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Bei Guadeloupe.

Wir waren auf dem Wege nach Cuba und befanden uns in der engen Durchfahrt zwischen den Inseln Montserrat und Guadeloupe, kaum eine Seemeile von der Küste der letzteren entfernt. Bis zum Dunkelwerden hatte uns eine frische Brise begleitet, dann war es still geworden, und obwohl wir alle möglichen Segel gesetzt hatten, um jedes Lüftchen aufzufangen, hingen sie tot an Stengen und Masten nieder und unser Schiff lag unbeweglich. Ich war Untersteuermann und hatte die Abendwache. Eine herrliche blaue Tropennacht hatte sich auf uns niedergesenkt. Kein Wölkchen trübte den stahlblauen Himmel, unbewegt lag die mattschimmernde Meeresfläche, und in ihr spiegelten sich die größeren Sterne, während das Licht der kleineren neben dem des Mondes verblaßte, der vom Horizonte bis zu unserm Schiffe einen goldenen Weg auf das Wasser zeichnete und die Segel mit Silberglanz übergoß. Seine Strahlen spielten auch auf dem hellen Seestrande, blitzten auf den Schieferdächern der Häuser und ließen die weißen Mauern der kleinen Hauptstadt hell leuchten, während im Hintergründe die dunklen Umrisse des Guadeloupe durchziehenden Gebirgsrückens sich scharf gegen den Himmel abzeichneten und aus dem Krater ihres höchsten Gipfels, der Souffrière, Rauchsäulen emporwirbelten, welche dann und wann ein Feuerschein umränderte, der aus dem Innern des grollenden Vulkans emporzüngelte.

Ein von der Küste kommender leiser Hauch, der sich aber kaum am genäßten Finger fühlbar machte und nicht einmal die leichten Obersegel zu schwellen vermochte, trug einen würzigen Duft zu uns herüber, den Tausende von Blumen und Blüten nach dem Schwinden der Sonne in die Atmosphäre hinausgehaucht und deren kostbares Aroma ich mit voller Brust einatmete.

Vom Strande her schlug leises Rauschen der zu ihm aufrollenden Wellen an mein Ohr, sonst herrschte überall tiefes feierliches Schweigen, und es schien, als ob man auch an Bord sich scheute, dasselbe zu unterbrechen. Ein Teil der Wachmannschaft lag ruhend auf dem Deck, wenige andere unterhielten sich nur im Flüsterton. Der Ausguckposten vorn auf der Bank stand wie eine Statue und schaute traumverloren in die Nacht hinaus, die bei der herrschenden Windstille keine Gefahren barg, deren Nahen Aufmerksamkeit von ihm verlangt hätte, und seine Gedanken weilten wohl in weiter Ferne jenseits des Oceans bei seinen Lieben daheim.

Nicht einmal das Knarren des Steuerrades und das Rasseln seiner Kette in ihren Führungen ließ sich vernehmen, und nur unser Bootsmann, der auf dem Verdeck hin und her ging, unterbrach die Stille mit seinem gleichmäßigen Schritte, der wie der Takt zu dem eintönigen Rauschen der Wogen dort drüben am Ufer erklang.

Ich stand an die Verschanzung gelehnt; der eigenartige Reiz der nächtlichen Scene fesselte mich mit aller Macht, und mit regstem Interesse betrachtete ich lange durch das Fernrohr die im Mondlichte wechselnden Bilder, denen das Halbdunkel etwas Geheimnisvolles und Phantastisches verlieh.

Ich war so in das Anschauen versunken, daß ich nicht einmal das Herantreten des Kapitäns bemerkte, der noch lesend in der Kajüte gesessen, bis er mich mit den Worten anredete: »Darf ich einen Augenblick um Ihr Glas bitten, Steuermann?«

»Gern,« erwiderte ich, das Fernrohr dem alten Manne zureichend, der mir stets sehr wohlwollend gesonnen war, mich seemännisch erzogen und so manches Jahr in den westindischen Gewässern durchlebt hatte.

Er suchte eine kurze Zeit am Strande und hielt dann längere Zeit das Glas auf einen bestimmten Punkt gerichtet.

»Ja, ja!« sagte er, mir dasselbe zurückgebend, »er steht noch immer da, wie ich ihn schon so lange Jahre gesehen habe – armer Kerl!« fügte er mit einem Seufzer hinzu.

