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Neuntes Kapitel: Die Samurai

I

Weder mein utopischer Doppelgänger noch ich lieben die Gefühlserregung genug, um sie zu pflegen, und meine Empfindungen sind in einem Zustand geziemender Unterordnung, als wir uns wieder begegnen. Er ist jetzt im Besitz einiger klarer allgemeiner Vorstellungen von meiner eigenen Welt, und ich kann gleich auf die Gedanken übergehen, die immer reicher in mir aufgedämmert sind seit meiner Ankunft auf diesem Planeten meiner Träume. Wir sehen, daß unser Interesse an einer wahrhaft menschlichen Staatskunst uns merkwürdig verwandt macht trotz aller Unterschiede unserer Ausbildung und Gewohnheiten.

Ich stelle ihm vor, daß ich mit nur sehr unbestimmten Ideen über Regierungsmethoden nach Utopien gekommen bin, vielleicht ein wenig voreingenommen für solche, die auf Wahlen gegründet sind, im übrigen aber unentschieden; daß ich immer deutlicher eingesehen habe, wie diese letzteren nicht genügen würden für die weite Vielfältigkeit der utopischen Einrichtungen, die kräftigere und leistungsfähigere Aufsichtsverfahren erfordern. Ich habe unter mancherlei Trachten und unter den zahllosen Arten von Persönlichkeiten, die Utopien bietet, gewisse Männer und Frauen von charakteristischer Kleidung und Haltung unterscheiden gelernt und weiß jetzt, daß diese Leute einen Orden bilden, die Samurai, den »freiwilligen Adel«, der im Gefüge des utopischen Staatsgebäudes ein wesentliches Glied bildet. Ich weiß, daß dieser Orden jedem körperlich und geistig gesunden Erwachsenen im utopischen Staat offen steht, wenn er die vorgeschriebene strenge Lebensregel beachten will, daß ihm ein großer Teil der verantwortlichen Arbeit des Staates vorbehalten ist, und ich neige jetzt, unter dem ersten Eindruck der Erkenntnis, dazu, ihm viel mehr Bedeutung im utopischen Ganzen beizulegen, als er hat, ja, ihn als die Seele Utopiens anzusehen. Meine erste Neugier gilt der Organisation dieses Ordens. Wie er sich vor meinem Geist entwickelt hat, erinnerte er mich immer mehr an jene seltsame Aufseherklasse, die den wesentlichen Kern der Republik Platos ausmachte, und mein Doppelgänger und ich erörtern diese Frage mit stillschweigender Bezugnahme auf Platos tiefsinnige Gedanken.

Um unsern Vergleich zu klären, erzählt er mir einiges aus der Geschichte Utopiens. Dabei wird es gelegentlich nötig, eine Verbesserung vorzunehmen an den Voraussetzungen, auf die ich meine Untersuchung begründete. Wir nahmen eine Welt an, die in jeder Hinsicht unserer wirklichen Erde identisch sei; nur in dem geistigen Lebensinhalt sollten die tiefsten Unterschiede herrschen. Dies bringt eine andere Literatur, eine andere Philosophie und Geschichte mit sich, und wie ich mit ihm zu reden beginne, zeigt sich, daß, obgleich wir den Parallelismus der beiden Bevölkerungen Mann für Mann aufrecht erhalten müssen – denn sonst kämen wir zu unausdenkbaren Verwicklungen – wir dennoch annehmen müssen, es habe eine große Menschenreihe von außerordentlichen Gaben des Geistes und Charakters, die auf der Erde bei der Geburt oder als Kinder verstürben, oder die niemals lesen lernten, die in wilder, verdummender Umgebung lebten, so daß für ihre Gaben kein Spielraum blieb, in Utopien glücklichere Möglichkeiten getroffen und die Entwicklung und Anwendung der sozialen Theorie gefördert – und zwar von der Zeit der ersten Utopisten in stetigem Fortschritt bis herab auf die gegenwärtige Stunde. Als andre Möglichkeit könnte man annehmen, unter den heute der Welt verlorenen vier Fünfteln der griechischen Literatur sei auch ein Buch von elementarer Bedeutung zugrunde gegangen, ein erstes Novum Organum, das in Utopien erhalten blieb und die tiefsten Folgen hatte.Der Unterschied der Verhältnisse hatte sich also mit jedem folgenden Jahre erweitert. Jesus Christus war in ein liberales, fortschrittliches Römerreich hinein geboren worden, das sich vom Polarmeer bis zur Bucht von Benina erstreckte und keinen Verfall noch Sturz erfahren sollte, und Mohammed anstatt beschränkte Vorurteile arabischer Unwissenheit zu verkörpern, öffnete die Augen einem geistigen Horizont, der fast so weit war wie die Welt.

