menschenqual ... Gott suche ich, verstehst du das?«

»Du bist meiner müde«, sagte sie bitter.

Er sah sie schwermütig an. »Nein,« antwortete er, »nicht deiner. Du verstehst mich nicht. Unsagbar schön und süß bist du. Aber du hast mich nicht getötet, als ich sterben mußte. Und nun muß ich fort, weiter, immer weiter, bis ich es finde. Auch eine andre wird es nicht sein, ich weiß es schon. Niemals vielleicht werde ich es finden ...«

Sie schlang die Arme um ihn. »Bleib!« flehte sie. »Geh nicht fort!«

»Wie ein Strom sind wir,« sagte er müde, »Tropfen um Tropfen ... wer darf bleiben?«

»Harro, geh nicht fort! Dein will ich sein, ganz allein. Verschwenden will ich mich, alles will ...«

»Wer darf bleiben?« wiederholte er abwesend. »Fort muß ich, aus dem Paradiese, ausgetrieben von meiner Stimme, und niemals komme ich wieder. Frau Marias Augen brennen mich, denn ich bin nicht mehr ihr Kind. Ich habe das Kind verloren in mir, ich habe geopfert, und ich bin nicht erhört worden. Nun ist es tot. Ein Mörder bin ich wie Simplizius. Wer wird es lebendig machen? ... Die Schwingen tragen mich, ich weiß nicht wohin ... aber sie rauschen, drohend und schwer, sie rauschen ...«

»Wie Schwäne in der Sommernacht«, flüsterte sie weinend. Er beugte sich vor, als lausche er einem fernen Klang. Aber in schwerem Gram erstickte das Wort. Da beugte er sich über sie und drückte seine Lippen auf ihren Scheitel. »Leb wohl ...«

»Harro!« Sie hob die Arme, und ihr Mund zuckte, hilflos und ohnmächtig wie eines Kindes Mund.

Er nickte ihr noch einmal zu, langsam und schwermütig. Dann schloß er die Tür hinter sich.

Lange lag er in seinem Zimmer im Dunklen, die Hände über der Brust gefaltet, und blickte auf die vergleitenden Bilder, die aus der Nacht sich hoben und wieder versanken. Schwerfällige Reiher über bewegtem Wasser. Birken am Schwarzen Fluß. Ein klagendes Lied auf dunklen Saiten ... Herr Immanuel tauchte auf wie aus moorigem Grund, hob mahnend seine schwammige Hand und nickte bedauernd. »Tja, ja, mein Sohn ... so geht das ...« Herr Leberecht saß unter den schweren Kastanien über dem Frieden des Dorfes, die Hände über dem Stock gefaltet, und sah bekümmert über die Brille zu ihm auf. »Die Bank, Harro, die Bank fürs Alter ... weiter nichts ... das Leben ist bitter ...«

Auch er versank. Majas ferner Blick, der durch die Räume ging, wie sie ihren blassen Kopf müde in die Kissen legte ... Herr Obermeyer ... es verschwindet ... es verschwindet ... im blauen Äther ... Er sah den braunen Scheitel und den zuckenden Kindermund. Der Sommer starb, die Orgel erklang im Walde. Sie hatten alle recht, Onkel Leberecht und Simplizius und Onkel Felix, alle die Alten, Einsamen. Wie der Wanderfalke waren sie, über dem Leben, über den Wassern, jenseits des grünen Planes.

Ihn aber hatte die dunkle Hand berührt, zwischen den Schultern, und er sah zurück. Er hatte geblüht, aber er war nicht gestorben. Er sah die edle Linie der schlanken Arme, die ihn geliebkost hatten, die Königin, hold und gnadenreich. Und mußte gehen. Das Kind rief im Walde, klein, blaß, im dunklen Kleid, und er ging ihm nach, über Moos und Moor, in die schweigende, flammende Nacht ... Geigen und schlafen. Am Rätsel vorbei. Auch Onkel Felix hatte es nicht gelöst, und Simplizius auch nicht. Er war das Wild im Dickicht, scheu und wund. Aber gelöst hatte er es nicht. Und alle hatten sie weißes Haar und traurige Augen ... Er selbst ging nun hinaus vom ersten Rätsel. Er hatte geglaubt, daß er es gelöst hätte, aber er hatte den Grund nicht gefunden. Er hatte seine betörende Süße gekostet und den Atem der Ewigkeit gespürt; aber es blieb etwas, das weiter rief, zu noch tieferem Grund, zu noch schwererer Süße.