»Was meinen Sie, Kapitän?« fragte ich in lebhafter Neugier und schaute mit dem Fernrohr nach derselben Richtung. Dort etwas nördlich von der Stadt, unweit des sie beherrschenden Forts, traf jetzt mein Auge auf einen Gegenstand, der sich wie ein dunkles Nachtgespenst von der ihn umgebenden Sandfläche abhob, und bei dem unvermuteten Anblick konnte ich mich eines unwillkürlichen Schauderns nicht erwehren.

»Was für einen Zusammenhang hat es damit? Sie kennen ihn, das entnahm ich aus Ihren Worten; o, Sie müssen mir das erzählen, Kapitän,« bat ich dringend, und dieser willfahrte auch bald meinem Wunsche.

»Es ist eine traurige Geschichte,« begann er »ich erlebte sie mit, ja war leider gewissermaßen dabei beteiligt, als sie sich vor etwa vierzig Jahren dort drüben abspielte, denn so lange ist es wohl her. Ich war damals ein junger Mensch in Ihrem Alter, ebenfalls Untersteuermann und zum ersten Male in dieser Gegend. Wir passierten hier in der Regenzeit, und dann hat man fast nur schlechtes Wetter: wir mußten dem Sturm und der See jeden Schritt abkämpfen und die Reffe kamen fast nicht aus den Marssegeln. Als wir abends in diese Enge kamen, wehte es hart aus Nordwest, und dort drüben der Vulkan spie helle Flammen, wie er es gewöhnlich bei Unwetter thut. Wir mußten kreuzen, aber aus Besorgnis, daß uns die Strömung auf die Korallenbänke versetzen könnte, mußten wir schwer Segel pressen, um keine Abtrift zu haben, obwohl die Masten die viele Leinwand kaum zu tragen vermochten und unter ihrem Drucke stöhnten und sich bogen wie Rohre.

Schwarze Wolken hingen tief und drohend vom Himmel herunter, als wollten sie sich auf unsern Köpfen lagern; es herrschte tiefe Nacht, man konnte keine zehn Schritte weit sehen, und nur das Meer schimmerte in grünlichem Scheine, wenn die Kämme der Wellen überbrachen und der Sturm ihren Gischt durch die Lüfte und über unser Schiff bis zu den Toppen hinaufjagte.

Dabei wuchs der Wind in den Böen so, daß wir notwendig Segel bergen mußten, um nicht die Masten zu brechen, und wir waren gerade dabei das Großsegel aufzugeien, als plötzlich der Angstruf des Ausgucks vorn erschallte: »Ruder in Lee! Segler rechts voraus!«

Kaum aber waren die Worte aus seinem Munde verhallt und ehe noch eine Speiche des Ruders gedreht werden konnte, da war auch schon das Unglück geschehen.

Mit donnerndem Krachen stießen die Fahrzeuge aufeinander; unser Bugspriet brach wie Glas, ebenso kam unsere Vorstenge und Bramstenge mit den Rahen von oben, aber den Fremden, der über den andern Bug lag, und den wir mit unserer schnellen Fahrt quer und mitschiffs getroffen, ereilte ein furchtbareres Schicksal.

Wir waren bedeutend größer als er und tief geladen, während jener sich als ein leichter Schuner herausstellte; wir hatten ihn mitten durchgeschnitten; ein Todesschrei rang sich aus dem Wasser, der mir heute noch in den Ohren gellt, dann verschwanden die beiden Hälften des Schiffes in der Tiefe.

Einen Augenblick standen wir wie erstarrt; das Unheil war zu plötzlich über uns gekommen, dann rüttelte uns die Stimme des Kapitäns auf. »Peilt die Pumpen!« erschallte sein Kommando, und wir warteten in tödlicher Spannung des Ergebnisses. Mußten wir doch darauf gefaßt sein, daß bei einem so furchtbarem Stoße auch unser Schiff schwer beschädigt sei und gleichfalls sinken könne.

»Das Schiff ist dicht,« rapportierte der Zimmermann, als der Peilstock trocken aus der Pumpe heraufkam. Uns fiel bei den Worten ein Stein von der Brust, wir hatten Schlimmes erwartet.

»An die Besansgeitaue!« kommandierte jetzt der Kapitän. »Braßt die Hinterrahen lebendig; auf mit dem Ruder!«

Alle Mann brauchten nicht gerufen zu werden; die Freiwache war von selbst aus den Kojen gesprungen und an Deck gekommen, so daß es nicht an Mannschaft zur Ausführung der gegebenen Kommandos fehlte. Blitzschnell flog der Besan zusammengeschnürt unter die Gaffel, die Rahen wurden aufgebraßt und das Schiff vor den Wind gebracht, um wieder an den Ort des Zusammenstoßes zu gelangen, den wir schon 1000 Schritt hinter uns gelassen.

