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Zehntes Kapitel: Die Rasse in Utopien

I

Abgesehen von den einfachsten Begierden und Bedürfnissen schwankt die Seele des Menschen beständig zwischen zwei entgegengesetzten Trieben: dem Wunsch, die persönlichen Unterschiede geltend zu machen, also sich auszuzeichnen und der Angst der Vereinsamung. Der einzelne möchte hervortreten, aber nicht zu weit, andererseits möchte er in einer Gruppe, einem größeren Gemeinwesen untertauchen, aber nicht ganz. Dieses gewundene Hin und Her zieht sich durch alle Dinge des Lebens; die Menschen folgen der Mode, aber sie hassen immer fertig gekaufte Uniformen. Die Neigung, Herden zu bilden oder zu planen gehört zu der unverbesserlichen Natur des Menschen; sie ist eine von den großen natürlichen Kräften, die der Staatsmann benutzen, gegen die er aber auch eine wirksame Schutzwehr errichten muß. Das Studium der Herden und der Herdenideale, denen sich die Neigung der Menschen zuwendet und auf denen sie vielfach ihre Lebensführung und persönliche Politik aufbauen, ist das eigentliche Gebiet der Soziologie. Nun wird die Art der Herde, an die sich Männer und Frauen anschließen, zum Teil durch die Kraft und die Naturanlagen der Phantasie des einzelnen bestimmt, zum Teil durch die besonderen Ideen, die gerade in der Luft liegen. Sowohl nach ihrer angeborenen wie nach ihrer erworbenen Neigung können die Menschen sehr verschieden sein in ihrem Verhalten gegen dieses oder jenes größere Gemeinwesen, an das ihr sozialer Anschluß geschehen kann. Der »natürliche« soziale Anschluß eines Menschen gilt wahrscheinlich einem ziemlich unbestimmt gedachten Stamm, wie der »natürliche« soziale Anschluß eines Hundes einem Rudel gilt. Wie aber der letztere durch Erziehung so beeinflußt werden kann, daß der Anschluß an ein Rudel verdrängt wird durch den Anschluß an einen Herrn, so erfährt auch der soziale Anschluß des zivilisierten Menschen entsprechend seinem höheren Grad von Erziehbarkeit die auffälligsten Wandlungen. Aber die Gewalt und der Spielraum seiner Phantasie wie das Bedürfnis des Menschen nach Widerhall ziehen diesem Prozeß seine Grenzen. Ein hoch ausgebildeter, reifer Geist mag für seine Eigenschaften einen lückenlosen Anschluß suchen in der Vorstellung von einem höheren Wesen, das so fern und so unbestimmbar ist wie Gott, so umfassend wie die Menschheit, so weitreichend als der Zweck in den Dingen. Ich sage, er »mag«, aber ich glaube nicht, daß ein so exaltierter Anschluß je dauernd aufrecht erhalten wird. Comte legt in der Positiven Philosophie seine Seele sehr frei dar, und während er beteuert, auch die ganz ehrliche Absicht hat, sich stets an sein »Größeres Wesen«, die Menschheit, anzuschließen, kann der Neugierige verfolgen, wie er immer näher zu seiner geplanten »Westlichen Republik« zivilisierter Menschen hinkommt, und sehr häufig zu der kleinen, unbestimmten Gemeinschaft seiner positivistischen Anhänger. Auch die Geschichte der christlichen Kirche mit ihrer Entwicklung von Orden und Kulten, Sekten und Andersgläubigen, die Geschichte der vornehmen Gesellschaft mit ihren Zirkeln und Cliquen, und jede politische Geschichte mit ihren Ränken und geheimen Kabinetten zeugt dafür, daß im menschlichen Geiste ein Kampf vor sich geht, Anpassung zu suchen an eine Gemeinschaft, die weiter ist als das Ich, die aber doch die Fassungskraft der Phantasie nicht zu sehr anspannt oder gar übersteigt.

Der Staatsmann muß sowohl für sich wie für die andern diese Unzulänglichkeit der Fassungskraft und die Notwendigkeit wirklicher oder nur gedachter Herdenbildungen erkennen, um die Menschen in ihren praktischen Dienst für die Ordnung der Welt festzuhalten. Er muß Soziologe sein; er muß die ganze Wissenschaft der Herdenbildungen studieren mit Beziehung auf jenen Weltstaat, auf den ihn seine Vernunft und sein reifstes Denken hinweisen. Er muß sich der Entwicklung solcher herdenbildender Ideen widmen, die den Fortschritt der Zivilisation befördern. Er muß nach Kräften die Zersetzung solcher Herdenbildungen und die Zerstörung aller herdenbildenden Ideen fördern, welche die Menschen engherzig und in unvernünftigen Vorurteilen gegeneinander erhalten. Er weiß natürlich, daß wenige Menschen in solchen Dingen auch nur einigermaßen zuverlässig sind, daß sich derselbe Mensch in verschiedenen Launen und bei verschiedenen Gelegenheiten in gutem Glauben nicht nur an verschiedene, sondern an ganz entgegengesetzte größere Gebilde anschließen kann und daß vom Gesichtspunkt des Staatenschöpfers aus das Wichtigere an einer herdenbildenden Idee nicht so sehr ist, was sie stillschweigend ein-, als was sie stillschweigend ausschließt. Der natürliche Mensch merkt überhaupt nichts von seinem Anschluß, es sei denn, daß dieser gegen etwas gerichtet ist. Er schließt sich an den Stamm an, ist diesem treu, und damit bereiten ihm alle außerhalb des Stammes von selbst Furcht oder Mißvergnügen. Der Stamm verhält sich immer feindlich gegen die außerhalb seiner Gemeinschaft stehende Menschheit, zum mindesten in der Abwehr, gewöhnlich aber aus eigenem Antrieb. Die Idee des Gegensatzes scheint von der herdenbildenden Idee untrennbar zu sein; sie ist ein Bedürfnis des menschlichen Geistes. Wenn wir die Reihe A für wünschenswert halten, so sehen wir die Reihe Nicht- A als unerwünscht an. Beides ist so unzertrennbar verbunden wie die Sehnen unserer Hand: wenn wir den kleinen Finger auf die Handfläche legen, so biegt sich auch der vierte halb um, ob wir wollen oder nicht. Man kann hier auch anmerken, daß alle wirklich tätigen Götter, alle jene, die aus Herzensgrund verehrt werden, Stammgötter sind, und daß jeder Versuch, die Idee Gottes universell zu machen, mit moralischer Notwendigkeit den Dualismus und den Teufel nach sich zieht.

Wenn wir, soweit es der formlose Zustand unserer Soziologie erlaubt, die Herdenideen untersuchen, die den Menschen anscheinend befriedigen, so finden wir im Geist fast all unserer zivilisierten Zeitgenossen eine bemerkenswerte und ungeordnete Anhäufung derselben vor. Z. B. kommen und gehen über die geistige Chamäleonhaut unseres Botanikers alle möglichen Arten von Herdenideen. Er hat eine starke Zuneigung für die systematischen Botaniker gegenüber den Pflanzenphysiologen, die er in dieser Beziehung als liederliche und elende Halunken ansieht; aber er hat eine starke Zuneigung für alle Botaniker und überhaupt alle Biologen im Gegensatz zu den Physikern und allen, die sich zu den exakten Wissenschaften bekennen, denn diese sieht er in dieser Beziehung als stumpfsinnige, mechanische, häßlich gesinnte Schurken an. Nun hat er aber wieder eine starke Zuneigung für alle, die sich zu den Naturwissenschaften bekennen, im Gegensatz zu dem Psychologen, Soziologen, Philosophen, die er in dieser Beziehung als wilde, närrische und unmoralische Halunken ansieht. Ferner hat er eine starke Zuneigung für alle Gebildeten im Gegensatz zu den Arbeitern, die er in dieser Beziehung als betrügerische, lügende, faulenzende, betrunkene, diebische, schmutzige Halunken ansieht; sobald sie aber mit den anderen als Engländer zusammengefaßt werden – worunter, wie ich bemerken muß, in diesem Fall auch die Schotten und die Bewohner von Wales zu rechnen sind –, so hält er sie allen anderen Europäern für überlegen, welche in dieser Beziehung und so weiter ...

