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Viertes Kapitel: Die Stimme der Natur

I

Plötzlich erkennen wir das Ebenbild der irdischen Teufelsbrücke, die als Fußpfad noch erhalten ist und die Schlucht überspannt. Alte Erinnerungen lenken uns von der Straße ab und die steilen Trümmer eines einstigen Saumpfades hinunter, der wieder auf die Straße zuführt. Zum erstenmal werden wir daran gemahnt, daß auch Utopien eine Geschichte haben muß. Wir gehen über die Reuß und sehen, daß sie, obgleich sie schon mehrere tausend Häuser im Tale oben beleuchtet, geheizt, gelüftet und gesäubert hat, und obgleich sie die leichten Trambahnen in der Galerie zu Häupten treibt, immer noch eines ebenso schönen Wasserfalles fähig ist als je auf der Erde. So kommen wir zu einem Felspfad, wild nach Herzenswunsch, und wir steigen hinab und sprechen davon, wie gut und schön eine geordnete Welt doch sein könne. Aber unausgesprochen liegt ein gewisser Druck in unserm Geist, und zwar wegen jener Daumenabdrücke, die wir hinter uns gelassen haben.

»Erinnern Sie sich des Tales von Zermatt?« sagt mein Freund, »und wie es auf der Erde von Rauch dunstet und stinkt?«

»Das nehmen die Leute zum Vorwand, eine Änderung zu hemmen, anstatt sie zu befördern.«

Und hier schiebt sich eine Episode ein. Ein geschwätziger Mensch überfällt uns. Er holt uns ein und beginnt sofort, in einer flötenden, aber nicht unangenehmen Stimme zu reden. Er ist ein großer Redner, dieser Mensch, und ein ganz achtbarer Gestikulator. Ihm gegenüber unternehmen wir die ersten, wirkungslosen Versuche der Aufklärung, wer wir eigentlich sind; der Strom seiner Rede spült all das wieder fort. Sein Gesicht zeigt jene rötliche, knorrige Bildung, die ich einen entrüsteten Mineralogen habe traubenförmig nennen hören; es wird umwogt von einer Fülle blonden, unordentlichen Haares. Er trägt Lederwams und Kniehosen und darüber einen wallenden Wollmantel in verblaßtem Rot, der ihm einen schönen dramatischen Umriß verleiht, wie er über die Felsen herab auf uns zukommt. Seine großen und wohlgeformten Füße sind, abgesehen von Ledersandalen, nackt und rot von der scharfen Morgenluft. (Es war das einzigemal, daß wir in Utopien jemand barfuß sahen.) Er grüßt uns mit einem spiraligen Schwung seines Stockes und paßt sich unseren langsameren Schritten an.

»Bergsteiger, vermutlich?« sagt er, »und Sie verachten ihre Bahnzüge da? Sie gefallen mir. Ich mache es ebenso. Weshalb sich ein Mensch behandeln lassen soll wie ein Warenballen mit einer unpersönlichen Fahrkarte – da Gott ihm Beine und ein Gesicht gab – das geht über meinen Verstand.«

Während er spricht, zeigt sein Stab auf die große Kunststraße, die über die Schlucht und hoch zu Häupten durch eine Galerie hinläuft, verfolgt sie bis zur nächsten Wendung, nimmt sie tief unten als einen Viadukt wieder auf, bezeichnet ihre Spur, bis sie durch eine vorspringende Klippe in eine Arkade taucht und verläßt sie mit einem spiraligen Wirbeln. » Nein!« sagt er.

Es ist, als sei er von der Vorsehung gesandt, denn gerade sprechen wir davon, wie wir diesen Utopiern unsre sonderbare Lage eröffnen sollen, ehe unser Geld zu Ende geht.

Wir sehen einander an, und ich lese in den Augen des Botanikers, daß ich unsern Fall eröffnen soll.

Ich tue mein Bestes.

»Sie kommen von der andern Seite des Raumes?« sagt der Mann im roten Mantel, mich unterbrechend. »Ausgezeichnet! Das gefällt mir – es ist ganz mein Ton! Ich auch! Und Sie finden diese Welt sonderbar! Ganz mein Fall! Wir sind Brüder! Wir werden einander verstehen. Ich bin erstaunt, ich bin, solange ich denken kann, erstaunt gewesen und werde auch ganz gewiß sterben im Zustand ungläubigen Staunens über diese merkwürdige Welt. Wie? Sie standen plötzlich auf einer Bergspitze? Sie Glücklicher.« Er kicherte. Ich meinerseits sah mich in der noch seltsameren Lage eines Kindes mit zwei Eltern von halsstarrigem Charakter.

»Die Tatsache bleibt bestehen,« werfe ich ein.