Als wir denselben erreicht zu haben glaubten, legten wir das Schiff bei, warfen alle möglichen schwimmfähigen Gegenstände über Bord, um etwaigen Überlebenden Gelegenheit zur Rettung zu geben, und machten die Boote zum Gebrauch fertig.

In den Böen wehte es schwer, und es stand eine himmelhohe See, so daß ein leichtes Boot kaum in ihr leben konnte, aber wer denkt in solchen Augenblicken daran? Nicht einmal der Kapitän that es, geschweige denn wir übrigen. Auf uns allen lastete es wie ein Alp, als ob wir das Unglück verschuldet hätten, während doch nur die tiefe Finsternis es herbeigeführt, und es drängte uns mit Gewalt, dasselbe wieder gut zu machen, soweit dies überhaupt möglich war.

Wir alle lauschten gespannt in die Nacht hinaus. Bisweilen glaubte der eine oder andere menschliche Laute zu vernehmen, aber es war nur das Heulen des Sturmes oder das Brausen einer in der Ferne überbrechenden See.

»Dort höre ich einen Schrei, diesmal irre ich mich nicht,« rief jetzt der Obersteuermann erregt, »er kommt von vorn!« und es war wirklich so. Wir alle hatten ihn vernommen, klar und deutlich klang es zu uns herüber. Der Wind war einen Augenblick eingelullt, eine Täuschung nicht möglich, und es konnte nur ein Hilferuf gewesen sein, dort rang ein Mensch mit dem Tode.

»Das Leeboot hinunter, schnell Jungens!« befahl der Kapitän.

Wir sprangen hinein, ich voran, nicht allein, weil mein Herz mich dazu trieb, sondern weil ich auch bei solchen Gelegenheiten als Untersteuermann das Boot zu führen hatte.

Bei den heftigen Bewegungen des Schiffes in der aufgeregten See war es keine leichte Arbeit, das Boot von seinen Krähnen zu Wasser zu führen. Mehr als einmal drohte es an der Bordwand zu zerschmettern, aber schließlich gelang es doch, dasselbe ungefährdet hinunterzubringen.

Solange wir uns noch unter dem Schutze des Schiffsrumpfs an dessen Leeseite befanden, ging auch alles gut. Die Leute legten sich mit aller Kraft hinter die Riemen, und das Boot schoß schnell voraus, doch als wir frei vom Schiffe waren, kam eine schwere See angerollt. Sie wirbelte uns hoch in die Luft, um uns im nächsten Augenblicke wieder tief in das Wellenthal hinabzuwerfen, während ihr Kamm ringsum schäumte, gierig über unsern Dullbord leckte und das Boot zu füllen drohte. Es war ein Glück, daß wir gerade gegen die See aufzurudern hatten, um den Verunglückten zu erreichen, denn hätte diese uns quer gefaßt, so wären wir unbedingt verloren gewesen. Wieder und wieder schleuderten uns die Wogen auf und nieder, wie einen Fangeball, aber es gelang mir, das Boot mit dem Kopfe auf der See zu halten, und trotz des Sturmes brachten unsere braven Ruderer uns ziemlich schnell vorwärts.

Die Umrisse des Schiffes verschwanden allmählich in der Dunkelheit, und nur das Flackern des Lichtes seiner ausgehängten Laterne gab uns noch einen schwachen Anhalt für die von uns einzuhaltende Richtung.

Überall umfing uns tiefe Nacht und drohte uns grause Gefahr, aber niemand achtete ihrer, denn wiederum schlug jetzt jener Hilferuf an unser Ohr, diesmal ganz nahe, aber schwächer, gurgelnd, wie das letzte Stöhnen eines Sterbenden.

»Holt aus, Jungens, was Ihr könnt,« ermunterte ich die Ruderer, »dort auf dem schimmernden Kamm der See scheint etwas Dunkles zu treiben – wir sind ganz nahe dabei.«

Es bedurfte nicht dieses Zurufes, die Leute hatten ebenfalls den Laut vernommen und gaben ihre letzte Kraft aus, um vorwärts zu kommen. Galt es doch, einen Mitmenschen aus Todesnot zu retten, und dafür wagt der Seemann freudig das eigene Leben. Die eschenen Riemen bogen sich unter dem Druck der nervigen Arme wie Halme, und wunderbar schnell schnitt das Boot durch die schäumende Flut, die ihren leuchtenden Gischt wie feurigen Regen über uns sprühte.