Nun erkennt man in all diesen Herdenideen und wechselnden Neigungen einen der Hauptfehler des menschlichen Denkens, der von der Voreingenommenheit für Klassifikationen herkommt. Siehe: Erstes Kapitel, 5, und Anhang. Die Notwendigkeit, Klassen zu unterscheiden, hat eine Neigung zu falschen und übertriebenen Gegensätzen erzeugt, und wir erfinden keine Bezeichnung, die wir nicht sogleich mit allem vollstopfen, was nicht zu ihrem rechtmäßigen Inhalt gehört. Man kann sich nichts so Ungereimtes denken, das die Leute auf diese Weise nicht leicht zusammenreimten; es gibt keine noch so zufällige Klasse, der sie nicht sofort tief unterscheidende Merkmale beilegen. Die siebenten Kinder der siebenten Kinder haben eine besonders hohe Einsicht; Leute mit einer bestimmten Ohrform begehen gewalttätige Verbrechen, Rothaarige haben Feuerseelen; alle Sozialdemokraten sind zuverlässige Leute; alle in Irland Geborenen haben eine lebhafte Phantasie, und alle Engländer sind Klötze; alle Hindus sind feige Lügner; alle Lockenköpfe sind gutmütig; alle Buckligen sind energisch und boshaft, und alle Franzosen essen Frösche. Solche sinnlose Verallgemeinerungen hat man mit größter Bereitwilligkeit geglaubt, und viele vernünftige, achtbare Leute haben nach ihnen gehandelt. Und wenn die Klasse gar die eigene Klasse ist, wenn sie eine der Herdenbildungen bezeichnet, an die man die eigene Tätigkeit anschließt, dann wird die Neigung überwältigend groß, alle Eigenschaften unter dieser Klasse und ihrer Gegenpartei zu teilen, wobei die eigene mit jeder wünschenswerten Auszeichnung vollgestopft wird.

Es gehört zur Schulung des Philosophen, daß er all diese Verallgemeinerungen mit Mißtrauen ansieht; es gehört zur Schulung des Utopisten und Staatsmannes – und alle guten Staatsmänner sind Utopisten –, in dieses Mißtrauen so etwas wie Feindseligkeit zu mischen. Denn grobe Klasseneinteilungen und falsche Verallgemeinerungen sind der Fluch alles wohlgeordneten, menschlichen Lebens.

II

Abgesehen von Klassen, Cliquen, Kreisen, Kasten und ähnlichen kleineren Herdenbildungen, die sich meistens mit den Einzelheiten und Kleinigkeiten des Lebens befassen, findet man unter den zivilisierten Völkern der Welt gewisse umfassende Typen herdenbildender Ideen. So vor allen die nationalen Ideen, die in ihrer Vollendung eine Gleichförmigkeit der körperlichen und geistigen Art verlangen, eine gemeinsame Sprache und Religion, einen besonderen Stil in Kleidung, Dekoration und Denken und eine feste Organisation, die nach außen mit vollkommener Einheit handelt. Die nationale Idee findet sich wie die gotische Kathedrale nie vollständig in allen ihren Teilen vor; aber in Rußland mit seinem hartnäckigen Beharren auf der politischen und religiösen Orthodoxie hat man etwas, was ihr sehr nahe kommt, ebenso in den inneren und typischen Provinzen Chinas, wo selbst ein fremdartiger Hut Feindseligkeit erweckt. In England kämpfte sie einen heftigen Daseinskampf unter der Regierung der ersten George durch alle diejenigen, welche die Staatskirche unterstützten. Der Gedanke von der grundlegenden Bedeutung der Nationalität ist so eingewurzelt im Denken und zwar mit der ganzen gewohnten Übertreibung, daß niemand lacht, wenn man von schwedischer Malerei und amerikanischer Literatur spricht. Ich will gestehen und selbst darauf hinweisen, daß meine eigene Befreiung von derlei Täuschungen noch so unvollkommen und unbeständig ist, daß ich mich an einer anderen Stelle dazu habe verleiten lassen, die besonders edle Art der englischen Phantasie kurz hervorzuheben. Siebentes Kapitel, 6. Schmeichelhafte Unwahrheiten über die englische Überlegenheit machen mir stets Freude, während ich sie entrüstet zurückweisen würde, wenn die Anwendung eine plump persönliche wäre. Ich bin auch stets bereit, die Landschaft, die Poesie, sogar die dekorative Kunst und die Musik Englands auf irgendeine geheimnisvolle und unantastbare Art für die beste zu halten. Diese Gewohnheit, alle Klassenabgrenzungen und besonders die, an denen man persönlich beteiligt ist, zu verschärfen, liegt in der ganzen Art des menschlichen Geistes und gehört zu seinen Fehlern. Wir können sie inachtnehmen und verhindern, daß sie große Ungerechtigkeiten begeht oder uns zu Torheiten verleitet, aber sie ausrotten, das ist etwas ganz anderes. Sie ist vorhanden und man muß mit ihr rechnen wie mit dem Steißbein, der Zirbeldrüse und dem Blinddarm. Ein zu beharrlicher Kampf gegen sie kann einfach zu ihrer Umkehrung führen, zu einer ungerecht fremdenfreundlichen Haltung, die ebenso unklug ist.

Die zweite Art herdenbildender Ideen, die sehr oft die Grenzen nationaler Ideen überschreiten und mit ihnen im Kampf liegen, sind religiöse Ideen. In Westeuropa tauchten echte Nationalideen zu ihrer gegenwärtigen hektischen Gewalt erst empor, nachdem der Stoß der Reformation die Menschen von der großen Tradition einer lateinischsprechenden Christenheit befreit hatte, einer Tradition, welche durch die katholische Kirche als eine Abart des alten lateinischsprechenden Imperialismus in der Herrschaft des Pontifex Maximus aufrecht erhalten worden ist. In der katholischen Kirche war und ist bis auf den heutigen Tag eine tiefe Mißachtung des örtlichen Dialekts und der Rasse vorhanden, die jene Kirche zu einer beharrlich zersetzenden Gewalt im nationalen Leben gemacht hat. Ebenso raumumfassend und ebenso gleichgültig gegen Sprachen und Völker ist die der großen arabischsprechenden Religion Mohammeds. Das Christentum und der Islam sind in der Tat von ihrer weltlichen Seite betrachtet unvollkommene Verwirklichungen eines utopischen Weltstaates. Aber die weltliche Seite war in diesen Kulten die schwächere; sie brachten keine ausreichend großen Staatsmänner hervor, um ihre geistigen Kräfte in die Wirklichkeit umzusetzen, und nicht in dem Rom der päpstlichen Herrschaft, nicht im Münster der Wiedertäufer sondern eher bei Thomas a Kempis und in Sankt Augustins Stadt Gottes müssen wir nach den Utopien der Christenheit suchen.