»Eine Lage, kann ich Sie versichern, die geradezu übermenschlichen Takt verlangt.«

Wir verzichten eine Weile auf den Versuch, unser merkwürdiges Ich zu erklären, und für den Rest der Zeit beherrscht dieser malerische und außergewöhnliche Utopier das Gespräch.

II

Er war ein angenehmer, wenn auch etwas unruhiger Mensch und plauderte, wie wir uns entsinnen, von vielen Dingen. Nachher wurde es uns deutlich, daß er den Eindruck eines unzweifelhaften Poseurs, eines bewußten Ismaeliten in der Welt des Witzes, ja auf irgendeine merkwürdig unerklärliche Art den eines vollendeten Esels machte. Erst sprach er mit schöner Verachtung von den ausgezeichneten und bequemen Trambahnen, die über die Pässe her und das lange Tal hinunter laufen zur Mittelschweiz, und von dem ganzen Wald lieblicher (von den Bergeshöhen eingeschlossener) Häuser und Hütten, welche die sich öffnende Schlucht von ihrem irdischen Vorbild so verschieden machen. »Aber schön sind sie,« versetzte ich. »Sie haben anmutige Proportionen, sie stehen an gut gewählten Orten, sie verletzen das Auge nicht.«

»Was wissen wir von der Schönheit, die sie verdrängen? Sie sind ein bloßer Hautausschlag. Warum sollten wir Menschen auf dem Antlitz unserer Mutter Natur die Rolle der Bakterien spielen?«

»So ist das ganze Leben.«

»Nein! nicht das natürliche Leben, nicht die Pflanzen und die zarten Geschöpfe, die ihr wildes, scheues Leben in Wald und Dickicht leben. Die sind ein Teil von ihr. Sie sind die natürliche Blüte ihres Antlitzes. Aber diese Häuser und Trambahnen und so weiter, gemacht von Erz und Zeug, das man aus ihren Adern reißt ...! Es gibt kein besseres Bild als meines von dem Hautausschlag. Ein krankhafter Ausschlag ist es! Ich gäbe all das für eine einzige – wie heißt es – freie und natürliche Gemse.«

»Sie leben zeitweise in einem Haus?« fragte ich.

Er überhörte meine Frage. Für ihn, sagte er, sei die ungetrübte Natur das beste, und – er warf einen Blick auf seine Füße – das schönste. Er bekannte sich als einen Nazariten und warf seinen teutonischen Dichterschopf zurück. So kam er auf sich selbst zu sprechen, und während des ganzen übrigen Marsches blieb seine eigene Person der Faden seiner Rede. Er ging sich vom Scheitel bis zur Sohle durch und stimmte alle Weisen unter der Sonne an, seine Herrlichkeit darzutun. Aber der besondere Hintergrund war bei ihm immer die Narrheit, die Unnatürlichkeit und der Mangel an Logik bei seinen Mitmenschen. Er hatte eine kräftige Überzeugung von der äußersten Einfachheit aller Dinge, nur daß eben die Menschen in ihrer Wirrköpfigkeit alles durcheinander geworfen hatten. »Daher zum Beispiel diese Trams! Sie laufen immer hinauf und hinunter, als suchten sie nach der verlorenen Einfachheit der Natur: Hier haben wir sie verloren!« Wir erfuhren, daß sein Einkommen »bedeutend über dem Minimallohne« stehe, was ein gelegentliches Licht auf die Arbeitsfrage warf – und daß er es verdiene, indem er Platten für Musikautomaten durchlöchere – jedenfalls wie bei unsern Pianotisten und Pianolas –, die ihm verbleibende Mußezeit aber verwende er dazu, hin- und herzureisen und Vorträge zu halten über »die Notwendigkeit einer Rückkehr zur Natur« und über »Einfache Nahrung und einfache Lebensart«. Dies tat er aus Liebe zur Sache. Es war uns ganz klar, daß er einen außerordentlichen Drang zu Vorträgen in sich spüre und uns als ein gefundenes Publikum ansah. Er hatte über diese Gegenstände in Italien gesprochen und kehrte jetzt, auf der Reise Vorträge haltend, über die Berge nach Sachsen zurück, um wieder einen Haufen Platten zu durchlöchern und derweilen Vorträge zu halten und dann wieder auf Vorträge auszuziehen. Er freute sich unverhohlen, daß er uns hatte, um unterwegs Vorträge zu halten. Er machte uns gar bald auf seine Tracht aufmerksam. Sie war die Verkörperung seines Ideals einer Naturkleidung und eigens mit großen Kosten für ihn verfertigt worden. »Nur deshalb, weil die Natürlichkeit von der Erde geflohen ist und man jetzt nach ihr suchen und sie aus dem Schutt eurer Künsteleien auswaschen muß wie Gold.«

»Ich hätte gedacht,« sagte ich, »jede Art Kleidung sei ein Fleck auf den natürlichen Menschen.«

»Durchaus nicht,« sagte er, »durchaus nicht! Sie vergessen seine natürliche Eitelkeit.« Besonders streng sprach er über unsere künstlichen Hufe, wie er die Stiefel nannte, und unsere Hüte oder Haarzerstörer. »Der Mensch ist der eigentliche König der Tiere und sollte eine Mähne tragen. Der Löwe trägt sie nur geduldet und in Gefangenschaft.« Er schüttelte sein Haar.

