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7.

»Harro, du überarbeitest dich«, sagte Frau Maria und streichelte seine schmalen Wangen.

»Nein, nein! Ich werde bald siebzehn Jahre alt und kann noch so wenig.«

Er arbeitete wie im Fieber. Vormittags saß er über den Büchern, nachmittags spielte er, bis seine Hände zitterten, und spät in der Nacht leuchtete seine Lampe noch über den Park, um den die ersten grünen Schleier flogen. Die junge Leidenschaft brannte in seinen Adern. Frau Magda hielt sich zurück, und wenn Harro auf dem abenddunklen Korridor alle Vorsicht vergaß, machte sie sich hastig frei. »Mein lieber Junge ... bald, bald!« Und sie hob die Hand an die lächelnden Lippen und verschwand in ihrem Zimmer.

Oft saß Harro bei Simplizius auf der Bank unter dem Westgiebel und blickte schweigend über den Wald. Im Abendrot wuchs das Gebirge der Wipfel, und das Lied der Drosseln fiel wie Rausch über die Erde.

»Ob die Liebe Sünde ist, Simplizius?«

»Was die Erde tut, Kind, kann das Sünde sein? Und was ist Sünde?«

»Aber die Frauen, was sind sie? Und weshalb ist alles Rätsel an ihnen?«

»Du weißt, Harro, daß ich nicht mehr lebe. Und das Rätsel ist hinter mir. Aber wenn ich zurückdenke, an alte Tage, dann ist das vielleicht so: wir graben und graben in dunklen Schächten, mit keuchender Brust und blutenden Händen, um das Rätsel des Lebens zu lösen. Wir morden und brennen, wir bauen und zerstören, wie arme Wahnsinnige in fiebernden Träumen. Und indessen schreiten sie langsam und geheimnisvoll durch die Wüsten des Daseins, und Gärten erblühen unter ihren nackten Füßen. Unter ihren Händen springen die Riegel auf, und lächelnd enthüllen sich vor ihnen die Geheimnisse, um die wir gekämpft und geblutet haben.«

»Sind alle Frauen so, Simplizius?«

»O nein, Harro.«

»Und woran erkennt man sie?«

»Das ist schwer zu sagen, Kind ... weshalb möchte man knien vor dem Meere oder vor den Sternen?«

»Und soll man sie nur ... in Sehnsucht lieben?«

»Die Erde liebt nicht in Sehnsucht. Sommer und Winter, Samen und Ernte, Sehnen und Erfüllen: es ist alles ein großer Kreislauf, und auch ihre Seele schwingt darin.«

»Ich danke dir, Simplizius. Vielleicht ist das Leben doch nicht so schwer, wie ich manchmal denke ...«

Zu Harros Geburtstag blühte der Flieder. Seine Trauben hingen leuchtend im Grün des Laubes, und in der Nacht zog Woge auf Woge durch die geöffneten Fenster in das Schloß. Sie brachten schwere Träume, und bis zum Morgenrot irrten blasse Lichter um den Horizont. Onkel Felix saß lange auf der Terrasse und lauschte bekümmert auf fernes Lachen, das aus den Gängen des Parkes scholl. Sie gingen lange unter den dunklen Wipfeln auf und nieder, einsam, zu zweien und dreien, denn der Schlaf kam spät. Im Dunkel des Laubes ließ Magda für kurze Minuten sich finden und küssen, und die Horizonte flammten und versanken in schwerer Schwüle.

Am Vormittag saß Harro auf der Gartentreppe und spielte gedankenlos mit Hedwigs Hunden. Sein Körper war müde, und er dachte mit trüber Gleichgültigkeit an das verflossene Jahr. Er fühlte eine schwere Sehnsucht nach Frieden und Erlösung, aus der sein Leben klar und frei in die Ferne strömen sollte. Herr und Frau von Gontermann wollten am nächsten Tage mit Hedwig verreisen. Sie sah krank aus und sollte an die See. »Wenn Magda nicht gewesen wäre, so hätte ich mich vielleicht in sie verliebt,« dachte er grübelnd, »und wenn nicht in sie, dann in eine andre. Vielleicht geht es nur um das erste Geheimnis, und wenn es sich enthüllt hat, dann blicken meine Augen vielleicht ebenso nüchtern und alltäglich wie die der andern ...«

Hedwig kam von den Gewächshäusern her durch den Park. Sie schlug mit einer Haselrute taktmäßig gegen ihr Kleid und sah fremd über Harro hin. Im Vorübergehen rief sie die Hunde.