Und durch dieses Reich strömte der Fluß des Denkens, der Fluß des Strebens immer reicher. Kriege fanden statt, aber es waren abschließende Kriege, die neue und dauernde Beziehungen anknüpften, die Hindernisse beiseite fegten und Mittelpunkte des Verfalls wegräumten. Vorurteile wurden zu ordnungsmäßiger Kritik gemildert, und der Haß tauchte in duldsamen Gegenströmungen unter.

Schon vor mehreren hundert Jahren erhielt die große Organisation der Samurai ihre gegenwärtige Gestalt. Die umfassende Tätigkeit dieser Organisation hatte in Utopien den Weltstaat geformt und eingesetzt.

Die Organisation der Samurai war eine wohlüberlegte Erfindung. Sie erhob sich im Verlauf sozialer und politischer Verwicklungen, die denen unserer Zeit auf der Erde entsprechen, und sie war der letzte einer ganzen Anzahl politischer und religiöser Versuche, die bis auf das erste Aufdämmern einer philosophischen Staatskunst in Griechenland zurückgingen. Nirgends in der Geschichte des utopischen Denkens taucht jene hastige Verzweiflung auf, die Regierung nicht genug spezialisieren zu können, die unsere Welt mit dem Individualismus, dem demokratischen Liberalismus und dem Anarchismus beschenkte und nirgends jene merkwürdige Mißachtung des Reichtums an Begeisterung und Selbsthingabe im Menschen, welche die Hauptschwäche unserer irdischen Wirtschaftsverhältnisse ist. Durch die ganze Geschichte Utopiens zieht sich die Anerkennung der Tatsache, daß die Selbstsucht so wenig das ganze Menschenleben ausmacht wie die Befriedigung des Hungers, daß sie zweifellos wesentlich zum Dasein des Menschen gehört, und daß sie ihn unter dem Druck schlimmer Verhältnisse so vollständig in Besitz nehmen kann, wie die Jagd nach Nahrung bei einer Hungersnot, daß das Leben aber auch über sie hinaus kommen kann in eine unbegrenzbare Welt der Empfindungen und des Strebens. Jeder gesunde Mensch besteht aus Möglichkeiten, die über die unvermeidlichen Bedürfnisse hinausgehen, er ist uneigennütziger Empfindung fähig, und liefe sie nur auf die Begeisterung für einen Sport oder eine gelungene gewerbliche Arbeit, für eine Kunst, eine Örtlichkeit, eine Klasse hinaus. In unserer Welt strömt heutzutage wie in der utopischen Vergangenheit diese unpersönliche Energie des Menschen ab in religiöse Gefühle und Werke, in patriotisches Streben, in künstlerische Begeisterung, in Spiele und Liebhaberbeschäftigungen. Ein ungeheurer Teil der verfügbaren Kraft wird an religiöse und politische Mißverständnisse und Konflikte, an unbefriedigende Vergnügungen und unfruchtbare Beschäftigungen vergeudet. In einem modernen Utopien wird es freilich keine Vollkommenheit geben; auch hier finden wir Reibungen, Konflikte, Vergeudung, aber diese wird wesentlich geringer sein als in unserer Welt. Nach dieser verhältnismäßig kleineren Vergeudung kann man sich die Summe aller Tätigkeit vorstellen, die durch den Orden der Samurai zusammengefaßt wird, worin dieser seine Hauptaufgabe erblickt.

Ein solcher Orden kann sich nur als eine revolutionäre Organisation unter einem Zusammenprall sozialer Kräfte und politischer Systeme erheben und muß sich vorgenommen haben, ein ähnliches Ideal in Utopien zu erreichen, wie es unsre moderne Utopie für die Verhältnisse menschlicher Unvollkommenheit aufstellt. Zuerst hat er sich wohl der Forschung und Erörterung zugewandt, der Ausarbeitung eines Ideals, der Besprechung eines Feldzugsplanes. Irgendwann aber muß er eine kriegerische Organisation angenommen, gegen die bestehenden politischen Organisationen gesiegt, sich diese einverleibt haben und so für alle Ziele und Zwecke zum heutigen zusammenfassenden Weltstaat geworden sein. Spuren jenes Kämpfertums haften ihm noch an, und noch gehört zu seinem Wesen etwas Kriegerisches, das sich jedoch nicht mehr gegen besondere Unruhen, sondern gegen allgemein menschliche Schwächen und gegen die den Menschen bedrängenden leblosen Kräfte richtet.