Später, als wir frühstückten und er auf die von ihm bestellten besonderen naturgemäßen Speisen wartete – sie strengten die Leistungsfähigkeit der Küche aufs äußerste an – begann er eine umfassende Verallgemeinerung vorzunehmen. »Das Tierreich und das Pflanzenreich sind leicht zu unterscheiden, und ich kann ums Leben keinen Grund finden, sie zu vermengen. Ich sehe das als eine Sünde gegen die Natur an. Ich halte sie im Geist auseinander und halte sie auch an meinem Leib auseinander. Nichts vom Tier innerlich, nichts von der Pflanze äußerlich – was könnte einfacher und richtiger sein? Auf mir liegt nichts als Leder und reine Wolle, in mir nur Getreide, Früchte, Nüsse, Kräuter und dergleichen. Klassifizierung – Ordnung – des Menschen Aufgabe. Hier muß er die Einfachheit der Natur beobachten und betonen. Diese Leute« – er machte eine Armbewegung, damit wir nicht zu deutlich mit eingerechnet waren – »sind über und über voll Verwirrung.«

Er aß sehr viele Trauben und schloß mit einer Zigarette. Er verlangte ein großes Horn voll ungegorenen Traubensaftes und trank es leer, was ihm gut zu bekommen schien.

Wir drei saßen um den Tisch – es war in einer angenehmen kleinen Laube auf einem Hügel, dicht bei der Stelle, wo auf der Erde Wassen liegt, und die das Tal bis zum Uri-Rotstock hinunter überblickt. Immer und immer wieder suchten wir seine unleugbare Darstellungsgabe auf die Klärung unserer eigenen Schwierigkeiten zu lenken.

Aber es war wenig zu hoffen, sein Wesen war zu flatterhaft. Später, freilich, entdeckten wir, daß wir manche Aufklärung und manche Überzeugung eingesogen hatten, aber für den Augenblick schien er uns nichts zu sagen. Er deutete die Dinge mit Punkten und Strichen an, statt sie mit guten, festen, bestimmten Linien zu zeichnen. Er hielt nie inne, daß er hätte merken können, wie wenig wir wußten. Bisweilen erhoben sich seine Einfälle so hoch, daß er sie selbst aus den Augen verlor, dann unterbrach er sich, rundete die Lippen wie zum Pfeifen und füllte sich den leeren Mund mit Trauben, bis der Vogel zur Lockspeise zurückflog. Er sprach über die Beziehungen der Geschlechter, über die Liebe – eine Leidenschaft, die er als in ihrem Wesen erkünstelt und verstiegen verachtete – und später wurde es uns klar, daß wir allerlei darüber erfahren hatten, was die Ehegesetze Utopiens gestatten und verbieten.

»Einfache, natürliche Freiheit,« sagte er und schwenkte dazu erläuternd eine Traube. So konnten wir daraus entnehmen, daß das moderne Utopien keineswegs soweit gegangen sei. Er sprach ferner noch von der Regelung der Verbindungen, von Leuten, die keine Kinder haben durften, von verwickelten Vorschriften und Eingriffen. »Der Mensch,« sagte er, »ist kein Naturprodukt mehr.«

Wir versuchten, ihn an diesem aufklärungsreichen Punkt festzuhalten, aber er schoß weiter wie ein Gießbach und führte sein Thema mit fort, bis es außer Sicht war. Die Welt, meinte er, werde zu sehr geleitet, und da läge die Wurzel alles Übels. Er sprach nun über die Vielregiererei der Welt und unter anderem von den Gesetzen, die einen armen, einfachen Idioten, einen »Naturmenschen« nicht frei umhergehen lassen. So bekamen wir die erste Andeutung von dem, was Utopien mit den Schwachen und Geisteskranken anfange. »Wir machten all diese Unterschiede zwischen Mensch und Mensch, wir erheben dies und begünstigen jenes, erniedrigen und verbannen anderes; wir machen die Geburt, das Leben, den Tod zu etwas Künstlichem.«

»Sie sagen: Wir,« sagte ich, und dunkel dämmerte mir ein neuer Gedanke auf, »aber Sie nahmen nicht teil daran?«

»Gewiß nicht! Ich bin keiner von euren Samurai, euren freiwilligen Adligen, die die Welt in die Hand genommen haben. Ich könnte es freilich sein, aber ich will nicht.«

» Samurai!« wiederholte ich, »freiwillige Adlige!« und konnte im Augenblick die richtige Frage nicht finden.