»Bleib hier, mein Wolf,« bat Harro lächelnd, »so hübsch ... so ... bleib bei mir!«

»Lassen Sie den Hund los!« Sie trat an die Stufen und sah ihn feindselig an.

»Bleib, mein braver Hund!«

Sie hob schnell die Gerte. Harro deckte unwillkürlich die Hände über das Tier, und der Schlag traf ihn hart und scharf über die rechte Hand. Er sah einen Augenblick gedankenlos auf den sich rötenden Strich über der blassen Haut. Dann stand er langsam auf, schob den Hund liebevoll zur Seite und ging mit stillem Gesicht ins Haus.

Bei Tisch sah Frau Maria den roten Streifen. »Was ist mit deiner Hand, Harro?«

»O nichts ... ein Ast schlug zurück und auf meine Hand.«

»Das ist nicht wahr«, sagte Hedwig ruhig. »Ich wollte Wolf schlagen und traf Harros Hand.«

Frau Maria sah aufmerksam von einem zum andern. »Das ist nicht hübsch, mein Kind.«

»Es ist doch nichts dabei, Frau Maria«, bat Harro verlegen.

»Es war mein Hund, und Harro hat ihn zu sich gelockt.«

Frau von Gontermann schüttelte schweigend den Kopf, und Magda warf einen prüfenden Blick auf Harro.

»Nun, nun ...«, sagte Onkel Felix lächelnd. »Nehmen wir an, Harro, es war ein etwas schmerzhafter Ritterschlag, nicht wahr?«

»Gewiß, Onkel Felix«, erwiderte Harro dankbar.

Abends saßen sie wieder auf der Terrasse. Die Wipfel standen regungslos vor einer drohenden Wolkenwand, die sich über den Park hob. Fledermäuse taumelten über den Rasen, und aus den Wiesen rief die Wiesenschnarre, unaufhörlich, als werde dort hinten im Nebel von eiligen Händen eine schartige Sense geschliffen.

»Wie die Sterne versinken«, sagte Magda träumerisch. »Kaum daß sie aufgegangen sind ...«

Signale zuckten hinter den Wäldern auf und tasteten wie hilferufend in die Nacht. Es grollte, ganz weit, wie heimlich bewegtes Erz.

Onkel Felix horchte in den Park hinaus. »Es ist so merkwürdig«, sagte er traurig. »In solchen Nächten glaubt man dicht vor dem Rätsel zu stehen, ganz dicht ... Einmal ging ich in solcher Nacht durch den Wald, es war so wie heute. Alles im blauen Licht, Flüstern und Verstummen ... Und da weinte ein Kind, dicht am Wege, im Wald. Ein kleines Kind, so hilflos, wie Kinder weinen, in großen, dunklen Häusern, wo alle fortgegangen sind. Mir schlug das Herz, aber ich ging hinein in den dunklen Wald. Ein Ast brach, und da war es still, ganz still. ›Wer weint da?‹ rief ich leise. Keine Antwort ... Ich lauschte, und das Herz schlug mir. Da weinte es wieder, tiefer im Wald und leiser. Ich ging weiter. Äste griffen in mein Haar, und es raschelte vor meinen Füßen. Und immer dies leise, erschütternde Weinen. Ich lief darauf zu, atemlos, Schweiß auf der Stirn. ›Wer weint da?‹ rief ich wieder. Meine Stimme war heiser. Keine Antwort. Der bläuliche Schein tastete wieder durch die Wipfel und lief über das Moos, auf dem ich stand. Langsam rauschten die Wipfel auf, vor mir, über mir, hinter mir ... als ginge jemand über den Bäumen. Dann weinte es wieder, aber ganz fern, und mir war, als sähe ich es über die Wurzeln laufen, klein, blaß, im dunklen, kurzen Kleid ...