In den letzten hundert Jahren hat eine neue Entwicklung materieller Kräfte und besonders eine solche von Verkehrsmitteln viel dazu beigetragen, die Mauern niederzureißen, innerhalb welcher die Nationalität ihre Vorurteile ausbildete und dadurch die Ausdehnung und den Zusammenschluß einer so weltumfassenden Kultur möglich zu machen, wie sie das mittelalterliche Christentum und der Islam ahnen ließen. Der erste Ansturm dieser Entwicklung zeigte sich in der Welt des Geistes durch eine Erweiterung der politischen Ideale – Comtes »Westliche Republik« (1848) war die erste Utopie, die die Zusammenfassung zahlreicher Staaten forderte – durch die Entwicklung von »Imperialismus« an Stelle der Nationalpolitik und durch die Suche nach weiteren politischen Verbänden in Rassentraditionen und Sprachverwandtschaften. Der Anglo-Saxonismus, der Pangermanismus und ähnliches sind solche Ideen des Zusammenschlusses. Bis in die achtziger Jahre hinein war die allgemeine Richtung des fortschrittlichen Denkens einig mit der alten christlichen Tradition, die jede Rasse ignorierte, und das Ziel der liberalen Bewegung zur Ausdehnung war (soweit sie ein klares Ziel hatte), die Welt zu europäisieren, das Stimmrecht auf die Neger auszudehnen, die Polynesier in Hosen zu stecken und die wimmelnden Völker Indiens dazu zu erziehen, daß sie die wundervolle Ballade der » Lady of the lake« zu schätzen lernten. Stets mischt sich in menschliche Größe ein Gran von Unverstand, und wir dürfen uns durch die Tatsache, daß man in der mittleren Viktorianischen Zeit Walter Scott, das Stimmrecht und Hosen unter die höchsten Segnungen des Lebens zählte, nicht die sehr wirkliche Größe ihres Traumes von der Weltmission Englands verdunkeln lassen.

Wir Menschen der heutigen Zeit haben eine Gegenströmung erlebt gegen diesen Universalismus. Die großen geistigen Entwicklungen, die sich um Darwins Werk gruppieren, haben die Einsicht scharf ins Licht gerückt, daß das Leben ein Kampf ist zwischen überlegenen und minderwertigen Arten. Diese Einsicht hat den Gedanken unterstrichen, daß besondere Überlebensziffern in der Entwicklung der Welt von grundlegender Bedeutung sind, und ein Schwarm geringerer Geister hat ausgetüftelte und übertriebene Einzelheiten dieser allgemeinen Erkenntnisse auf die menschlichen Probleme angewandt. Diese sozialen und politischen Anhänger Darwins sind in eine deutlich erkennbare Verwechslung von Rasse und Nationalität und in die natürliche Falle patriotischer Eitelkeit geraten. Der Widerspruch der indischen und kolonialen Regierungsklasse gegen die ersten groben Anwendungen liberaler Grundsätze in Indien hat in Kipling, dessen Mangel an intellektueller Überlegung nur seine poetische Kraft gleichkommt, eine Stimme von nie dagewesener Durchschlagsgewalt gefunden. Die Suche nach einer Grundlage für einen neuen politischen Zusammenschluß durch vereinbare Sympathien auf Grund sprachlicher Verwandtschaft wurde stark beeinflußt durch Max Müllers unbegreifliche Annahme, daß aus der Sprache Blutsverwandtschaft zu erkennen sei, und sie führte geradeswegs zu wild spekulativer Ethnologie, zu der Entdeckung, daß es eine keltische Rasse gebe, eine teutonische Rasse, eine indo-europäische Rasse usw. Ein Buch hat in diesen Fragen ungeheure Wirkung gehabt, weil es im Unterricht verwendet wurde; ich meine J. R. Greens Kurze Geschichte des englischen Volkes mit ihrer grotesken Betonung des Angelsachsentums. Und eben jetzt rast die Welt in einer Art Delirium über Rassen und Rassenkampf. Der Engländer vergißt seinen Defoe Der echtbürtige Engländer. , der Jude vergißt selbst das Wort »Proselyt«, der Deutsche vergißt seine anthropometrischen Variationen, der Italiener vergißt alles, und sie alle sind besessen von der merkwürdigen Reinheit ihres Blutes und von der Gefahr der Befleckung, die in der bloßen Fortdauer anderer Rassen liegt. Dem Gesetz gemäß, daß jede menschliche Herdenbildung die Entwicklung eines feindseligen Geistes einschließt gegen alles, was außerhalb der Herde steht, erfolgen außerordentliche Verschärfungen der Rassendefinitionen: die Gemeinheit, die Unmenschlichkeit, die Unvereinbarkeit fremder Rassen wird stetig übertrieben. Die natürliche Neigung jedes menschlichen Wesens zu bornierter Einbildung auf sich und seine Art, die engherzige Herabsetzung alles Ungleichen, dies ist es, worauf diese Bastardwissenschaft spekuliert. Je mehr die Beziehungen der Nationen untereinander geschwächt werden, je mehr die Gegenwirkung durch den religiösen Glauben unterbleibt, desto furchtbarer werden täglich diese neuen, willkürlichen und unbegründeten Rassenvorurteile. Sie gestalten die Politik, sie beeinflussen die Gesetze und werden auch verantwortlich sein für einen großen Teil der Kriege, Härten und Grausamkeiten, welche die unmittelbare Zukunft für unsere Erde bereit hält.

Keine die Rasse betreffende Verallgemeinerung ist für die entflammte Leichtgläubigkeit der Gegenwart zu überschwenglich. Nie wird der Versuch gemacht, Unterschiede der angeborenen Art – die wahren Rassenunterschiede – und künstliche, der Kultur entspringende Unterschiede auseinanderzuhalten. Nie scheint man aus der Geschichte eine Lehre zu ziehen über den schwankenden Andrang des Zivilisationsprozesses bald in dieser Rasse, bald in jener. Die politisch herrschenden Völker der Gegenwart sieht man als die überlegenen Rassen an, einschließlich solcher Arten wie des Sussexer Ackerknechts, des Londoner Hooligan und des Pariser Apachen; die Rassen, die politisch augenblicklich nicht blühen, wie die Ägypter, die Griechen, die Spanier, die Mauren, die Chinesen, die Hindus, die Peruvianer und alle unzivilisierten Völker werden als die minderwertigen Rassen dargestellt, als ungeeignet, mit den ersteren auf gleichem Fuße zu verkehren, als ungeeignet zur Mischehe mit ihnen in jeder Hinsicht, als ungeeignet für jede entscheidende Stimme in menschlichen Angelegenheiten. In der Volksvorstellung des westlichen Europas sind die Chinesen hellgummiguttfarben und in jeder Hinsicht unsagbar greulich; die schwarzen Völker – die Völker mit Filzhaar und platten Nasen und ohne nennenswerte Waden – stehen nach neuerem Glauben nicht mehr innerhalb des Zaunes der Menschheit. Solcher Aberglaube entwickelt sich an den einfachen Linien populärer Logik. Die Entvölkerung des Kongo-Freistaates durch die Belgier, die furchtbaren Blutbäder, welche die europäische Soldateska auf der Peking-Expedition unter den Chinesen anrichtete, entschuldigt man als einen peinlichen, aber notwendigen Teil des Zivilisationsprozesses der Welt. Die weltumfassende Abschaffung der Sklaverei im neunzehnten Jahrhundert geschah gegen eine ungeheure, finstere Macht unwissenden Hochmuts, welcher, durch neue Täuschungen aufs neue gekräftigt, nun wieder zur Macht gelangt.