Er flatterte weiter zu einem Angriff auf die Wissenschaft, und das reizte den Botaniker zum Widerspruch. Mit großer Bitterkeit sprach er über alle Spezialisten ab, besonders über Ärzte und Ingenieure.

»Freiwillige Adlige!« sagte er, »ich glaube, sie halten sich selbst für freiwillige Götter,« und ich blieb bei der verwunderten Prüfung dieser Zwischenbemerkung eine Weile zurück, während er und der Botaniker – der seine Verdauung emsig und mit den neuesten Mitteln auf der Höhe der Zeit zu halten sucht – sich über den Nutzen der Medizin stritten.

»Der Bau des menschlichen Leibes,« sagte der Blondhaarige, »ist von Natur aus ganz einfach, unter einer einfachen Bedingung – man muß ihn der Natur überlassen. Wenn man aber Dinge, die so deutlich und wesentlich unterschieden sind wie das Tier- und das Pflanzenreich, vermengt und einstopft zur Verdauung, was können Sie da erwarten? Übelbefinden! So etwas gibt es nicht – im Laufe der Natur. Aber ihr rettet euch vor der Natur in Häuser, ihr schützt euch durch Kleider, die mehr nützlich sind als schön, ihr wascht euch – zum Beispiel mit solch lösenden Chemikalien wie Seife – und vor allem: ihr zieht Ärzte zu Rate.« Er kicherte sich selber Beifall. »Haben Sie je einen Menschen ernstlich krank gesehen, ohne daß Ärzte und Medizin in der Nähe wären? Nie! Man sagt mir: eine Menge Leute müßten ohne Obdach und ärztliche Hilfe sterben! Gewiß – aber eines natürlichen Todes. Ein natürlicher Tod ist doch sicherlich besser, als ein künstliches Leben? Da haben Sie – um ganz offen zu sein – das Zentrum meines Standpunktes.«

Dies brachte ihn, und zwar ziemlich schnell, ehe sich der Botaniker zu einer Antwort sammeln konnte, auf eine große Tirade gegen die Gesetze, die das Schlafen im Freien verbieten. Er stellte sie energisch an den Pranger und führte an, er seinerseits breche dies Gesetz, so oft er könne, suche sich eine vor übermäßigem Tau geschützte Moosecke, und setze sich dort zum Schlafen. Er schlafe, sagte er, stets in sitzender Haltung, den Kopf in der Hand und die Ellbogen auf die Knie gestützt – der einfachen, natürlichen Haltung für den schlafenden Menschen ... Er sagte auch, es wäre besser, wenn alle Welt im Freien schliefe und sämtliche Häuser niedergerissen würden.

Man kann vielleicht meine unterdrückte Gereiztheit verstehen, als ich da saß und zuhörte, wie der Botaniker sich in das Gedankennetz all dieses wilden Unsinns verstrickte. Ich hielt das alles für widersinnig. Wenn man nach Utopien kommt, so erwartet man einen Cicerone, man erwartet eine Persönlichkeit, die so genau und zielvoll und unterrichtet ist wie eine amerikanische Zeitungsanzeige – zum Beispiel die eines jener Landagenten, die ihr eigenes einnehmendes Bild abdrucken, um Zutrauen einzuflößen und so anfangen: »Sie wollen ein wirkliches Gut kaufen.« Man erwartet, daß alle Utopier aufrichtig überzeugt wären von der Vollkommenheit ihres Utopiens und eine Andeutung gegen ihre Ordnung der Dinge gar nicht verständen. Und hier saß dieser Absurditätenlieferant!

Und doch, wenn ich es überlege, ist nicht auch dies einer der notwendigen Unterschiede zwischen einer modernen Utopie und jenen abgeschlossenen, runden Siedelungen der älteren Schule von Träumern? Keine einstimmige Welt soll es sein, sondern alle geistigen Gegensätze enthalten, die wir in der Welt der Wirklichkeit finden, und noch mehr; sie soll nicht mehr vollkommen erklärlich sein, sondern sie ist genau unser eigenes, ungeheures, geheimnisvolles Wirrsal, nur daß ein paar der schwärzesten Schatten fehlen, daß sie heller durchleuchtet und von einem bewußteren, klareren Willen beherrscht ist. In einem solchen Ganzen ist auch etwas Widersinniges nicht widersinnig, und unser blondhaariger Freund steht hier genau, wo er zu stehen hat.