Dann ging ich zurück auf den Weg, weil ich mich fürchtete. Nachher hat mir der Forstmeister gesagt, es sei wahrscheinlich eine Eule gewesen, die riefen so seltsam ... Aber ich sehe immer das Kind, wenn ich nachts im Walde bin, klein, blaß, in seinem kurzen Kleid ...«

Er schwieg, in Gedanken verloren. Näher flammten die Signale, und hinter den Wipfeln murrte es länger und drohender.

»Wir wollen Verstecken spielen«, sagte Hedwig. »Es ist so dunkel. Im ganzen Parke.«

Sie gingen zögernd die Treppe hinunter, dicht beieinander, und verloren sich dann in den Gängen, leise rufend und von Gebüsch zu Gebüsch schleichend.

Onkel Felix blieb allein auf der Terrasse und lauschte den ersterbenden Stimmen. »Hier ...«, rief es aus der Ferne, »hier ...« Leise begannen die Wipfel sich zu regen.

Harro war nach den Buchen gegangen, wo es dunkel war wie in einer warmen Gruft. Zuerst antwortete er, wenn es rief; dann trat er von dem Gang zur Seite und lehnte sich an einen der Stämme, deren tiefe Äste ihn verbargen. Bei jedem Aufleuchten erbebte er, und er drückte die Hände vor sein Gesicht, weil der Flieder duftete, als ob er töten wollte.

Eine Stimme rief in der Nähe. »Hier!« rief er laut und erschrak vor der flüchtenden Stille. Der Sand knirschte, und ein Frauengewand rauschte. Als es wieder aufflammte und er geblendet die Augen schloß, schlangen sich zwei Arme um seinen Hals, ein schwer atmender Körper preßte sich an ihn, und zwei heiße Lippen suchten brennend in seinem Gesicht, bis sie seinen Mund fanden. Eine Hand drückte sich zitternd auf seine Augen, und während seine Finger suchend über einen weichen Körper glitten, fühlte er in wehrloser Überraschung die Glut sinnloser Küsse. Dann stieß eine Hand ihn zurück, er hörte das Rauschen der Kleider und war allein.

Eine Weile stand er noch, leise nachschauernd unter der Wucht des Erlebens, dann lächelte er traumverloren, schritt tiefer in das Buchendach hinein und fand die Bank, wo Magda ihn erwartete.

»Eine andre hat mich geküßt«, flüsterte er, wie von Angst geschüttelt.

»Ah! ... Erzähle, Harro!«

Sie zog ihn so eng an ihre Brust, daß ihr Herzschlag ihn durchbebte. »Morgen fährt sie fort, Harro ... vergiß es.«

»Ich habe vergessen.« Er trank den Duft ihres Körpers, sinnlos, von Frost geschüttelt. Seine Hände vergaßen Gehorsam und Scheu.

»Harro ...«

»Ich kann ... nicht mehr«, klagte er. »Erlöse mich, oder ich sterbe.«

»Morgen, Harro.« Und ihr Kleid verschwand in der Nacht.

Das Wetter zog auf. Ein langer Blitz sprang jäh von Wald zu Wald über das klaffende Gewölbe, und der erste Donnerschlag wälzte sich brüllend von Wolke zu Wolke über die zitternde Erde und stürzte, lang nachhallend, über den brennenden Horizont, wie Berge von rollendem Erz in einem fernen, glühenden Ofen. Schon brach der Regen hernieder, und mit geschlossenen Augen, Lust und Schmerz um die bebenden Lippen, empfing der Knabe regungslos die warme, rauschende Flut.

Am nächsten Abend trat er müde und sehr ernst in das Speisezimmer. Der Tisch war klein geworden, und sie saßen näher zusammen. »Nun, Harro«, sagte Magda lächelnd. »Haben Sie das kleine Kind weinen hören, im dunklen, kurzen Kleid? Sie sehen so sorgenvoll aus?«

»Nein, ich habe nur an mein Leben gedacht.«

»Denken ist eine fatale Sache, Harro«, meinte Herr von Santen weise. »Macht früh alt und traurig. Geht auch ohnedem sehr hübsch.«

Harro lächelte müde. Dann spielte er im dämmernden Musiksaal das Lied von den blauen Schwingen. Magda kam herein, suchte ein Notenheft aus dem Schrank und stützte sich zuhörend neben ihn auf den Flügel. »Was fehlt dir, Harro?« fragte sie leise, als er geendet hatte.