Die »Wissenschaft« soll angeblich der Rassenmanie ihre Bestätigung erteilen, aber nur die »Wissenschaft«, die sehr ungebildete Leute als solche ansehen, tut etwas der Art – die Wissenschaft der »popularisierenden Naturwissenschaften«. Was die Wissenschaft über »die Rassen des Menschen« zu sagen hat, findet man gedrängt dargelegt bei Dr. J. Deinker, in dem unter dem angegebenen Titel erschienenen Buch. Lies auch einen ausgezeichneten Aufsatz im American Journal of Sociology, März 1904: Die Psychologie des Rassenvorurteils, von W. S. Thomas. Hier kann man die Anfänge der Nächstenliebe unter den Rassen kennen lernen. Abgesehen von diesem oder jenem Pfuhl wilder Menschheit gibt es wahrscheinlich überhaupt keine reine Rasse mehr in der Welt. Die großen Kontinentalbevölkerungen sind sämtlich vielfache Mischungen aus zahlreichen und schwankenden Arten. Selbst die Juden weisen alle Schädelformen auf, von denen angeblich jede das Merkmal einer bestimmten Rasse ist, ferner eine ausgedehnte Farbenskala von dem Schwarz in Goa bis zur äußersten Blondheit in Holland – und eine ungeheure geistige und physische Mannigfaltigkeit. Sollten die Juden hinfort auf ewig alle Mischehen mit »anderen Rassen« einstellen, so hinge es von ganz unbekannten Gesetzen der Fruchtbarkeit, Übermacht und Veränderlichkeit ab, welcher Typus schließlich entstünde oder vielmehr, ob je ein bestimmter Typus über die Verschiedenheit zur Herrschaft gelangen würde. Ohne die Eingeborenen der englischen Inseln zu verlassen, kann man eine ganz ungeheure Typenskala finden: Große und Kleine, Glatthaarige und Lockige, Blonde und Dunkle, höchst Intelligente und unbelehrbar Beschränkte, Aufrichtige, Unaufrichtige und so weiter. Man ist natürlich geneigt, diese ganze Skala zu vergessen, sobald die Rasse in Frage kommt, entweder einen Durchschnitt oder ein ganz willkürliches Ideal als den Typus zu nehmen und nur an dieses Ideal zu denken. Das Schwierigere aber, das, was man tun muß, wenn man in dieser Erörterung zu gerechten Resultaten kommen will, ist, daß man sich diese Skala nach Kräften vor Augen hält.

Geben wir zu, daß der durchschnittliche Chinese wahrscheinlich der Farbe, ja, allen physischen und psychischen Verhältnissen nach vom Durchschnittsengländer verschieden ist. Macht das ihre Vereinigung auf gleichem Fuß in einem Weltstaat unmöglich? Was auch der Durchschnittschinese oder -Engländer sein mag, ist gänzlich ohne Bedeutung für unsern Weltstaat. Nicht Durchschnitte existieren, sondern Individuen. Der Durchschnittschinese wird dem Durchschnittsengländer nie und nirgends begegnen; nur individuelle Chinesen werden individuellen Engländern begegnen. Nun wird man unter Chinesen eine ebenso ausgedehnte Skala der Arten finden wie unter Engländern, und kein einziger Zug wird von allen Chinesen und von keinem Engländer dargestellt, oder umgekehrt. Selbst das schräge Auge ist in China nicht allgemein, und vermutlich hätten viele Chinesen bei der Geburt »untergeschoben«, weggenommen und zu ganz erträglichen Engländern erzogen werden können. Selbst nachdem wir die Verschiedenheiten in der Haltung, im Körperbau, in den moralischen Anlagen und so weiter, die die Folge ihrer ganz verschiedenen Kulturen sind, abgetrennt und ausgeschaltet haben, bleibt ohne Zweifel immer noch ein sehr großer Unterschied zwischen dem Durchschnittschinesen und dem Durchschnittsengländer übrig; aber würde der Unterschied größer sein als der, den man zwischen extremen Engländertypen findet?

Ich für mein Teil glaube es nicht. Aber offenbar kann eine genaue Antwort erst gegeben werden, wenn die Anthropologie sich weit exaktere und erschöpfendere Forschungsmethoden und eine weit genauere Untersuchung zu eigen gemacht hat, als es ihre gegenwärtigen Hilfsmittel ihr erlauben.

Man bedenke, wie zweifelhaft und verdächtig die große Masse unserer Zeugnisse in diesen Dingen ist. Es sind dies außerordentlich feine Untersuchungen, und wenigen Forschern gelingt es, den Einschlag ihrer persönlichen Gedankenverbindungen daraus zu entwirren und die sonderbar verschlungenen Fäden der Eigenliebe und des Eigeninteresses, die ihre Forschungen beeinflussen. Aber während erst eine lange spezielle Ausbildung, eine hohe Tradition und die Möglichkeit des Lohns und der Auszeichnung den Mediziner instand setzen, an viele zugleich unwürdige und physisch abstoßende Aufgaben heranzutreten, sind die Leute, von denen wir unsere anthropologische Auskunft erhalten, selten Menschen von mehr als durchschnittlicher Intelligenz und stets ohne jede geistige Übung. Auch sind die Probleme weit trügerischer. Es bedarf mindestens der Gaben und der Ausbildung eines erstklassigen Romanciers, verbunden mit einer emsigen Geduld, die man wahrscheinlich in Verbindung mit jenen nicht erwarten kann, um die allseitigen Unterschiede zwischen Mensch und Menschen zu überspannen. Selbst wo keine Schranken der Sprache und Farbe vorliegen, kann ein Verständnis nahezu unmöglich sein. Wie wenige gebildete Leute scheinen in England die dienende Klasse oder den Arbeiter zu verstehen! Abgesehen von Bart Kenedys »Ein Mann auf den Wellen« weiß ich kaum noch von einem Buch, das ein wirklich mitfühlendes und lebendiges Verständnis für den Stromer, den Küstenseefahrer, den rauhen Burschen unserer eigenen Rasse zeigt. Gespenstisch tragische oder lustig komische Karikaturen, in denen sich die falschen Begriffe des Autors mit den Vorurteilen des Lesers verschmelzen und Erfolg erringen, sind natürlich ziemlich häufig. Und dann sehe man sich die Art von Leuten an, die ein Urteil über die intellektuelle Befähigung des Negers, Malaien oder Chinesen fällen. Es sind Missionäre, Eingeborene, Schulmeister, Arbeitgeber für Kulis, Händler, einfache, aufrichtige Leute, die das Vorhandensein irgendwelcher Irrtumsquellen in ihren Urteilen kaum ahnen, die außerstande sind, den Unterschied zwischen Angeborenem und Erworbenem zu verstehen, und gar, beides in seinem Gegenspiel zu unterscheiden! Hin und wieder meint man etwas wirklich Lebendiges zu sehen – z. B. in Mary Kingsleys elastischem Werk – und selbst das ist wieder nichts als meine Täuschung.