Jetzt waren wir in unmittelbarer Nähe des Gegenstandes. Ich ließ die Leute die Riemen beiklappen, und während das Boot noch eine Strecke vorausschoß, trieb jener längseit; ich beugte mich über die Bordwand und griff nach ihm.

Mein Herz pochte laut vor freudiger Erregung; ich hatte einen Menschen erfaßt, der krampfhaft ein Brett umklammert hielt, und mit vereinten Kräften gelang uns es bald, ihn in das Boot zu ziehen.

Er lebte, aber die Besinnung war ihm geschwunden. Um ihn zu retten, bedurfte es schleuniger ärztlichen Hilfe; doch woher sie nehmen? Erst jetzt kamen wir zum Bewußtsein unserer eigenen bedrohten Lage, die uns unsere Aufregung bis dahin gar nicht hatte erkennen lassen. Wir waren Tausende von Schritten von unserm Schiffe entfernt und vergebens sahen wir uns nach der Laterne um, sie war spurlos verschwunden. Wir hatten keinerlei Anhalt mehr für die Richtung, die wir einzuschlagen mußten. Ruderten wir auf gut Glück vor dem Winde zurück, so war es wahrscheinlich, daß wir das Schiff verfehlten oder eine der schweren Seen uns überrannte und uns in die Tiefe senkte.

Es wehte jetzt stellenweise noch härter als zuvor, und unsere einzige Rettung lag in der Hoffnung, die Küste von Guadeloupe und eine ihrer kleinen Buchten zu erreichen, in der wir Schutz finden konnten; an der offenen Küste, auf welche in schräger Richtung der Wind stand, wären wir von der Brandung offenbar zerschmettert worden.

Der leuchtende Krater der Souffrière gab mir ungefähr den einzuhaltenden Kurs an. Ich konnte dabei den Kopf des Bootes fast gegen die See halten, und wenn es auch immer ein gefährliches Wagnis blieb, mußte es unternommen werden; es war unser einziger Ausweg.

Wir waren jeden Augenblick gewärtig, das Schlimmste zu erleben, aber eine schützende Hand bewahrte uns. Unschädlich rollten die mit donnerndem Brausen überbrechenden Sturzseen unter uns fort, auf deren Kamme unser tapferes Boot wie ein Kork schwebte. Allmählich erblickten wir als dunklen Streifen die Küste, welche höher und höher aus dem Wasser emporwuchs, und verheißungsvoll blitzten am Lande einige Lichte auf, als wollten sie uns den richtigen Weg zeigen.

Dann aber sahen wir uns plötzlich in der Brandung und unser Atem stockte. Ringsum schäumte und kochte und brodelte es wie in einem Höllenkessel; unwillkürlich schlossen wir die Augen, weil wir unsere letzte Stunde gekommen glaubten doch – wo die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten; das sollten auch wir erfahren. Eine sich vorstreckende Landzunge brach plötzlich den gewaltigen Anprall der Wogen; eine ruhige Bucht mit stillem Wasser hatte uns aufgenommen, und nach wenigen Minuten glitt das Boot sanft auf weichen Sandstrand – wir waren gerettet.

Kaum hundert Schritte vom Ufer erblickten wir ein Gebäude. Wir trugen den noch immer besinnungslosen Fremden hinauf und baten um Hilfe. Es war ein dem Gouverneur gehöriges prachtvolles Landhaus, wie alle dergleichen vornehmen Wohnsitze auf einem Hügel gelegen, um der kühlenden Seebrise während der Tageshitze freien Zutritt zu gewähren, und umgeben von schattigem Garten.

Der Eigentümer selbst war nicht anwesend, aber die Dienerschaft gewährte das Erbetene bereitwilligst. Wir wurden sehr gastfreundlich aufgenommen, man räumte dem Kranken ein Zimmer ein und sandte nach einem Arzte. Ebenso wurden wir selbst auf das beste verpflegt, und man versah uns mit trockenen Kleidern, um unsere von der See total durchnäßten am Feuer zu trocknen.