Es rauschte hinter den Fenstern, groß und trübe, wie einsame Schiffe durch strömende Flut. Und rief auf den Weg, den man nicht kannte, aber den man gehen mußte, weil der Wind im Segel lag.

In Hut und Mantel klopfte er leise an die Türe und trat zu Onkel Felix ein. Er stellte den Geigenkasten auf den nächsten Stuhl und wartete.

Onkel Felix saß am Kamin, in dem das Feuer brannte. Er hatte eine Aster im Knopfloch, als warte er nur auf den Gongschlag, der ihn zum Essen rufen sollte.

»Es ist so spät, Onkel Felix, aber ich wollte dich noch sprechen.«

»Hier, nimm den Sessel, Harro. Da stehen Zigaretten. Möchtest du ein Glas Wein? Es ist kühl und spät ... und ich friere immer, immer.«

»Nein, Onkel Felix, ich möchte dir Lebewohl sagen ... ich will fort.«

»Im Mantel? So spät?« Er sah bekümmert über Harros Gestalt und blickte dann zerstreut in die knisternden Flammen.

»Ja, Harro, es ist merkwürdig ... so spät ... aber erzähle, Kind, erzähle.« Und er zog die Decke höher über seine Knie und faltete dann wieder, sich näher zum Feuer beugend, die Hände über dem Stock.

»Ich muß fort, Onkel Felix«, sagte Harro leise. »Noch heute nacht. Und du sollst Frau Maria sagen, daß ich aus dem Paradiese gehe. Sage ihr, daß mein Herz mir weh tut, aber ich bin nicht mehr ihr Kind. Sage ihr, ich habe meine Kindheit verloren. Ich bin in den Strom gegangen, und der Strom gibt mich nicht zurück. Sie wird mich schon verstehen.«

Onkel Felix nickte und sah mit trüben Augen in die Flammen. »Die Fische wandern, Harro ... das ist es.«

»Verstehst du mich, Onkel Felix?«

»Ich verstehe alles, was nach dem Rätsel sucht. Wenn man nicht weiß, ob man leben oder sterben soll, dann versteht man viel, Harro.«

»Und du ... würdest du auch gehen?«

»Der eine weint, Harro, wie Wittich damals. Der andre erschießt sich; der dritte geht fort ... es ist alles gleich. Wenn die dunklen Türen sich öffnen und es ruft, dann muß man gehen.«

»Und wird man niemals bleiben können?«

»Das eben ist das Rätsel, Harro. Die Liebe ist so seltsam. Man lädt dich ein, und die Kerzen brennen. Du setzest dich zu Tisch und ißt und trinkst, langsam oder hastig, wie du erzogen bist. Und dann wirst du müde und siehst dich um nach einem Ruhelager, denn du willst schlafen. Aber es ist keins da. Dann gehst du langsam aus der Tür. Man lädt dich wieder ein und wieder, aber nirgends kommst du zum Schlafen ... Und dann wirst du sehr müde. Dann heiratest du vielleicht, oder du häufst Geld zusammen, oder sammelst Münzen, oder verkriechst dich in die Wälder oder in ein altes, weites Haus. Und wartest. Sehr lange. Bis du schlafen kannst. Und dann ist es zu Ende ... Aber das Rätsel hast du nicht gelöst ... Und vielleicht, Harro, vielleicht sind die Lippen doch am süßesten, die man küssen könnte und doch nicht küßt.«

»Auch die andern sind süß, Onkel Felix«, sagte Harro schwermütig.