Er wandte sich schweigend ab. Sie sah schnell nach der Tür, trat lautlos an seine Seite und schmiegte, ohne die Arme zu heben, ihr Gesicht an seine Wange. »Mein dummer, lieber Junge«, flüsterte sie und lachte leise. »So dumm, so dumm bist du.« Und sie drückte ihre Lippen an sein Ohr. »Komm um elf zu mir, hörst du?«

Dann ging sie aus dem Zimmer.

Harro saß in einem der Sessel. Die Geige lag auf seinen Knien, der Bogen berührte den Teppich. Vor einem der Fenster leuchtete in der Dämmerung ein blühender Apfelzweig. Auf ihn sah er lange hin, ohne Bewegung. Dann stieg er langsam die Treppe hinauf und legte sich auf das Ruhebett.

Lachen und Sprechen klang wie aus fernen Häusern durch das Fenster hinein. Die große Uhr im Speisezimmer schlug zehn langsame Schläge in das Schweigen. Eine Fliege glitt über die Saiten der Geige. Das Blut rauschte erschrocken auf und wurde wieder still.

Schritte kamen die Treppe empor und plaudernde Stimmen. Herr Bender klopfte leise an die Tür. »Schläfst du schon, Harro?« Seine knarrenden Stiefel entfernten sich, weiter und weiter, bis eine ferne Tür zuschlug.

»Mais vraiment! Vous verrez, ma chérie!«

»Non, non, c'est impossible ... bonne nuit, madame!«

»Bonne nuit!«

Es huschte an Harros Türe vorbei wie ein Hauch. Auf der andern Seite des Korridors verklang eine leise gesummte Melodie.

Als er in Magdas Zimmer trat, stand sie vor dem großen Spiegel und glättete langsam mit dem Kamme ihr gelöstes Haar. Sie hob nur die linke Hand, und durch das braune Gespinst sah er ihr unsicher, fast hilflos lächelndes Antlitz.

Stockend, wie ein Schlafwandler, überschritt er den Teppich, mit einer ungewollten Bewegung die Hände über der Brust kreuzend. Leise aufschlagend fiel der Kamm zu Boden. Da beugte er, unbewußt seiner Gebärde, die Knie und drückte seine Lippen auf ihre nackten Füße.

Als die Lanzen der Frühe aus blauen Wäldern schossen, schritt Harro den Waldweg zum See hinunter. Kuckucksruf läutete über den Wegen, und wie helles Erz schlug die Trompetenterz der Kraniche durch den Wald. Da breitete er die Arme, daß seine Hände die feuchten Zweige streiften und lief wie ein Verzückter den Pfad entlang.

In schimmernder Nacktheit glitt sein Körper in die aufrauschende Flut. Er sah auf seine Arme, die das Wasser teilten, und fühlte alle die brennenden, roten Küsse von seiner Haut sich spülen. Leicht trug die dunkle Tiefe ihn, und trunkenes Erinnern spannte seine Glieder, als könnte er sich heben aus sonniger Welle und mit weißen Schwingen emporsteigen über Hügel und Tal.

Dann lag er im warmen Moos des Waldrandes und drückte sein Gesicht in die Blätter der Maiblumen. In schweren Wellen strömte das Blut vom Herzen zurück. Alle bebenden Saiten waren schmerzlos entspannt, alle Tränen gelöst, und er sank und sank, aus erlöschendem Leben in ein anderes Sein ... Törichte Worte flüsterten sie, während kein Schleier seinen Händen wehrte, und ihr immer lächelnder Mund war wie ein Becher schweren Weines, aus dem seine Adern Feuer tranken. Nach dem Tode rief er in letztem, schlafumfangenem Wort ... Im Morgenlicht strich er das braune Geflecht von seiner Wange. »Königin,« flüsterte er, »holde, süße ... gnadenreiche ...« »Liebster Junge ...« »Nehmen möchte ich dich und dich auf meinen Armen tragen, durch den Wald bis auf den See, und mit dir in der Flut mich wiegen, wie Schwäne in der Sommernacht ...« Heller und heller wurde der Morgen. Hinter Nebeln sang die erste Drossel. »Es ist Zeit, Magda ...« Ihr Haupt sank an seine Brust. »Magda, hörst du ... die Wipfel rauschen.« Sie standen am offnen Fenster. Der Garten blühte. Um die Wipfel flog rötlicher Schein. »Magda, wie herrlich, wie herrlich ist das Leben!«

Die Wellen rauschten. Die Möwe schrie. Und leise fielen Harros Augen zu.