Nach kurzer Zeit traf der Doktor ein. Nach sorgfältiger Untersuchung erklärte er, daß der Verunglückte nur durch einen Schlag gegen den Kopf betäubt, sonst aber keine weiteren Verletzungen vorhanden seien. Die ärztlichen Anordnungen waren bald von Erfolg gekrönt; der Fremde kam zu sich, und der Doktor gab bei seinem Weggange die Versicherung, daß es nur einer kurzen, wenn auch sorgsamen Pflege bedürfe, um ihn völlig genesen zu lassen.

Ich erbot mich freiwillig dazu, während der Nacht bei ihm zu wachen. Ein gewisses Etwas zog mich zu dem Kranken; ich hatte ihn zuerst im Wasser ergriffen, und es war mir, als ob ich dadurch einen besonderen Teil an ihm hätte.

Während der Nacht lag er ziemlich ruhig, aber meistens mit offenen Augen. An einer goldenen Kette trug er ein Medaillon mit einem Kreuze darunter. Bisweilen erhob er ersteres, um es lange zu betrachten und dann inbrünstig zu küssen. Einige Male faltete er auch die Hände über dem Kreuz und bewegte die Lippen, als ob er betete.

In dem Medaillon sah ich das Bild eines jungen Mädchens von blendender Schönheit, und auch der Kranke war ein selten schöner Mann in der Blüte seiner Jahre und von vornehmer Erscheinung. Seine Gesichtszüge verrieten unverkennbar den Spanier, aber während der ganzen Nacht blieb er schweigsam, und nicht ein Wort kam von seinen Lippen, nur dann und wann entrang sich ein schmerzlicher Seufzer seiner Brust. Wenn ich ihm kühlende Umschläge auf den Kopf legte, warf er mir jedoch stets einen freundlich dankenden Blick zu, wenngleich sich darnach wieder tiefe Schwermut über sein Angesicht lagerte, als ob ein Druck auf seiner Seele lastete. Ich selbst enthielt mich ebenfalls, ihn anzureden, um so mehr, als ich der spanischen Sprache nicht mächtig war.

Gegen Morgen schlummerte er ein, und auch mich überwältigte nach den Aufregungen und den Strapazen des vergangenen Abends die Müdigkeit. Das Rasseln eines Wagens vor dem Hause weckte mich, als die Sonne schon ziemlich hoch stand; er brachte den Gouverneur von seinem Ausfluge zurück.

Der Sturm hatte nachgelassen, schönes Wetter mit klarem Himmel war zurückgekehrt, und durch das Fenster sah ich unser Schiff in der geschützten Bucht unweit des Strandes vor Anker liegen.

Da der Kranke noch schlief, ging ich hinaus, um Näheres zu erfahren. Meine Leute waren mit dem Boote bereits an Bord zurückgekehrt, doch kam in diesem Augenblicke der Kapitän mit der Gig an Land, dem ich über unsere Erlebnisse in der verflossenen Nacht Bericht erstattete.

Er war sehr in Sorge um uns gewesen und hatte uns verloren geglaubt, bis man in der Frühe beim Kreuzen nahe der Küste unser Boot entdeckte und die Mannschaft bis auf meine Person wohlbehalten am Strande stehen sah. Der Kapitän wollte einige Tage in der Bucht vor Anker bleiben, um die erlittenen Havarien auszubessern, und gestattete mir auf meine Bitte gern, den Verunglückten, für den ich eine merkwürdige Sympathie empfand, weiter zu pflegen, solange der Aufenthalt unseres Schiffes währte.

Als ich wieder das Zimmer betrat, schien in seinem Befinden eine bedeutende Besserung eingetreten zu sein. Er war wach, wandte sich lebhaft zu mir und redete mich spanisch an, um, als er bemerkte, daß ich nicht die Sprache verstand, mich auf englisch, das ja die Weltsprache der Seeleute ist, zu fragen, wie er hierher gekommen.

Ich teilte ihm die näheren Umstände mit, wie wir ihn gefunden und nach welchen großen Fährlichkeiten es uns gelungen sei, ihn und uns selbst zu retten, wie freundlich man uns in diesem, dem Gouverneur gehörigen Hause aufgenommen, und daß letzterer vor kurzem selbst eingetroffen sei.

Als ich dies erwähnte, ging eine plötzliche Veränderung mit ihm vor. Totenblässe deckte sein Gesicht; er erfaßte das Medaillon, preßte es an sein Herz, murmelte einige für mich unverständliche Worte und sank wie vernichtet in die Kissen zurück.