»Ja, ja, Kind, gewiß, die Frauen stehen vielleicht vor Gott.«

»Und wie soll man leben da draußen, Onkel Felix?«

»Man muß suchen, Kind, immer suchen. So viele Lippen lächeln dich an, und so viele Augen sehen zu dir, und überall kann das Wort sein, das du suchst. Viele Straßen gehen über die Erde, und hinter jedem Fenster spinnt der Webstuhl. Man muß suchen, Harro, aber man weiß nicht, ob man findet ... Wo wirst du jetzt hingehen, Harro?«

»In die Stadt, zum Professor.«

»Und dann?«

»Dann werde ich vielleicht spielen, in einigen Jahren.«

»Und dann?«

»Ich weiß nicht.«

»Dann wirst du vielleicht zurückkommen, Harro. Um zu warten. So ist das ... alles dunkel und seltsam.«

Harro stand leise auf und knöpfte seinen Mantel zu. »Jetzt will ich gehen. Leb' wohl, Onkel Felix.«

»Ja, es ist Zeit ... Leb' wohl! Du wirst uns schreiben, ja?« Harro nickte nur.

»Ja, mein Kind, es ist schwer ... Man könnte ja auch bleiben. Aber es ruft, immerzu ...«

Harro öffnete die Tür.

»Ja, und wenn du nicht gefunden hast, Harro, und du bist müde, dann komm' zurück, in dies alte Haus. Es wartet sich gut in alten Häusern, wenn der Park rauscht und der Regen tropft ... leb' wohl, leb' wohl!«

Und er schob sich schwerfällig durch das Zimmer an den Kamin zurück und sah wieder mit trüben Augen in die verglimmenden Scheite.

Harro aber schritt gebeugt durch die dunkle Nacht aus dem Paradiese heraus, und seine Schritte rauschten weithintönend im welken Laube.

Dann saß er an Frau Brigittens Bett und sah erschreckt in das veränderte Gesicht mit den trüben Augen und den bläulichen Ringen unter ihnen. Fremd, aus einer vergessenen Welt, mit den Spuren beginnender Verwüstung.

»Mutter,« sagte er leise, »du mußt mir helfen.«

Ihre schlaffen Wangen zitterten, und sie sah ihn hilflos an. »Ach mein Gott, wie du mich erschreckt hast, Harrochen! Und es wird erst Tag, und da kommst du wie ein Gespenst hier an.« Sie strich sich verwirrt mit den bebenden Händen das wirre Haar aus der Stirn.

»Ja, es wird Tag«, wiederholte er trübe. »Und deshalb mußt du mir helfen.«

»Was ist denn, Harrochen? Hast du was begangen? Waren sie schlecht zu dir? Erzähl' doch, Harro!«

»Sie waren viel zu gut zu mir, Mutter, und ich habe nichts Böses getan. Aber ich muß fort, in die Stadt. Noch drei, vier Jahre, dann werde ich spielen. Und für diese Zeit, Mutter, mußt du mich unterhalten. Nur die Zinsen meines Vermögens, nichts mehr. Aber du mußt den Stiefvater bewegen, daß er das tut, hörst du, Mutter?«

Sie nickte stumm und hob nur etwas den Kopf, wie um besser sehen zu können. Dann nahm sie mit den leise zitternden Händen ein langes, braungoldnes Haar von Harros Arm, brachte es dicht vor die Augen und zog es dann langsam zwischen zwei Fingern durch, wie um seine Länge zu prüfen. Sie nickte stumm, aber sie sah abwesend in den grauenden Morgen hinein und zog nur immer gedankenlos das schimmernde Haar durch die Finger. »So so,« sagte sie dann schwerfällig. »Ja ja ...«

Plötzlich sah sie ihm mit einer lebhaften Bewegung in die Augen und fragte mit leiser Spannung: » Unter deinem Stande, Harro?«

Er drückte die Nägel in das Fleisch seiner Hände und antwortete bitter: »Nein, über meinem Stande.«

Sie atmete erleichtert auf. »Dann ist es gut, Harro ... das heißt ... ich meine nur so ...« Und sie sah verlegen zur Seite.