Sie saßen schon bei Tisch, als er ins Speisezimmer trat. Lächelnd verbeugte er sich vor Magda. »Ich bitte um Verzeihung, daß ich mich verspätet habe.« Und er legte behutsam die Maiglöckchen neben ihren Teller.

»Aber Harro ... wie hübsch!« Sie drückte die errötenden Wangen in die blassen Blüten.

»Du bist ja ein Kavalier, Harro«, sagte Herr von Santen anerkennend. »Und sie duften sehr hübsch.«

»Ja, ich liebe sie sehr. Der ganze Duft der Maiennächte lebt in ihnen.«

»Nun, Harro,« sagte Gerhard lächelnd, »hast du eine Erscheinung gehabt in der Frühe? Deine Augen leuchten so?«

»Ja, Gerhard, du hast recht. Mir ist die Maienkönigin erschienen, und ihre heiligen Hände haben mich gesegnet. Nun bin ich feuertrunken wie das Meer im Morgenrot!«

»Diese Künstler,« sagte Herr von Santen leise zu Magda, »sind doch ein seltsames Volk, nicht? Himmelhoch jauchzend, im Tode betrübt ...«

» Zu Tode, Herr von Santen, zu Tode ... aber es steht ihnen gut, nicht wahr?«

»Gewiß ... natürlich ... aber doch etwas wenig Haltung.«

»Ich verstehe. Nicht ganz korrekt.« Sie sah lächelnd auf Harro, der sein Glas an die Lippen hob.

Onkel Felix sah bekümmert über die fröhlichen Gesichter. »Vielleicht bist du verliebt, Harro?« fragte er zerstreut.

Harro lachte. »Die Maienkönigin hat mich geküßt, Onkel Felix, und nun weiß ich nicht, ob ich leben oder sterben soll.«

»Das ist ... sehr merkwürdig. Ich habe es auch nicht gewußt ... früher, als ich jung war.«

Dann hob Frau Magda die Tafel auf.

Der Flieder verblühte, aber die Rosen leuchteten Tag und Nacht. Fertige Nester hingen im dunklen Laub, die Lieder verklangen, und das Korn reifte. »Harro,« sagte Herr Bender wehmütig, »ich sehe die Zeit kommen, wo ich dich nichts mehr lehren kann. Du hast das Kostbarste, was ein Künstler haben kann, die Seele, die den Bogen lenkt, und deine Saiten klingen, als seien sie über die Brunnen der Tiefe gespannt.«

Harro sah träumerisch über den Park. »Ach, Herr Bender, ich muß noch lange, lange hier bleiben, bis ich die Brunnen der Tiefe erkannt habe.«

Tage und Nächte verrauschten ihm wie ein brückenloser Strom. Der Becher wurde nicht kühler, und der Wein wurde nicht schal. Sie trank seinen Körper und seine Seele, ohne Schonung und ohne Erbarmen. Denn sie wußte, es war ein Sommer, der nicht wiederkam.

»Harro,« sagte sie eines Nachts, »übermorgen kommt Hedwig zurück.«

»Was geht es mich an?«

»Viel!« sagte sie traurig. »Sie wird uns beobachten. Du wirst nicht mehr in mein Zimmer kommen können.«

Er wurde blaß. »Magda ... das kann nicht sein!«

»Es muß!«

»Dann werde ich sterben, Magda.«

Sie lächelte nur. »Man braucht nicht gleich zu sterben, Harro. Weißt du, wo der Pavillon am Weiher steht, hinter den Haselbüschen? Wo die Fichtenschonung an den See kommt? Wo die Moorhütte steht? Pagen lieben nicht nur in Sehnsucht, sie müssen auch in Gefahr lieben, verstehst du?«

Aber es blieb eine leise Wehmut über diesen beiden Nächten. Der erste Ton des Herbstes war erklungen, und eine krankhafte Glut erfüllte die Küsse, weil das graue Licht des Scheidens über ihnen war.