Und doch – –

III

Ich hörte dem Streit meines Botanikers mit diesem Apostel der Natur nicht länger zu. Der Botaniker verteidigte, wie ich glaube, auf seine wissenschaftliche Art die gelehrten Berufe. (Sein Denken und Schließen gleicht einer Zeichnung auf kariertem Papier.) Nebenbei aber fiel mir auf, daß ein Mensch, der beim Eintritt in eine neue Welt nicht dazu gebracht werden konnte, sich und seinen persönlichen Kummer zu vergessen, der unsern ersten Abend in Utopien an eine elende egoistische Liebesgeschichte verschwenden konnte, daß dieser Mensch plötzlich ganz hitzig und unpersönlich wurde bei einer Erörterung über die gelehrten Berufe. Er war – absorbiert. Ich kann nicht versuchen, diese lebendigen Stellen und toten Stellen in der Phantasie vernünftiger Menschen zu erklären; sie sind eben da!

»Sie sagen,« versetzte der Botaniker mit vorgestrecktem Zeigefinger und mit jener entschlossenen Bedächtigkeit, mit welcher eine Anzahl ungeübter Leute eine mächtige Belagerungskanone über rauhen Boden ins Gefecht schleppen, »Sie ziehen einen natürlichen Tod einem künstlichen Leben vor. Aber welches ist Ihre Definition (betont) des Künstlichen? ...«

Und das nach dem Essen! Ich hörte nicht mehr zu, schnellte den Rest meiner Zigarette über das grüne Gitter der Laube, streckte die Beine schön gemütlich aus, lehnte mich zurück und widmete meine Aufmerksamkeit den Feldern und Häusern, die das Tal entlang lagen.

Was ich sah, verwob sich mit Bruchstücken aus den Reden unseres geschwätzigen Freundes und mit dem Faden meiner eigenen Betrachtungen ...

Die Landstraße lief mit ihren Trambahnen und ihren beiderseitigen Alleen in kühner Biegung und mit einer einzigen großen fallenden Schleife die gegenüberliegende Talseite hinab, kam unten auf einem schönen Viadukt wieder herüber und tauchte durch eine Arkade in die Seite des Bristenstocks hinein. Unser Gasthof sprang hoch über dieser Linie kühn hervor. Die Häuser drängten sich in geselligen Gruppen drüben über der Landstraße und bis dicht an die Nebenstraße, die fast senkrecht unter uns vorbei und das Tal der Meienreuß hinauflief. Ein Utopier oder zwei mähten und sammelten das blumige Berggras auf den sorgfältig geebneten und bewässerten Wiesen mit schnellen, leichten Maschinen, die auf einer Art von Füßen liefen und das Grünfutter zu verschlingen schienen. Viele Kinder und dann und wann eine Frau gingen zwischen den nahen Häusern hin und her. Ich vermutete in einem in der Mitte, der Landstraße zu liegenden Gebäude die Schule, aus der diese Kinder kamen. An den jungen Erben Utopiens, die unten vorübergingen, fiel mir ihre Gewandtheit und Sauberkeit auf.

Die durchgehende Eigenschaft dessen, was ich sah, war gesunde Ordnung, überlegte Lösung der gestellten Aufgaben, ein sich stetig vollziehender Wille zum Fortschritt, und was mich dabei besonders beschäftigte, war der Widerspruch des Ganzen mit unserm blondhaarigen Freund.

Auf der einen Seite bewies der Zustand der Dinge Willensmacht, Kraft der Ordnung und der Aufsicht, das Zusammenwirken einer Menge energischer Menschen, um den Fortschritt zu begründen und zu sichern, auf der andern Seite stand dies Geschöpf voll Pose und Eitelkeit, mit seinem unruhigen Witz, seinem beständigen Kichern über die eigene Gescheitheit, seiner offenbaren Unfähigkeit für das allgemeine Zusammenwirken.

War ich damit auf einen hoffnungslosen Widersinn gestoßen? War dies die reductio ad absurdum meiner Vision, und mußte diese, während ich dasaß, verblassen, zergehen und vor meinen Augen verschwinden?

Unser blonder Freund ließ sich nicht wegleugnen. Wenn dies Utopien tatsächlich Mann für Mann unserer Erde entsprechen soll – und ich sehe nicht, wie das vernünftigerweise anders sein könnte – so müssen solche und ähnliche Leute in Fülle vorhanden sein. Das Bestreben und die Gabe, das Leben als ein Ganzes zu sehen, ist nicht das Erbteil der großen Mehrheit der Menschen. Der Mehrheit zu dienen, ist den Auserlesenen vorbehalten, und jene gescheiten Narren, von welchen die Alleen der Welt des Denkens voll sind, die an keiner Lücke hängen bleiben, die sich entgegenstemmen, versperren, verwirren, werden inmitten utopischer Freiheiten nur einen um so weiteren Spielraum finden.