Ich für meinen Teil neige dazu, alle gegnerischen Urteile und alle Behauptungen über unüberwindliche Unterschiede zwischen einer Rasse und der andern außer acht zu lassen. Ich spreche mit allen über Rasseneigenschaften, die Gelegenheit zu genauer Beobachtung hatten, und ich finde, der Nachdruck, den sie auf diese Unterschiede legen, steht meist in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Intelligenz. Vielleicht liegt es am Zufall meiner Begegnungen, aber das ist mein klarer Eindruck. Gewöhnliche Matrosen reden in den weitestgehenden Verallgemeinerungen von Iren, Schotten, Yankees, Neuschotten und Holländern, so daß man zuletzt meinen könnte, sie sprächen von verschiedenen Tierarten; der gebildete Forscher wirft alle diese Täuschungen ab. Für ihn stellen sich die Menschen als Individuen dar, und wenn sie sich klassifizieren, so geschieht es auf Grund einer hautdünnen Zufälligkeit der Farbe, einer Eigenart der Zunge, einer Angewohnheit der Geste oder einer ähnlichen Oberflächlichkeit. Und schließlich steht heute wenigstens eine Art unbeeinflußten anthropologischen Materials zur Verfügung. Es gibt Photographien. Der Leser möge die Seiten irgendeines reich illustrierten Werkes durchblättern, wie die des Buches » Die lebenden Rassen der Menschheit« Die lebenden Rassen der Menschheit, von H. N. Hutchinson, T. W. Gregory und R. Lydekker (Hutchinson). und den fremden Gesichtern einem nach dem andern in die Augen sehen. Sind sie den Leuten, die man kennt, nicht sehr ähnlich? In den meisten Fällen wird es einem schwer, zu glauben, daß man bei gemeinsamer Sprache und gemeinsamen sozialen Traditionen nicht sehr gut mit diesen Leuten sollte auskommen können. Hier und dort findet man ein brutales oder böses Gesicht, aber jeden Nachmittag kann man auf einer großstädtischen Hauptstraße ebenso brutale und böse finden. Es liegen Unterschiede vor, kein Zweifel – aber fundamentale Unvereinbarkeit – nein! Von sehr vielen geht ein Strahl besonderer Ähnlichkeit aus, und sie erinnern einen stärker an diesen oder jenen Freund als an ihre eigene Gattung. Mit Staunen sieht man, daß ein guter Freund und Nachbar X und ein anonymer nackter Goldküstenneger einem und demselben Typus angehören, im Unterschied zu dem lieben Freund Y und einem strahlenden Individuum aus Somaliland, die ebenso gewiß zusammengehören.

In einer Hinsicht ist die oberflächliche und befangene Art der überlieferten Rassenverallgemeinerungen besonders auffallend. Eine große und immer wachsende Anzahl von Menschen ist überzeugt, daß Mischlinge besonders böse Geschöpfe sind – wie man es im Mittelalter von Buckligen und Bastarden annahm. Die volle Legende der Halbblütigen hört man am besten aus dem Munde eines betrunkenen, gemeinen Weißen aus Virginia oder vom Kap. Der Halbblütige, hört man, verbindet alle Laster beider Eltern, er ist trostlos arm an Gesundheit und Geist, aber rachsüchtig, gewalttätig und äußerst gefährlich, seine Moral – der gemeine Weiße legt hohe und anspruchsvolle Maßstäbe an – läßt sich in einem Salon nicht einmal flüsternd beschreiben, usw. usw. Es gibt wirklich kein Atom eines Beweises, den ein vorurteilsfreier Geist annehmen würde, zur Stütze eines derartigen Glaubens. Nichts läßt erkennen, daß die Kinder der Rassenmischung als Klasse von Natur in irgendeiner Hinsicht besser oder schlechter wären, als jedes der Eltern einzeln. Denn eine ebenso unbegründete Theorie behauptet, sie seien besser – eine Theorie, die in schöner Narrheit dargelegt ist in dem Artikel der Encyclopaedia Britannica über Shakespeare. Aber Theorien gehören zu dem ungeheuren Gebäude falscher Wissenschaft, das die wirklichen Ergebnisse des modernen Wissens erstickt. Vielleicht scheitern die meisten »Halbblütigen« im Leben; aber das beweist nichts. Sie sind in einer ungeheuren Zahl der Fälle illegitim und aus der normalen Erziehung beider Rassen ausgestoßen. Sie werden in Häusern aufgezogen, wo feindselige Kulturen miteinander kämpfen; sie arbeiten unter schwerster Benachteiligung. Es gibt eine flüchtige Andeutung Darwins zur Erklärung des Atavismus, die wohl die Theorie von der Minderwertigkeit der Mischlinge stützen könnte, wenn sie erwiesen wäre. Aber sie ist nie erwiesen worden, und es gibt keinen Beweis auf diesem Gebiete.

III

Angenommen nun, es gäbe so etwas wie eine in jeder Beziehung minderwertige Rasse. Ist das ein Grund, sie auf ewig in einem Zustand der Unmündigkeit zu erhalten? Ob es eine so minderwertige Rasse gibt, weiß ich nicht; aber sicher gibt es keine so überlegene Rasse, daß man ihr eine Vormundschaft über die Menschheit anvertrauen könnte. Die richtige Antwort auf des Aristoteles Begründung der Sklaverei, es gebe »natürliche Sklaven«, liegt in der Tatsache, daß es keine »natürlichen« Herren gibt. Die Macht darf Menschen ohne Disziplin und Selbstbeherrschung ebensowenig anvertraut werden wie der Alkohol. Der wahre Einwand gegen die Sklaverei ist nicht so sehr ihre Ungerechtigkeit gegen den Unterlegenen, als vielmehr ihre verderbliche Wirkung auf den Überlegenen. Mit einer wirklich minderwertigen Rasse ließe sich nur eins tun, was gut und logisch wäre: sie ausrotten.

Nun gibt es viele Methoden, eine Rasse auszurotten, und die meisten sind grausam. Man kann sie nach der alten hebräischen Art mit Feuer und Schwert vertilgen, man kann sie in die Sklaverei führen und zu Tode hetzen, wie die Spanier es mit den Kariben machten. Man kann ihr Grenzen ziehen und sie dann langsam mit verwüstenden Waren vergiften, wie es die Amerikaner mit den meisten ihrer Indianer machen; man kann sie anreizen, eine Kleidung zu tragen, die sie nicht gewöhnt ist, und unter neuen, fremdartigen Verhältnissen zu leben, die sie ansteckenden Krankheiten aussetzen, gegen die man selbst fest ist, wie es die Missionare mit den Polynesiern tun; man kann zum einfachen, ehrlichen Mord greifen, wie wir Engländer bei den Tasmaniern; oder man kann Verhältnisse schaffen, die zum »Rassenselbstmord« führen, wie es die englische Verwaltung in Fidschi tut. Wir wollen also einmal annehmen, es gäbe eine in jeder Hinsicht minderwertige Rasse. Eine moderne Utopie steht unter der strengen Logik des Lebens und müßte eine solche Rasse ausrotten, so schnell sie könnte. Im ganzen scheint die Methode von Fiji die am wenigsten grausame zu sein. Aber Utopien würde es ohne jede plumpe Rassenunterscheidung genau auf dieselbe Art und mit denselben Vorkehrungen tun, mit der es alle seine eigenen mangelhaften und minderwertigen Schichten ausrottet, nämlich, wie wir schon im ersten Abschnitt des fünften Kapitels erörtert haben, durch seine Ehegesetze und durch die Gesetze über den Minimallohn. Jene Ausrottung braucht niemals nach äußeren Merkmalen vorzugehen. Wenn sich manche aus der Rasse schließlich doch als zum Überleben fähig erwiesen, würden sie fortleben. Sie würden mit sicherer und automatisch wirkender Gerechtigkeit von der vorschnellen Verurteilung der ganzen Gattung ausgenommen werden.