Sie schwiegen. Grau sah der Morgen ins Fenster. Durch die Bäume des Ufers schimmerte fahl die große Fläche des Wassers.

»Willst du mir helfen, Mutter?« fragte Harro noch einmal.

Sie streichelte seine Hand. »Ja ja, Harrochen, natürlich. Sei nur ganz ruhig.«

Er sah sie nur dankbar an.

»Und wann willst du fort, Harro?«

»Heute, gleich! Fritz kann mich zur Bahn fahren, dann bekomme ich den Frühzug.«

»So wie du bist?«

»Ja, ja,« sagte er gequält. »Sie schicken mir alles nach.«

»Dann geh nach vorn, Harro. Ich muß dir doch Kaffee kochen. Vater ist noch auf dem See, sie fischen über Nacht.«

Als der Wagen aus dem Schuppen gezogen wurde, kam Herr Immanuel im Gummimantel mit hohen Stiefeln vom See herauf, laut mit Herrn Bumke sprechend, der sich atemlos den Uferhang hinaufarbeitete.

»Also jetzt ein Schnäpschen,« sagte Herr Immanuel behaglich im Flur, »fürs Herz und die umliegenden Weichteile, nich wahr?«

»Nischt zu machen, mein Sohn!« antwortete Herr Bumke stöhnend. »Nischt zu machen. Ein Schnäpschen ist für Damens, wenn sie schlafen wollen, alter Knabe, nich? Hähä ... tja. Nischt zu machen!« Und sie traten fröstelnd in das Zimmer, in dem Frau Brigitte mit Harro beim Kaffee saß.

»Nanu?« sagte Herr Immanuel verblüfft. »Vaflucht noch mal!«

Harro stand auf und gab ihm die Hand.

»Was ist denn los? Der Geigerkönig in unsrer armen Hütte?«

Seine Frau sah ihn bedeutsam an. »Ja, Harro muß auf ein paar Tage verreisen, und ... er wollte uns noch Lebewohl sagen vorher.«

»Das ist ja rührend nett,« bemerkte Herr Parplies vorsichtig.

»Wo geht denn die Reise hin, mein Sohn?« fragte er teilnehmend.

»Zum Konservatorium. Ich muß mit dem Professor sprechen.«

»So so! Das ist ja ... sehr interessant, tja!«

»Also ein Schnäpschen, Herr Bumke?« fragte Frau Brigitte lächelnd.

»Wenn ich bitten dürfte! Wenn ich bitten dürfte!«

»Du siehst nicht gut aus, mein Sohn«, fuhr Herr Immanuel vorsichtig fort. »Sehr blaß ... in der Tat.«

»Vielleicht verliebt der junge Herr, hm?« meinte Herr Bumke und kniff ein Auge zu. »Schloßfrau? Schloßfräulein? Nich übel, alter Junge, was?« Und er klopfte seinem Freunde mit plötzlichem schallendem Gelächter auf die Knie.

Harro sah ihn so haßerfüllt an, daß er ebenso plötzlich abbrach und verlegen in die Ecken sah. Dann drehte er seine gewaltigen Daumen und sagte bekümmert: »Tja ja ... so ist das ... so ist das ...«

Der Wagen fuhr vor. Harro zog schweigend seinen Mantel an, küßte seine Mutter und gab Herrn Immanuel die Hand. Herr Bumke pfiff leise durch die Zähne.

»Du!« flüsterte Herr Immanuel im Flur böse in Harros Ohr. »Alimente zahl' ich nich! Verstanden?«

Dann fuhr der Wagen ab.

»Ümmerhin interessant, mein Junge, nich?« bemerkte Herr Bumke und schenkte sich ein weiteres Schnäpschen ein. »Tja ja ... so geht das ...«


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