Als der Wagen von der Bahn kam, standen sie alle an der Treppe. Harro küßte Frau Marias Hände. Sie sah ihm prüfend in die Augen. »Bist du krank gewesen, mein Kind? Du siehst so verändert aus?«

Er beugte sich noch einmal über ihre Hände. »Gefalle ich Dir nicht mehr, Frau Maria?« fragte er leise.

»Mein liebes Kind!« Sie streichelte seine Wangen. »Aber du bist alt und blaß geworden.«

»Vielleicht ist es nur die Kunst«, sagte Herr Bender.

Er trat bedrückt zur Seite, und zum erstenmal fiel eine Last auf seine Seele. Er fühlte die heiße Röte seiner Wangen.

Hedwig gab ihm gleichmütig die Hand. Herr von Gontermann klopfte ihm wohlwollend mit den grauen Handschuhen auf die Schulter. »Ich glaube nicht, Harro,« sagte er mit nachdenklicher Ironie, »daß Sie jemals ein Monokel werden tragen können. Aber sie sind wieder gewachsen ... wir werden Ihnen einen Frack arbeiten lassen.«

In den ersten Tagen des September, an einem sonnigen Nachmittag, fuhren sie alle im langen Leiterwagen zum Moor, um Moosbeeren zu sammeln. »Den Kaffee also pünktlich vier Uhr!« rief Onkel Felix seinem Diener zu und hob mit zitternden Händen mahnend seinen Stock. Die Hufe der Pferde rauschten schon im trocknen Laube, und an Zäunen und Büschen hing der Altweibersommer. Schon war das Laub der Birken mit mattem Golde gestickt. Der Eichelhäher lärmte im Geäst; sonst stand der Wald wie ein dunkles, leeres Haus.

Harro saß am hinteren Ende des Wagens, mit dem Rücken zu den anderen, und sah schwermütig auf den verhängten Weg. Sein Leben floß in das Bild des Herbstes und formte sich zu einem ernsten Gesicht, das die mahnenden Augen bedeutsam zu ihm erhob. Seine Seele trug schwer am ersten Glück, und aus hastig und heimlich genossener Liebe blieb nur ein banges Klopfen im Herzen zurück. Langsam formte Seligkeit sich zu Schmerz, und im Rausch der Einheit dämmerte leise, aber immer gefühlt, die Erkenntnis des Unerlösten. Die Schwingen rauschten, auch im Schauer der Hingabe, und ohnmächtig tastete die Hand nach dem letzten Tor. Blickten nach solchen Stunden Frau Marias klare Augen ihn an, dann brannte unbewußte Scham in ihm, und er floh in dumpfe Einsamkeit. Schwermütig dachte er an den Winter, und weglos lag das Leben vor seinen Augen.

An den Brüchen trugen Onkel Felix und Gerhard mühselig trockene Aste zusammen, um ein Feuer anzuzünden. Harro empfing schweigend sein Körbchen und ging ins Moor hinein. Niedrige Birken leuchteten über Ried und Schilf mit stiller Flamme, und eine Bekassine strich mit taumelndem Fluge um ihre Zweige wie eine Motte um den Kerzenschein. Er stand lange, wie getroffen von einem Gleichnis eigenen Lebens, dem Bilde nachgrübelnd, dem er keine Helle Kraft entgegenzusetzen wußte, und wandte sich dann lustlos den Beeren zu. Magdas weinrotes Kleid schien unfern durch die Büsche. Herr von Santen, grau, korrekt, hielt sich an ihrer Seite, bückte sich dann und wann nach einer Beere und hielt häufig sein Einglas prüfend gegen die Sonne. »Auch er!« dachte Harro finster. »Was will er? Immer dasselbe ... und kann dies anders als einmalig sein, ohne Schmutz zu werden? Töten würde ich ihn, mit kalter Hand ... Und doch, ich selbst ... war sie nicht schon eines andern? O Qual über Qual ...«

Er ging abseits, wo kein Laut ihn erreichte, pflückte seinen Korb voll und saß dann müde auf einer entwurzelten Fichte, den Blick übers Moor gerichtet. Als der Wagen kam, riefen die fröhlichen Stimmen laut nach ihm. Schweigend ging er zum Feuer.