Sie stritten weiter, diese beiden, während sich mein Gehirn mit Rätseln quälte. Es war wie ein Kampf zwischen einem Sperling und einer Schildkröte: jeder ging auf seine Weise vor, ohne das Verfahren des andern zu beachten. Das Treffen sah außerordentlich lebhaft aus, und sie fanden sich nur selten zusammen. »Aber Sie verstehen mich falsch,« sagte der Blonde, sich hastig durch die Haare fahrend – es war, während er sich dem Streit widmete, ganz glatt gefallen – »Sie wissen den Standpunkt, auf den ich mich stelle, nicht zu würdigen.«

»Uff!« sagte ich bei mir, zündete eine neue Zigarette an und ging darüber meinen eigenen Gedanken nach.

Der Standpunkt, auf den er sich stellt! Das ist in aller Welt die Art des klugen Narren. Er nimmt einen Standpunkt ein, und in der Verteidigung dieses Standpunktes zeigt er sich als das glänzendste, köstlichste, fesselndste und unbesieglichste aller lustigen, entzückenden Geschöpfe, das man sich nur denken kann. Und wenn der Fall auch nicht so schlimm steht wie dieser, so bleibt doch die Art und Weise. Wir »stellen uns auf einen Standpunkt«, wir albernen, zanksüchtigen Geschöpfchen, wir wollen das Richtige nicht auch gegenseitig sehen, wir wollen nicht geduldig das Festgestellte wieder berichtigen, uns ehrlich anbequemen und suchen, und deshalb werden wir niemals einig. Wir haben alle etwas von Gladstone in uns, wir versuchen, bis zuletzt zu leugnen, daß wir eine Schwenkung gemacht haben. Und so humpelt unsre arme Welt mit zerbrochenen Sprungfedern durch ihr pfadloses Geschick. Man versuche es einmal, sich mit einem solch armseligen Burschen zu einigen und sehe, wie die Annäherung Schwärme von Verdächtigungen, Ausfällen, falschen Deutungen aufstört – Sommerfliegen auf einer Landstraße gleich –, wie er sich immer einen Punkt als gewonnen anstreicht und behauptet, man bekehre sich zu dem, was er schon sagte, und wie er immer fürchtet, der Punkt könnte dem andern angestrichen werden.

Nicht alle Fälle sind so grob und handgreiflich wie der unseres blonden, flötenden Freundes. Sonst könnte man ja darüber hinweggehen. Aber wenn man von demselben Stoffe auch Männer sieht, die Führer sind, die große Mengen leiten und in der Tat groß und mächtig sind; wenn man sieht, wie unbillig und unbelehrbar sie sein können, wenn man auch in ihren Augen die großen blinden Flecken bemerkt und ihren Mangel an vornehmer Gesinnung, dann legen sich unsere Zweifel wie Nebelschwaden über dies utopische Tal, seine Ausblicke verblassen, seine Menschen werden zu körperlosen Gespenstern, und all seine Ordnung, sein Glück tritt in einen düstern Hintergrund ...

Wenn es überhaupt ein Utopien geben soll, so muß ein klares, gemeinsames Ziel vorhanden sein und eine große, beharrliche Willensbewegung, all jene unverbesserlichen egoistischen Eigenbrödler niederzuhalten. Ein Strom, weit und tief genug, muß die schlimmsten Auswüchse der Selbstsucht fortschwemmen. Die Welt soll nicht unter allgemeinem Beifall in einem Tage berichtigt werden, um sich dann auf ewig selbst überlassen zu bleiben. Es ist klar, dies Utopien könnte nicht durch Zufall und ohne ordnenden Willen zustande kommen, sondern nur durch gemeinsames Bestreben und eine allgemeine gleiche Absicht. Von gerechten Staatsgesetzen und weiser Regierung zu sprechen, von einem klug abgewogenen Wirtschaftssystem und von klugen sozialen Einrichtungen, ohne zu sagen, wie das alles zustande kommt und wie es aufrecht erhalten wird gegen Eitelkeit und Schwäche, gegen launisches Schwanken und ungewisse Phantasien, gegen die Leidenschaft und Neigung zur Parteibildung, die, selbst wenn sie nicht blüht, im Wesen jedes lebenden Menschen lauert, das heißt einen Palast bauen ohne Türen und Treppen.

Dies war nicht meine Absicht, als ich mich ans Werk machte.