Gibt es aber eine in jeder Hinsicht minderwertige Rasse in der Welt? Selbst der australische Schwarze ist vielleicht nicht ganz so sehr für die Ausrottung reif, wie ein guter, gesunder, pferderennender, schafzüchtender australischer Weißer glauben mag. Diese merkwürdigen kleinen Rassen, die Schwarzen, die Pygmäen, die Buschmänner haben vielleicht auch ihre kleinen Gaben, eine größere Schärfe und Feinheit dieses oder jenes Sinnes, eine Eigenheit der Phantasie oder ähnliches – und dies kann als ihr kleiner einzigartiger Beitrag zu der Gesamtheit unserer utopischen Zivilisation in Frage kommen. Wir nehmen an, jedes auf Erden lebende Individuum lebe auch in Utopien, und so sind alle überlebenden Schwarzen auch dort. Jeder von ihnen hat dort gehabt, was auf Erden keiner gehabt hat, gute Ausbildung und gute Behandlung, Gerechtigkeit und gute Gelegenheit. Wenn die gewöhnliche Anschauung über die Minderwertigkeit dieser Leute recht hat, so müßte daraus folgen, daß in Utopien die meisten von ihnen kinderlos sind und zum Minimallohn arbeiten; manche werden auch unter der Hand des verletzten Gesetzes jeder Möglichkeit der Nachkommenschaft entrückt sein; und doch – können wir uns nicht denken, daß einige dieser kleinen Menschen – die man sich weder nackt noch in europäischer Kleidung vorstellen darf, sondern nach utopischer Art gewandet – irgendeine feine Kunst gefunden haben, die sie ausüben, zum Beispiel irgendeine besondere Art zu schnitzen, und die Gott recht gibt, daß er sie schuf? Utopien hat gute Gesundheitsgesetze, gute soziale Gesetze, gute wirtschaftliche Gesetze. Welchen Schaden sollten diese Leute tun?

Manche mögen sogar wohlhabend und angesehen sein, mögen Frauen ihrer oder einer anderen Rasse geheiratet haben und so den unterscheidenden, dünnen Faden der Auszeichnung überliefern, damit er in dem großen Gewebe der Zukunft seine Stelle einnehme.

Und wirklich, wie ich in Utopien jene Terrasse hinwandle, sehe ich eine kleine Gestalt, ein helläugiges, bärtiges, tintenschwarzes Männchen mit krausem Haar, bekleidet mit weißer Tunika und schwarzer Strumpfhose. Um die Schultern trägt er einen zitronengelben Mantel geschlungen. Er kommt, wie die meisten Utopier, daher, als habe er Grund, auf irgend etwas stolz zu sein und keinen Grund, irgend etwas in der Welt zu fürchten. Er trägt eine Mappe in der Hand. Dies ist es wohl, ebenso wie sein Haar, was mich an das Quartier latin erinnert.

IV

Ich hatte die Rassenfrage mit dem Botaniker schon in Luzern erörtert.

»Aber Sie möchten doch nicht,« rief er voll Grauen, »daß Ihre Töchter einen Chinesen oder einen Neger heiratet?«

»Wenn Sie einen ›Chinesen‹ sagen, meinen Sie natürlich ein Geschöpf mit Zopf, langen Nägeln und unhygienischen Gewohnheiten, und wenn Sie ›Neger‹ sagen, denken Sie an ein filzköpfiges, schwarzes Geschöpf mit einem alten Hut, und zwar, weil Ihre Phantasie zu schwach ist, um die angeborenen Eigenschaften von dem zu trennen, was die Gewohnheiten mit sich bringen.«

»Schimpfen ist kein Beweis,« sagte der Botaniker.

»Auch unvernünftige Unterstellung nicht. Sie machen eine Rassenfrage zu einer Frage ungleicher Kulturen. Sie möchten auch nicht, daß Ihre Tochter einen Neger von der Art heiratet, die Hennen stiehlt, aber Sie möchten auch nicht, daß Ihre Tochter einen echt englischen Buckligen heiratet, der schielt, oder einen betrunkenen Droschkenkutscher aus normannischem Blut. Tatsächlich begehen nur sehr wenige gut erzogene englische Mädchen solche Unvorsichtigkeiten. Aber Sie halten es nicht für nötig, gegen Menschen Ihrer eigenen Rasse Verallgemeinerungen aufzustellen, wenn es betrunkene Droschkenkutscher sind – und weshalb sollten Sie es gegen Neger tun? Wenn der Bruchteil der Unerwünschten unter den Negern größer ist, so rechtfertigt das noch keine umfassende Verurteilung. Vielleicht müssen Sie die meisten verurteilen, aber weshalb alle? Es gibt vielleicht – wir beide kennen nicht genug, um es zu leugnen – Neger, die hübsch, tüchtig und mutig sind.«

»Uff!« sagte der Botaniker.

»Wie abscheulich Sie Othello finden müssen!«

Es ist mein Utopien, und für einen Augenblick fände ich fast den Mut, den Botaniker zu ärgern und hier vor unsern Augen eine moderne Desdemona mit ihrem bis zu den Lippen pechschwarzen Geliebten zu schaffen. Aber so sicher bin ich meiner Sache nicht, und für den Augenblick soll nichts daherkommen, als eine dunkle Birmanenfrau in der Kleidung der Großen Regel mit einem hochgewachsenen Engländer (wie er auf Erden leben könnte) zur Seite. Das aber ist eine Abschweifung von meiner Unterhaltung mit dem Botaniker.

»Und der Chinese?« sagt der Botaniker.

»Ich glaube, all die fleischfarbenen und gelben Menschen werden sich ziemlich frei vermischen.«

»Chinesen und weiße Frauen zum Beispiel?«

»Ja,« sagte ich, »das werden Sie auf jeden Fall schlucken müssen, Sie sollen das schlucken.«

Er findet den Gedanken zu empörend für jede weitere Bemerkung. Ich will ihm die Sache leichter machen. »Versuchen Sie,« sage ich, »die Verhältnisse eines modernen Utopiers zu erfassen. Der Chinese wird dieselbe Sprache sprechen wie seine Frau – welcher Rasse sie auch angehöre – er wird eine Kleidung derselben zivilisierten Mode tragen, er wird ziemlich die gleiche Bildung besitzen wie sein europäischer Rivale, wird dieselbe Literatur lesen und sich denselben Traditionen beugen. Und Sie dürfen nicht vergessen, daß in Utopien eine Frau sonderbarerweise ihrem Manne nicht untertan ist – –.«

Der Botaniker verkündet seinen unwiderlegbaren Schluß: »Jeder würde sie schneiden.«

»Das ist Utopien,« sagte ich und suchte seinen Geist nochmals zu beruhigen.

»Ohne Zweifel kann unter den gewöhnlichen grobgeistigen Leuten außerhalb der Regel etwas der Art vorkommen. Jeder irdische Dummkopf findet sich, vielleicht ein wenig gebildeter, in Utopien wieder vor. Ohne Zweifel werden Sie das ›Schneiden‹ und ›Boykottieren‹ und all die kleinen Listen, durch welche stumpfe Leute dem Leben eine Schärfe abgewinnen, auch hier an ihrer Stelle finden, und ihre Stelle hier ist irgendwo – –«

Ich zeigte mit dem Daumen nach der Erde hin. »Dort!«

Der Botaniker antwortete eine Weile nicht. Dann sagte er mit einiger Ungeduld und großem Nachdruck: »Nun, ich bin jedenfalls recht froh, daß ich nicht dauernd in diesem Utopien zu wohnen brauche – wenn unsere Töchter zwangsweise mit Hottentotten verheiratet werden sollen! Ich bin recht froh!«

Er wandte mir den Rücken.

Hatte ich nun irgend etwas der Art gesagt? – – –

Ich glaube, ich mußte ihn mitnehmen, in diesem Leben wird man ihn nicht los. Aber wie ich schon bemerkte, die glücklichen Alten gingen ohne solche Begleitung in ihr Utopien.