»Wunderhübsch«, meinte Herr von Santen anerkennend. »Sonne, Wald, ein kleines Feuer, frohe Menschen ... sehr nett. Ich werde doch auf dem Lande bleiben. Man ist ein kleiner König. Altes Haus, Park, Jagd, Verkehr ... das Leben ist doch nicht so übel. Und seht, Herrschaften, wie der Wald drüben blau ist und die gelben Birken dazwischen ... famos!« Seine Lider hoben sich, und er sah fast strahlend im Kreise umher.

»Wie poetisch Sie jetzt immer sind, Vetter!« sagte Frau Maria lächelnd. »Das soll meistens etwas Gutes bedeuten.«

Er verbeugte sich erfreut. »Vielleicht, vielleicht, Kusine ... man fühlt sich manchmal schon recht einsam ...«

Harro sah Frau Magda an. Sie verzog keine Miene. Unvermittelt fiel ihm Herr Obermeyer ein mit seinem kleinen, neugierigen Hasenkopf. Ihn fröstelte.

»Fabelhaft,« fuhr Herr von Santen träumerisch fort, »wie mich das hier an die Front erinnert ... Wald, Moor, blauer, hoher Himmel ... ganz fabelhaft! Und nun stellen Sie sich vor, meine Gnädigste, hier ein Graben und dort der feindliche! Kopf rausstecken? Ausgeschlossen! Und jede Minute fliegt eine Handgranate herüber. Schauderhaftes Gefühl! Aber wir haben's ihnen heimgezahlt! Verfluchte Hunde! Verzeihung, ich vergaß ...«

»Ich kannte den ... sozusagen ... besten Handgranatenwerfer des Heeres«, sagte Harro nachdenklich.

»Bitte? Wer soll das wohl gewesen sein?« fragte Herr von Santen verächtlich.

»Herr Obermeyer.«

»Wer ist Obermeyer? Obskurer Name!«

»Er hat Maja geheiratet. Jetzt macht er Fleischkonserven.« »Na also!« Herr von Santen stand auf, nahm einen Stein aus dem Moos und wog ihn in der Hand. »Fleischkonserven sind gut, aber sie zu machen? Weniger hübsch!« Und der Stein flog durch die Luft und schlug dumpf in die Porstbüsche.

»Oh, mon Dieu!« flüsterte Mademoiselle erschreckt.

»Nun, gleichviel«, sagte Harro aufstehend, und ein höhnischer Zug grub sich scharf in sein mühsam beherrschtes Gesicht. Nachlässig bückte er sich nach einem zweiten Stein. »Er war der erste, der mir erzählt hat, daß das Leben ein Drahthindernis sei und daß man vor allem Drahtscheren brauche.« Der Stein flog weit hinter dem ersten ins Moos. »Ich glaube,« fuhr er finster fort, »ich wäre ein ganz guter Handgranatenwerfer geworden ... mit den Drahtscheren will es mir nicht recht glücken ...« Und er nahm seinen Korb und ging in den Wald hinein.

Herr von Santen war peinlich berührt. Frau Maria stützte den Kopf in die Hand und sah bekümmert über das Moor.

Nach langem Suchen fand sie ihn. Er saß am Fuße einer Fichte, die Hände um die Knie gefaltet. Sie setzte sich neben ihn und strich mit den blassen Fingern leise über das Moos. »Harro,« sagte sie endlich traurig, »willst du nicht mehr mein Kind sein? Du verbirgst mir etwas?«

Er lächelte nur gequält.