Im modernen Utopien muß es irgendwo tüchtige Männer geben, das gerade Widerspiel unseres Freundes, fähig der Hingabe, des zielvollen Mutes, ehrlicher Gesinnung und beharrlichen Strebens. Es muß eine Literatur vorhanden sein, die ihre gemeinsame Idee verkörpert, von welcher dies moderne Utopien lediglich die äußere Erscheinung darstellt. Ein, wenn auch noch so lockerer Verband muß da sein, der sie in gegenseitiger Berührung erhält.

Wer sind wohl diese Männer? Sind sie eine Kaste? eine Rasse? eine Gemeinde nach Art einer Kirche? ... Da fielen mir die Worte unseres Bekannten ein, daß er keiner von diesen »freiwilligen Adligen« sei.

Erst fiel mir das Wort nur als wunderlich auf, dann aber gingen mir allmählich gewisse Möglichkeiten auf, die es einschließen könnte.

Die Gereiztheit unseres zufälligen Freundes deutete jedenfalls darauf hin, daß hier der Gegensatz lag. Offenbar ist unter dem, was er nicht ist, die Klasse zu verstehen, in der sich vorfindet, was hier vorhanden sein muß. Offenbar.

IV

Die Hand des Blonden, die sich mir auf den Arm legte, weckte mich aus meinem Grübeln.

Ich blickte auf und entdeckte, daß der Botaniker in den Gasthof hineingegangen war.

Der Blonde hatte auf einen Augenblick die Pose fast abgelegt.

»Nun,« sagte er, »haben Sie mir nicht zugehört?«

»Nein,« sagte ich gerade heraus.

Er war sichtlich überrascht. Aber er besann sich energisch auf das, was er sagen wollte.

»Ihr Freund,« sagte er, »hat mir trotz meiner hartnäckigen Unterbrechungen eine ganz unglaubliche Geschichte erzählt.«

Ich wunderte mich, wie dies dem Botaniker gelungen war. »Von einer Frau?« sagte ich.

»Von einem Mann und einer Frau, die sich hassen, und nicht voneinander fort können.«

»Ich weiß,« sagte ich.

»Es klingt toll.«

»Das ist es.«

»Warum können sie nicht fort? Was hält sie zusammen? Es ist lächerlich. Ich ...«

»Durchaus lächerlich.«

»Er wollte es mir durchaus erzählen.«

»Das ist seine Art.«

»Er unterbrach mich beständig. Aber was er sagt, ist sinnlos. Ist er ...« er zögerte, »verrückt?«

»Eine ganze Welt ist mit ihm verrückt,« antwortete ich nach einer Pause.

Das Erstaunen des Blonden wuchs. Ich brauche nicht zu bestreiten, daß er nun neugieriger fragte, mit dem Ausdruck seines Gesichtes mehr als mit seinen Worten. »Himmel!« sagte er und nahm etwas wieder auf, das er schon fast vergessen hatte. »Und Sie standen plötzlich auf einem Berghang? Ich dachte, Sie scherzten.«

Mit plötzlichem Ernst wandte ich mich zu ihm hin. Wenigstens wollte ich ernst sein, ihm aber mag ich wild erschienen sein.

»Sie,« sagte ich, »sind ein Mann von eigener Art. Erschrecken Sie nicht. Vielleicht verstehen Sie ... Wir haben nicht gescherzt.«

»Aber, mein lieber Herr!«

»Es ist mir Ernst! Wir kommen aus einer minderwertigen Welt, dieser hier ähnlich, aber aus den Fugen.«

»Keine Welt könnte mehr aus den Fugen sein ...«

»Damit spielen Sie zu Ihrem Spaß. Aber es ist grenzenlos, wie weit eine Menschenwelt aus der Ordnung kommen kann. In unserer Welt – –«

Er nickte, aber sein Auge war nicht mehr freundlich.

»Menschen sterben Hungers; Menschen sterben nutzlos und unter Schmerzen zu Hunderttausenden; Männer und Frauen werden zusammengekoppelt, um sich die Hölle zu bereiten; Kinder werden geboren – in Greueln, und aufgezogen in Grausamkeit und Verkehrtheit; es gibt etwas, das Krieg heißt, ein Entsetzen voll Blut und Schmach. Das Ganze erscheint mir zuweilen als grausames Wirrsal wilder Verwüstung. Sie in dieser ordentlichen Welt können unmöglich verstehen – –«

»Nicht?« sagte er und hätte begonnen, aber ich fuhr zu schnell fort.