V

Was dem Botaniker bei all seinen antiutopischen Bemerkungen einen so großen Vorteil verleiht, das ist, daß er sich der eigenen Beschränktheit nicht bewußt ist. Er denkt in kleinen, lose umherliegenden Fetzen, und in seinem Geiste steht nichts mit irgend etwas anderem in Verbindung. Wenn er eine Synthese aller Nationen, Sprachen und Völker in einem Weltstaat verwirft, so kann ich mich nicht mit der Frage an ihn wenden, welches andre Ideal er vorschlage.

Leute seiner Art fühlen nicht einmal die Notwendigkeit des Entweder – Oder. Abgesehen von ein paar persönlichen Plänen, einer Wiederbegegnung mit ihr und ähnlichen Dingen, fühlen sie nicht, daß es eine Zukunft gibt. In dieser Hinsicht hemmt sie keinerlei Ballast von Überzeugungen. Dies ist wenigstens meine einzige Erklärung für die hohe intellektuelle Beweglichkeit meines Freundes. Will man die Staatskunst, die sie mit Interesse als ein dramatisches Spiel von Persönlichkeiten ansehen, in Zusammenhang bringen mit irgendwelchen Jahrhundertbewegungen der Menschheit, so werfen sie das mit der Differenzialrechnung und dem Darwinismus zusammen, als Dinge, die viel zu schwierig sind, um nicht schließlich auf geheime Art falsch zu sein.

So muß sich die Erörterung unmittelbar an den Leser wenden.

Wenn man eine weltumfassende Vereinigung aller Kulturen, Staatskörper und Rassen zu einem Weltstaat nicht als das wünschenswerteste Ziel ansehen will, nach dem alle Zivilisationsbemühungen hinstreben, was sieht man dann als wünschenswertes Ziel an? Eine solche Zusammenfassung bedeutet, nebenbei bemerkt, nicht notwendig Verschmelzung, noch auch Gleichförmigkeit.

Die verschiedenen Möglichkeiten fallen ungefähr unter drei Überschriften. Die erste ist die Annahme, es gebe eine beste Rasse. Dann hat man diese so gut als möglich zu bestimmen und alle andern Rassen als Material zur Ausrottung zu betrachten. Dies hat einen schönen, modernbiologischen Anstrich (»Überleben der Tauglichsten«). Wenn man einen jener wunderlichen deutschen Professoren hört, die über Weltpolitik Wahnsinn schreiben, so meint man, die beste Rasse sei die »teutonische«; Cecil Rhodes hatte jenen Triumph schöpferischer Phantasie ins Herz geschlossen: die »angelsächsische Rasse«; mein Freund Moses Cohen meint, es lasse sich viel für die Juden anführen. Nach ihren Voraussetzungen ist dies eine vollkommen gute und vernünftige Politik, und sie eröffnet dem wissenschaftlichen Erfinder glänzende Aussichten für das, was in der Zukunft vielleicht der Weltapparat heißt, für nationale Verwüstungs- und Mähmaschinen und für rassentötende Räucherungen. Das große Flachland Chinas (»Gelbe Gefahr«) ist für beweiskräftige Engros-Unternehmungen wie geschaffen; man könnte es zum Beispiel ein paar Tage lang unter Wasser setzen und dann mit vulkanischem Chlor desinfizieren. Ob, wenn einmal alle minderwertigen Rassen vernichtet sind, die überlegene Rasse sich nicht sofort oder nach einem kurzen Jahrtausend sozialer Harmonie daran machen würde, sich selbst wieder in Unterklassen zu teilen und die Sache auf höherem Niveau von neuem zu beginnen, bleibt eine interessante Restfrage, auf die wir jetzt nicht einzugehen brauchen.

Diese volle Ausbildung einer wissenschaftlichen Weltpolitik findet jedoch augenblicklich nicht viele Verfechter, zweifellos infolge eines Mangels an Vertrauen zur Phantasie des Publikums. Wir haben jedoch eine sehr vernehmbare und einflußreiche Schule, die Modern-Imperialistische Schule, die ihre eigene Rasse – die Schule hat eine deutsche, eine britische und eine angelsächsische Abteilung, daneben schließt eine umfassendere Lehre die ganze »weiße Rasse« in eine bemerkenswerte Duldung ein – als die überlegene auszeichnet, ja als überlegen genug, um, wenn nicht individuell, so doch kollektiv Sklaven zu halten, und die Vertreter dieser Lehre blicken mit entschlossenem, wildem, aber etwas unklarem Auge in eine Zukunft, da die ganze übrige Welt diesen Auserwählten unterworfen sein wird. Die Ideale dieser Menschenart sind ziemlich klar dargelegt in Kidds Verwaltung der Tropen. Die ganze Welt soll von den »weißen« Mächten verwaltet werden – an Japan dachte Kidd noch nicht –, die dafür sorgen müssen, daß ihre Untertanen »die Nutzbarmachung der ungeheuren Naturquellen, die ihnen anvertraut sind, nicht hindern.« Die andern Rassen sollen als Kinder, als bisweilen widerspenstige Kinder angesehen werden, aber ohne zärtliche elterliche Regungen. Es bleibt etwas zweifelhaft, ob die Rassen, denen »es an den elementaren Qualitäten sozialer Leistungsfähigkeit fehlt«, diese unter der strafenden Hand jener Rassen erwerben sollen, die vermöge »der Kraft und Charakterenergie, der Menschlichkeit, Rechtschaffenheit, Unbestechlichkeit und einer strengen Hingabe an Pflichtbegriffe« über ihre Köpfe hinweg die »Hilfsquellen der reichsten Regionen der Erde« ausbeuten, oder ob dies an sich schon das endgültige Ideal ist.

Dann kommt die etwas zusammenhangslose Möglichkeit, die man in England mit dem offiziellen Liberalismus in Verbindung bringt.