»Ich möchte dir helfen, Harro ... wenn ich kann.«

»Mein Leben ist so dunkel, Mutter. Ich habe wieder Angst.« »Wovor, mein Kind? Das sind Stimmungen. Sie kommen und gehen. Bald wirst du uns verlassen und deine Kräfte spüren.«

»Nein, nicht das, nicht das!« Er legte seinen Kopf in ihren Schoß. »Mutter!« rief er leidenschaftlich flehend. »Verstoße mich nicht! Sieh mich nicht so an, daß ich mich verbergen muß! Hilf mir doch!«

Sie hielt die Hände über seinen Augen. »Kind,« sagte sie gütig, »mein liebes Kind, was sprichst du? Wie kann ich dich von meinem Herzen trennen? Niemals gehst du aus meiner Liebe, niemals!«

Er drückte sein brennendes Antlitz in ihre kühlen Hände. »Mutter,« sagte er leise, »ich muß dich etwas fragen ... wenn man ohne Eltern aufwächst und man weiß so wenig vom Leben, kein Verbot und keine Erlaubnis ... kann man tun, was das Herz uns sagt?«

»Ich glaube, Harro, daß du es tun kannst.«

»Mutter ... ist die Liebe ... eine Sünde?«

Sie lächelte in schmerzlicher Erkenntnis. »Mein Kind, die Dichter sagen, sie sei das Schönste auf dieser Welt, und ich habe immer gehofft, daß du später einmal eine gütige Frau finden möchtest, die Frieden in deine Seele bringt ... aber sie kann wohl auch unrein sein ...«

»Und wann ist sie unrein?«

»Wenn sie nicht nach der Seele fragt und ... die Gebote kennst du doch, Harro?«

»Ja, aber ... es gibt Gesetze ...«

»Sie sind vielleicht vor Gott anders als vor den Menschen«, sagte sie leise. »Und ... weiter nichts, Harro?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich danke dir, Mutter.«

Sie schwiegen lange. In der Ferne sangen sie ein Lied. Die Sonne sank hinter das Moor.

»Wie das Laub fällt!« sagte Frau Maria zusammenschauernd. Sie standen auf und gingen zum Feuer zurück. Es brannte noch mit niedriger Flamme, und Onkel Felix legte kleine Äste in die Glut. »Es wird kühl«, sagte er zerstreut und sah Frau Maria an.

»Ja ... der Herbst kommt ...«

Kurz vor Mitternacht warf Harro eine Decke um seine Schultern und verließ das Haus. Die Nacht war warm und ohne Sterne. Die Buchenkronen rauschten, und ein paar Regentropfen fielen in langen Zwischenräumen.

Als er vor dem Pavillon stand, hob er die gefalteten Hände ins Dunkel empor, als riefe er verzweifelt nach etwas Verlorenem. Dann trat er ein. Sie rief ihn leise zu sich. Er schlug die Decke um sie und drückte ihren Körper an sich, daß sie aufschrie. Eine Maus raschelte unter der alten Tapete. Schweres Brausen zog eintönig durch die Wipfel. Ein Haselzweig tastete über das Fenster. »Wie dein Herz schlägt!« flüsterte er erschüttert.

»Weshalb warst du so traurig heute, Harro?«

»Mein Herz war schwer ... ich kann ihn nicht ansehen, ohne ihn töten zu wollen ... und dann habe ich Frau Maria gefragt.« »Was?«

»Wann eine Liebe rein ist und wann eine Sünde.«

»Und was ... hat sie gesagt?«

»Wenn man nicht nach der Seele fragt und ... nach dem sechsten Gebot.«

»Ich werde es ihm sagen müssen«, dachte sie traurig. »Jetzt wird sie es ahnen, oder wissen ... es ist Zeit, es ist Zeit ... nur noch einmal, nur noch ein einziges Mal.«

Der Wind wurde stärker. Regentropfen schlugen an das dunkle Fenster. Sie erzitterte unter dem Brausen des Herbstes, der den Sommer nahm, und rang um das warme Leben in ihren Armen, das zu andrem Lande seine Flügel hob. Und sie fühlte die lautlose Gebärde verzweifelten Schmerzes, mit dem es sich ihrem Leben vermählte.

Als sie gegangen war, blieb er noch allein unter dem drohenden Atem der Nacht. Dann ging auch er ins Haus. Oben lehnte er sich aus dem Fenster und sah über den Park. Es regnete stärker. Der Wind zerriß die schwankenden Kronen, und es war Harro, als senke man dort hinten, im feuchten Dunkel, einen seltsam vertrauten Sarg in die tiefe Erde.


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