»Nein! Wenn ich sehe, wie Sie durch diese ausgezeichnete und hoffnungsvolle Welt hinschlendern, tadeln, entgegenhandeln und das Gesetz brechen, an Wissenschaft und Ordnung Ihren Witz üben und an jenen Menschen, die sich ohne Ruhmsucht abmühen, die rettende Erkenntnis zu mehren und anzuwenden, nach der unsre arme Welt zum Himmel schreit–«

»Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie aus einer Welt kommen, wo alles anders und schlimmer ist?«

»Doch.«

»Und darüber wollen Sie mir vortragen, anstatt mir zuzuhören?«

»Gewiß.«

»O Unsinn!« sagte er schroff. »Das können Sie doch wahrhaftig nicht. Ich kann Ihnen versichern, diese gegenwärtige Welt reicht an den Gipfel der Beschränktheit heran. Sie samt Ihrem Freund mit seiner Liebe zu der Dame, die so geheimnisvoll gebunden ist – Sie fabulieren. So etwas ist unmöglich. Es ist – entschuldigen Sie – lächerlich. Er fing an, er wollte durchaus anfangen. Eine furchtbar langweilige Geschichte – brachte mich einfach zum Schweigen. Vorher hatten wir, oder vielmehr ich hatte sehr angenehm geplaudert über die Verkehrtheit der Ehegesetze, die Eingriffe in ein freies und natürliches Leben und so fort, und plötzlich brach er wie ein Damm. Nein.« Er hielt inne. »Es kann wirklich nicht sein. Sie verhielten sich eine Zeitlang ausgezeichnet, und dann unterbrachen Sie mich auch ... Und wieder eine so kindische Geschichte!«

Er drehte sich auf seinem Stuhl herum, stand auf, warf mir über die Schulter einen Blick zu und ging aus der Laube hinaus. Er wich hastig zur Seite, um eine zu nahe Begegnung mit dem zurückkommenden Botaniker zu vermeiden. »Unmöglich,« hörte ich ihn sagen. Er war von uns offenbar tief gekränkt worden. Gleich darauf sah ich ihn etwas weiter weg in dem Garten mit dem Wirt unseres Gasthofs sprechen und im Sprechen nach uns hinsehen, – beide schauten in der Richtung auf uns –, dann verschwand er ohne jede Form des Abschieds, und wir sahen ihn nicht wieder. Wir warteten eine Weile auf ihn, und schließlich setzte ich dem Botaniker die Sachlage auseinander.

»Wir werden große Mühe haben, unser Schicksal verständlich zu machen,« sagte ich zum Schluß. »Wir sind hier durch einen Akt der Einbildungskraft, und dies ist gerade einer jener metaphysischen Vorzüge, die so schwer glaubhaft zu machen sind. An den hiesigen Begriffen von Kleidung und Benehmen gemessen, so wie ich sie um uns beobachte, kann man sich von unserm Anzug und unsern Manieren nicht viel versprechen. Wir können nichts vorbringen, was unsere Anwesenheit hier erklärt, keine Spur von einer Flugmaschine oder einem den Weltraum durchwandernden Himmelskörper, noch irgendeine andere, bei solchen Gelegenheiten gebräuchliche Vorrichtung. Wir haben keine Mittel außer einer zusammenschmelzenden Summe Kleingeldes von einem Goldstück her, auf das nach Recht und Sitte irgendein eingeborener Utopier einen bessern Anspruch hätte. Wir können schon in Unannehmlichkeiten mit den Behörden geraten sein wegen Ihrer verwünschten Nummern!«

»Sie haben ja auch eine geschrieben!«

»Um so schlimmer vielleicht, wenn man uns überführt. Wir brauchen uns nicht gegenseitig die Schuld zuzuschieben. Es handelt sich im Augenblick darum, daß wir – gelinde gesagt – als Landstreicher erscheinen in dieser wunderbaren Welt. Vor allen andern Fragen ist gegenwärtig die von Wichtigkeit für uns: was fangen sie mit ihren Landstreichern an? Denn früher oder später, und die Wahrscheinlichkeit scheint für das früher zu sprechen – wird uns das bevorstehen, was sie mit ihren Landstreichern tun.«

»Wenn wir keine Arbeit finden.«

»Ganz recht, wenn wir keine Arbeit finden.«

»Arbeit finden!«

Der Botaniker lehnte sich, auf die Arme gestützt, nach vorn und blickte zur Laube hinaus, als suche er verzweifelnd nach einem Ausweg. »Hören Sie,« bemerkte er, »dies ist eine sonderbare Welt – ganz sonderbar und neu. Erst jetzt wird mir klar, was sie für uns bedeutet. Die Berge da sind dieselben, der alte Bristenstock und alles übrige, aber diese Häuser, wissen Sie, und die Straße da, und die Trachten, und die Maschine, die dort drüben das Gras aufleckt – nur ...«

Er suchte nach Ausdruck. »Wer weiß, was hinter der Biegung des Tales sich zeigen wird? Wer weiß, was uns irgendwo zustoßen kann? Wir wissen nicht einmal, wer über uns regiert .. Das wissen wir nicht!«

»Nein,« wiederholte ich, » das wissen wir nicht.«


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