Ich erschrak heftig, glaubte, ein Rückfall sei eingetreten, und schickte mich an, ihm neue Umschläge zu machen, als er sich hastig wieder aufrichtete und meine Hand ergriff.

»Wohin ist Ihr Schiff bestimmt?« fragte er unvermittelt und in höchster Aufregung, indem seine dunklen Augen sich brennend auf mich richteten, als hinge von der Antwort sein Leben ab.

»Wir gehen zuerst nach Jamaika und von dort über Dominika zurück nach Europa,« erwiderte ich auf das höchste erstaunt über sein eigentümliches und mir unerklärliches Wesen, sah aber, wie er dem Anschein nach bei dem Worte »Dominika« freudig zusammenzuckte.

»Sie haben mich aus dem Wasser gerettet,« sagte er dann in feierlichem Tone, »und mich, einen Ihnen gänzlich Unbekannten, wie einen Bruder gepflegt; Sie müssen ein guter Mensch sein. Wollen Sie auch die letzte Bitte eines Sterbenden erfüllen?« Dabei ergriff er meine Hand und sah mich mit einem flehenden Ausdrucke an.

Ich war ganz verblüfft bei dieser unerwarteten Frage; »Wie kommen Sie dazu, an das Sterben zu denken?« erwiderte ich nach einer Pause. »Sie sind ja auf dem Wege, in kurzer Zeit wieder völlig gesund zu sein, und der Doktor hat uns versichert, daß Ihnen nichts Bedenkliches fehle.«

»Meine Tage sind gezählt,« entgegnete er, den Kopf schüttelnd und mit demselben feierlichen Ernste. »Ich habe Vertrauen zu Ihnen und wiederhole noch einmal: wollen Sie meine Bitte erfüllen und dadurch einem unglücklichen Menschen in seiner Sterbestunde einen letzten Trost gewähren?«

Ich fühlte mich seltsam durch seine Worte und sein Wesen bewegt. Es kam mir der Gedanke, daß am Ende der Schlag gegen den Kopf doch traurige Folgen nach sich gezogen habe und er irre rede, aber um ihn zu beruhigen, antwortete ich ohne Zögern: »Von Herzen gern!«

»Dank, dank!« tönte es wie ihn erlösend von seinen Lippen. »Der liebe Gott schenke Ihnen seinen reichsten Segen dafür. Wenn Sie nach Dominika kommen …«

In diesem Augenblicke wurde er durch das Öffnen der Thür unterbrochen. Es war der französische Gouverneur, der von dem Verlangen getragen, selbst nach seinem Gaste zu sehen, in Begleitung des Arztes in das Zimmer trat.

Kaum hatte er jedoch einen Blick auf den Kranken geworfen, als er förmlich zurückprallte und in höchster Erregung ausrief: »Was sehe ich, Don Ramiro, hier in meinem Hause?«

»Sie haben recht, Senor,« erwiderte der Angeredete resigniert in derselben Sprache. »Ich bin es, und Sie mögen über diese Fügung erstaunt sein. Mein Geschick hat sich erfüllt, heute Nacht habe ich meinen Frieden mit Gott geschlossen und bin bereit, vor sein Angesicht zu treten. Sie haben nichts mehr zu fürchten, alle meine Kameraden sind heute Nacht mit meinem Schiffe in die Tiefe gesunken, ich allein bin gerettet, um alle Sühne für die Vergangenheit auf mich zu nehmen.«

Der Gouverneur erwiderte nichts, aber er rief einige Worte durch die Thür, und kurz darauf betraten zwei Soldaten das Zimmer. Für mich war der ganze Vorgang unverständlich, aber eine eigentümliche Beklommenheit bemächtigte sich meiner, und ich schlich hinaus.

Bald nachher sollte ich leider eine Aufklärung erhalten, die mein banges Empfinden rechtfertigte; Ramiro wurde gefesselt an mir vorüber in das Gefängnis geführt. Bleich, aber gefaßt und in aufrechter Haltung schritt er zwischen den Soldaten dahin. Als er an mir vorbeipassierte, warf er mir einen schmerzlich traurigen Blick zu, der mir bis ins Herz drang.

Wie ein Lauffeuer hatte sich das Gerücht von Ramiros Gefangennehmung durch die Stadt verbreitet. Alt und jung strömte zusammen, um den gefürchteten Seeräuber zu sehen, der jahrelang die westindischen Gewässer unsicher gemacht hatte, von dem sich das Volk grausige Geschichten erzählte, der bereits zweimal auf der Insel gefangen gewesen und ebenso oft auf unbegreifliche Weise entflohen war.