Der Liberalismus ist in England nicht ganz dasselbe wie in der übrigen Welt; er ist aus zwei Strähnen gewoben: zunächst aus dem Whigismus, jener mächtigen Tradition des protestantischen und republikanischen Englands des siebzehnten Jahrhunderts mit seiner großen Anleihe bei dem republikanischen Rom, mit seiner kräftigen konstruktiven und disziplinären Neigung, seinem weiten, ursprünglich sehr lebendigen und intelligenten Ausblick; dann aus dem sentimentalen und logischen Liberalismus, der den Nöten des achtzehnten Jahrhunderts entsprang und seinen ersten, kaum noch differenzierten Ausdruck in Harringtons Oceana fand, der nach frischen Anleihen bei der Tradition des Brutos und Cato und nach einigem Liebäugeln mit edlen Wilden in der Cité Morellyste knospete, in Rousseaus gefühlvoll demokratischer Naturschwärmerei erblühte und in der französischen Revolution reichliche Frucht trug. Das sind zwei sehr verschiedene Fäden. Sowie sie in Amerika aus den Krallen des Streits mit den britischen Tories befreit waren, zerfielen sie in die republikanische und die demokratische Partei. Ihre fortdauernde Einheit in Großbritannien ist ein politischer Zufall. Infolge dieser Mischung ist es in der ganzen Laufbahn des Englisch sprechenden Liberalismus, obgleich sie einen ununterbrochenen Strom der Beredsamkeit erzeugte, nie zu einer klaren Feststellung einer Politik andern, weniger glücklichen Völkern gegenüber gekommen. Er hat über die Zukunft der Menschheit überhaupt keine bestimmten Ideen entwickelt. Die Whigistische Richtung, die einst in Indien einigermaßen zur Geltung kam, ging sicherlich darauf aus, den »Eingeborenen« zu anglizisieren, seine Kultur zu assimilieren, und dann seine politischen Verhältnisse denjenigen seines jeweiligen Herrschers anzupassen. Aber verwoben mit dieser anglizisierenden Tendenz, die, nebenbei bemerkt, auch eine christianisierende Tendenz war, bestand die starke, von Rousseau hergeleitete Neigung, andere Völker sich selbst zu überlassen, ja sogar die Abtrennung und Selbstregierung losgelöster Teile unserer eigenen Völker zu erleichtern und sich so schließlich in reine, weil gesetzlich unabhängige Individuen aufzulösen. Die offizielle Darlegung des englischen Liberalismus schwankt infolge dieser widerstreitenden Bestandteile noch heute hin und her; aber im ganzen scheint jetzt die Whigistische Richtung die schwächere zu sein. Der zeitgenössische liberale Politiker liefert eine triftige Kritik der Brutalität und Einbildung des modernen Imperialismus, damit hören aber seine Leistungen auf. Wenn man aus dem, was sie nicht sagen und nicht vorschlagen, auf die Absichten der Liberalen schließt, so könnte es scheinen, das Ideal der englischen Liberalen und der amerikanischen Demokraten sei das Fortbestehen so vieler kleiner, locker verbundener oder ganz selbständiger Nationalitäten und so vieler Sprachen als nur möglich zu begünstigen, Heere und jegliche Kontrollmittel zu mißbilligen, und es der eingeborenen Güte der Unordnung und den Kräften glühender Sentimentalität zu überlassen, ob sie die Welt in süßem Frieden erhalten können. Die Liberalen wollen nichts wissen von der einfachen Folgerung, daß ein solcher Stand der Dinge hoffnungslos unsicher ist, daß er die größte Kriegsgefahr und den kleinsten Vorteil an dauerndem Nutzen und öffentlicher Ordnung zugleich einschließt. Sie wollen sich nicht überlegen, daß die Sterne in ihrem Lauf unerbittlich ein anderes Schicksal regieren. Es ist ein unbestimmtes, unmögliches Ideal von einer gewissen rauhen, unweltlichen, moralischen Schönheit wie das Evangelium der Doukhoubers. Abgesehen von diesem Reiz hat es für den offiziellen englischen Liberalen eine höchst verführerische Eigenschaft, die nämlich, daß es keine intellektuelle Tätigkeit, ja überhaupt keine Tätigkeit erfordert. Dies allein macht den Liberalismus weit weniger unheilvoll, als es der grobe und gewalttätige Imperialismus der populären Presse ist.

Keine dieser beiden politischen Schulen, weder die Liberalen mit ihrem internationalen » laisser faire«, noch der Imperialismus mit seinem »rasch-in-die-Höhe« verspricht der Welt der Menschen irgendeinen wirklichen dauernden Fortschritt. Sie sind all denen, die das ganze Gebiet unserer Frage nicht offen und tief durchdenken wollen, Zuflucht und moralischer Halt. Man tue aber das und bestehe auf Lösungen von mehr als bloß zufälliger Anwendbarkeit, so wird man mit der einen oder andern von zwei gegensätzlichen Lösungen hervortreten, je nachdem im Geiste das Bewußtsein der Gattung oder das der Individualität überwiegt. Im ersten Fall wird man den kampflustigen Imperialismus wählen, ihn aber auch bis zur »gründlichen Ausrottung« durchführen. Man wird die Kultur und Kraft der eigenen Menschenart aufs äußerste zu entwickeln suchen, um alle anderen Arten von der Erde zu verdrängen. Wenn man dagegen das Einzigartige hochschätzt, so wird man nach einer Synthese streben, wie unsere Utopie sie ausführt, einer Synthese, die weit glaublicher und möglicher ist als jede andere Weltpolitik. Trotz all des modernen Kriegsprunkes geht die ganze Richtung der Welt auf einen Zusammenschluß aus. Diesen zu fördern und zu entwickeln, das könnte schon heute zur offenen und sicheren Politik jedes großen modernen Reiches gemacht werden. Der Krieg und die internationale Feindseligkeit sind meiner Meinung nach heutzutage nur noch möglich durch die bornierte Unbildung der großen Masse der Menschen und durch die Einbildung und intellektuelle Trägheit der Regierungen und all jener, die die öffentliche Meinung speisen. Wäre der Wille der großen Masse der Menschen erleuchtet und bewußt, so würde er, davon bin ich fest überzeugt, von nun an stetig für den Zusammenschluß und den Frieden entbrannt sein.

Es wäre so leicht, innerhalb weniger Jahrzehnte einen Weltfrieden zustande zu bringen, wenn nur unter den Menschen der Wille dazu vorhanden wäre! Die bestehenden großen Reiche brauchten nur ein wenig offen miteinander zu reden. Im Innern sind die Rätsel der sozialen Ordnung in Schriften und Gedanken schon halb gelöst. Die gewöhnlichen Leute und die unterworfenen Völker brauchten nur darauf unterrichtet und eingeübt, zu einer gemeinsamen Sprache und Literatur hingeführt, angeglichen und zu Bürgern gemacht zu werden; nach außen hin hat man die Möglichkeit von Verträgen. Weshalb sollten, zum Beispiel, England und Frankreich, oder eins von beiden und die Vereinigten Staaten, oder Schweden und Norwegen, oder Holland, Dänemark, Italien je wieder miteinander kämpfen? Und wenn kein Grund vorhanden ist, wie töricht und gefährlich ist es dann, noch sprachliche Unterschiede und Zollgrenzen und alle möglichen törichten und aufreizenden Unterscheidungen zwischen ihren verschiedenen Bürgern aufrecht zu erhalten! Weshalb sollten nicht all diese Völker übereinkommen, in ihren Volksschulen eine gemeinsame Sprache zu lehren, zum Beispiel das Französische, oder gegenseitig ihre verschiedenen Sprachen zu lehren? Weshalb sollten sie nicht nach einer gemeinsamen Literatur streben und ihre verschiedenen allgemeinen Gesetze, ihre Ehegesetze usw. gleich gestalten? Warum sollten sie nicht in all ihren Gemeinden nach einem gleichförmigen Minimum in den Arbeitsbedingungen streben? Und weshalb sollten sie nicht – außer im Interesse einiger armseliger Plutokraten – den Freihandel einführen und ihr Bürgerrecht im ganzen Bereich ihrer gemeinsamen Grenzen frei wechseln können? Ohne Zweifel lassen sich Schwierigkeiten finden, aber es sind durchaus überwindliche Schwierigkeiten. Was gibt es, das eine gleichlaufende Bewegung aller zivilisierten Mächte in der Welt nach einem gemeinsamen Ideal und eine Assimilierung hindern könnte?

Beschränktheit – nichts als Beschränktheit, beschränkte, brutale, ziellose, nicht zu rechtfertigende Eifersucht.

Die gröberen Formen der Herdenbildung sind zunächst da, der feindselige, eifersüchtige Patriotismus, Trompetenfanfaren und Narrenstolz; sie stillen das tägliche Bedürfnis, obgleich sie zum Unheil führen. Das Wirkliche und Unmittelbare hält uns in den Krallen, das Zufällig-Persönliche. Die kleine Denkanstrengung, der kurze, kräftige Willensaufwand ist für den zeitgenössischen Geist zuviel. Solche Verträge, solche gemeinsame internationale Bewegungen sind auf Erden nur erst Stoff für Träume, obgleich Utopien sie längst verwirklicht und schon überwunden hat.


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