Und dennoch begleiteten ihn keine Ausbrüche von Verwünschungen oder Rohheiten. Es war, als ob seine Erscheinung aller Blicke gefangen nahm, und man schaute nur stumm und wie vom Mitleid bewegt auf den Mann, der einem schimpflichen Tode entgegenging.

Was für ein merkwürdiges Ding ist doch ein Menschenherz! das fühlte ich auch an meinem eigenen. Ich erschrak zwar auf das heftigste, als ich die unerwartete schreckliche Kunde erhielt, aber anstatt Abscheu vor dem Räuber und wahrscheinlich auch Mörder zu empfinden, fühlte ich nur tiefes Mitleid mit dem Unglücklichen.

Ja, es stieg sogar wie eine Art Vorwurf in mir auf, als ob ich selbst an seinem traurigen Geschick gewissermaßen mit Schuld trüge. Hatten wir darum unter so großer eigener Lebensgefahr mit Sturm und See gekämpft, den armen Sünder dem Wellengrabe abgerungen, um ihn dem Henker zu überliefern?

Der Gouverneur traf seine Anstalten, um Ramiro nicht zum dritten Mal entschlüpfen zu lassen. Bereits am selben Nachmittage erhob sich jener Galgen dort, der seine Arme gespenstisch in die Lüfte streckt, um den längst schon zum Tode Verurteilten am nächsten Morgen zu richten.

Tieftraurig ging ich an Bord zurück, und während des ganzen Tages quälten mich düstre Gedanken. Abends erschien auf unserm Schiffe ein Gefängnisbeamter, um mich zu dem Spanier zu geleiten. Dieser hatte sich die Erlaubnis dazu als letzte Gunst vom Gouverneur erbeten, und sie war ihm nicht versagt worden. Ich traf ihn gefesselt und auf das schärfste bewacht, um ein abermaliges Entrinnen unmöglich zu machen, aber trotzdem ließ man uns doch kurze Zeit allein.

»Nehmen Sie meinen herzlichen Dank, daß Sie gekommen sind,« sprach er, »und Mitleid mit einem Manne haben, der morgen mit Recht dem Henker überantwortet werden wird. Sie haben versprochen, meine letzte Bitte zu erfüllen, und nach dem, was Sie aus Menschenliebe bereits für mich gethan, darf ich mich darauf verlassen, daß Sie Ihr Versprechen halten.«

»Wenn Sie nach Dominika kommen, suchen Sie das Haus des Don Ricardo auf, den jedermann dort kennt und übergeben Sie dies Medaillon an dessen Tochter Maria. Sagen Sie ihr, es sei mein Vermächtnis,« fügte er mit zitternder Stimme hinzu, »sie möge für mich beten.«

»Mein Name ist aber nicht Ramiro,« flüsterte er dann, »ich heiße Manuel Gonzalez. Niemand weiß hier davon, und auch Sie müssen mir versprechen, ihn hier gegen jedermann zu verschweigen, damit die Schande von meiner Familie fernbleibt. In Dominika wird er Ihnen jedoch den Zutritt zu Don Ricardos Haus und zu Maria schaffen. Sie werden dort auch wohl Näheres über meine früheren Schicksale erfahren, die mich zu dem gemacht, was ich bin, und werden mich dann bemitleiden. Sagen Sie Maria, ich sei vom gelben Fieber dahingerafft, die Wahrheit würde die Ärmste töten. Und nun leben Sie wohl,« schloß er, da in diesem Augenblicke der Gefangenwärter in Begleitung eines Priesters die Zelle betrat. »Nehmen Sie nochmals den innigsten Dank eines tief Unglücklichen und beten Sie für seine Seele.«

Der Priester händigte mir auf des Gefangenen Wunsch das Medaillon ein. Auf das tiefste erschüttert verließ ich den Kerker, und in der Nacht floh mich der Schlaf.

Am andern Morgen bei Sonnenaufgang verkündete ein Kanonenschuß, daß menschliche Gerechtigkeit Sühne gefordert und gesunden hatte und eine sündige Seele vor ihrem höchsten Richter stand. Als das Leben entflohen war, hängte man den Leichnam des Gerichteten in Ketten auf.

Zwei Tage darauf gingen wir mit unserm Schiffe in See, aber lange vermochte ich den Eindruck nicht zu verwinden, den das Trauerspiel auf mich gemacht. Beständig verfolgte mich das Bild Manuels, den ich verdammen mußte und doch tief bemitleidete und bedauerte.

Einige Monate später trafen wir in Dominika ein. Es wurde mir nicht schwer, Don Ricardos Haus zu finden. Er gehörte zu den größten und angesehensten Grundbesitzern der Insel, und ebenso wurde ich sofort bei der Tochter vorgelassen, als ich mitteilte, daß ich mit einer Botschaft von Manuel Gonzalez käme.

Ich fand in ihr das bildschöne junge Mädchen, welches das Medaillon zeigte, aber auf ihren Wangen blühten Friedhofsrosen und ihre bleichen Lippen hatte der Tod geküßt.

Als ich ihr das Medaillon einhändigte, wußte sie sofort, was es bedeutete, ehe ich noch weiteres gesprochen, und sank mit schmerzvollem Aufschrei auf ihren Sessel. Ich holte Hilfe und wollte tieftraurig mich entfernen, als der Vater mich zurückhielt und mich nach den näheren Umständen fragte. Ich berichtete ihm, Gonzalez habe mit mir an Bord eines englischen Schiffes gedient, wir seien engbefreundet gewesen und er habe mich vor seinem am gelben Fieber erfolgten Tode gebeten, ihm diesen letzten Dienst zu erweisen; seine Leiche sei ins Meer versenkt. Damit schnitt ich alle näheren Nachforschungen ab und erfüllte die Bitte eines Sterbenden.

Manuel war der Verlobte Marias gewesen und gehörte wie sie einer der ersten Familien Dominikas an. Kurz vor der Hochzeit hatte ein Sohn des Gouverneurs in trunkenem Mute jenen schwer beleidigt und Manuel in aufbrausender Hitze ihn niedergeschossen. Er mußte fliehen, wurde entdeckt, bahnte sich mit fabelhafter Kühnheit kämpfend einen Weg durch seine Verfolger und tötete bei dieser Gelegenheit zwei der gegen ihn entsandten Häscher. Dann gelang es ihm, die Küste zu erreichen und auf einem Schiffe zu entkommen. Sein Vaterland war ihm dadurch auf immer verschlossen, er als Mörder gebrandmarkt und die Braut ihm verloren. Die Verzweiflung trieb ihn dann wohl auf den Pfad der Sünde; er wurde Seeräuber und endete am Hochgericht.

Zwei Jahre später kam ich wieder nach Dominika. Don Ricardo war gestorben, sein Haus verödet und unbewohnt. Als ich an einem Festtage die Kathedrale besuchte, sang dort eine Schar Nonnen das » De profundis.« Erschreckt blieb mein Auge auf einer derselben haften. Ich erkannte Maria; sie war noch wunderbar schön, aber der Todesengel schritt ihr zur Seite. Ihr Auge streifte mich, ich weiß nicht, ob sie mich erkannte, doch der Blick zitterte schmerzlich in meiner Seele nach, und ich wankte aus der Kirche.«

»Seit jener Zeit bin ich viele Male hier durchgekommen,« schloß der Kapitän, »und ich habe es nie unterlassen können, nach jenem Galgen dort und den Gebeinen des unglücklichen Gonzalez zu schauen. Es ist mir dann, als ob ich das Knirschen der Ketten vernähme und hörte, wie die in ihnen gebleichten Knochen gespenstisch rasselten. Die Erinnerung an jene schreckliche Nacht und an den Unglücklichen, den sie hinaufzogen und dessen schönen jugendlichen Körper die Geier zerfleischten, wird dann stets in mir so lebendig, daß sie mich tagelang quält.«

Der alte Mann schwieg und blickte nach der Insel hinüber. »Dort kommt endlich die Landbrise, Steuermann,« sagte er nach einer Weile, »auf die wir so lange gewartet. Passen Sie auf, daß die Segel nicht back kommen. Der Kurs ist West zum Norden. Wenn etwas Besonderes kommt, sagen Sie Bescheid, gute Wache.«

Er ging in seine Kajüte. Ich ließ die Rahen brassen, nach wenigen Minuten schwellte der Landwind die Segel, und leise rauschend schnitt der Bug des Schiffes durch die Wasserfläche, während das Kielwasser einen schäumenden Streifen zog. Dann stand ich noch lange an der Verschanzung und schaute stumm und tief ergriffen nach dem Strande hinüber, bis die Umrisse der Insel verschwammen und sich in das Dunkel der Nacht tauchten.

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