»Etwas von dieser Art,« sage ich zu meinem Doppelgänger, »hatte sich gerade in unserm Denken – ich werfe den Kopf zurück, um einen unendlich fernen Planeten anzudeuten – erhoben, ehe ich diese Forschungsreise unternahm. Ich hatte zum Beispiel von dem Gedanken an etwas gehört, was man eine Neue Republik nannte. Sie sollte eine revolutionäre Organisation bilden, ziemlich nach Art Ihrer Samurai, wie ich sie verstehe – nur war der größere Teil der Organisation und der Lebensregeln noch zu finden. Alle möglichen Leute dachten zu der Zeit, als ich hieher kam, an etwas Derartiges. Als ich von dem Gedanken erfuhr, war er in verschiedenen Beziehungen noch ziemlich unausgebildet. Er übersah die große Möglichkeit einer Sprachenzusammenfassung in der Zukunft; er ging von einem Literaten aus, der nur Englisch schrieb, und soweit ich ihn verstand – er war in seinen Vorschlägen ein wenig unbestimmt – sollte es eine rein englischsprechende Bewegung sein. Seine Gedanken waren auch zu sehr von dem besonderen Opportunismus seiner Zeit gefärbt; bei seinen Erwartungen schien er überwiegend mit einem genialen Fürsten oder Millionär zu rechnen; er schien hierhin und dorthin nach Hilfe auszuschauen und nach den Elementen, eine Partei zu bilden. Aber der Gedanke an eine umfassende Bewegung klarer und erleuchteter Männer war immerhin vorhanden hinter dem falschen Schein und Patriotismus, dem Haß und den Persönlichkeiten der äußeren Welt.«

Ich fügte noch ein paar Einzelheiten hinzu.

»Unsere Bewegung hatte zu Anfang auch etwas von diesem Geist,« sagte mein utopischer Doppelgänger. »Aber während Ihre Menschen zusammenhangslos und auf Grund einer sehr schmalen und unterbrochenen Basis von gesammelten Folgerungen zu denken scheinen, stand den unsern ein ziemlich umfassendes Wissen über die menschliche Gesellschaft und eine sehr sorgfältige Untersuchung der früher gescheiterten Versuche zu Gebote. Schließlich muß Ihre Welt ebenso voll sein von Trümmern und Resten einstiger Ansätze, wie unsere es war; Kirchen, Aristokraten, Orden, Kulte ...«

»Nur scheinen wir gegenwärtig allen Mut verloren zu haben, und es gibt jetzt keine neuen Religionen mehr, keine neuen Orden, keine neuen Kulte – keine Anfänge mehr.«

»Aber dies ist vielleicht nur eine Ruhepause. Sie sagten – –«

»O! lassen wir jenen traurigen Planeten eine Weile! Sagen Sie mir, wie Sie es in Utopien machen.«

II

Die sozialen Theoretiker Utopiens, erklärte mir mein Doppelgänger, gründeten ihre Untersuchungen nicht auf die Einteilung der Menschen in Arbeit und Kapital, in den Landbesitz, den Spirituosenhandel und dergleichen. Das hielten sie für zufällige Kategorien, die der Staatskunst in jeder Hinsicht unterworfen seien, und sie schauten nach einer praktischen und realen Klassifizierung Darin scheinen sie Nutzen gezogen zu haben aus einer tiefer forschenden Kritik früher sozialer und politischer Spekulationen, als unsere Erde sie noch jemals unternahm. Die sozialen Spekulationen der Griechen zum Beispiel litten an demselben Grundfehler wie die wirtschaftlichen Spekulationen des achtzehnten Jahrhunderts – sie begannen mit der Annahme, die allgemeinen Verhältnisse des gerade herrschenden Standes der Dinge seien dauernd. aus, auf die sie eine Organisation begründen konnten. Aber andererseits ist die Annahme, die Menschen seien, weil praktisch gleichartig, unklassifizierbar, worauf die modernen demokratischen Methoden und alle Fehler unserer gleichen Gerechtigkeit beruhen, dem utopischen Geist noch fremder. In ganz Utopien gibt es natürlich nur ungefähre Klassifizierungen, weil jedes Wesen als endgültig einzig angesehen wird. Für politische und soziale Zwecke aber hat man sich lange an eine Einteilung nach Temperamenten gehalten, die hauptsächlich auf Unterschiede in der Fassungskraft, in der Art und im Charakter der individuellen Phantasie achtet.

Diese utopische Einteilung war oberflächlich, aber sie diente ihrem Zweck und bestimmte die großen Umrisse der politischen Organisation; sie war insofern unwissenschaftlich, als viele Individuen zwischen oder innerhalb zweier und selbst dreier Klassen liegen. Dem begegnete man aber dadurch, daß man einen ausgleichenden Spielraum ließ zwischen den in Wechselbeziehung stehenden Organisationen. Vier Hauptklassen des Geistes unterschied man: die schöpferische, die bewegende, die stumpfe und die gemeine. Die beiden ersten sollen das lebendige Gewebe des Staates bilden; die letzteren sind die Stützen und Widerstände, die Knochen und die Haut seines Körpers. Es sind keine erblichen Klassen, und man macht auch nicht den Versuch, durch besondere Züchtung Klassen zu entwickeln, einfach deshalb, weil das verwickelte Spiel der Vererbung nicht aufzuspüren und nicht zu berechnen ist. Es sind Klassen, denen sich die Menschen von selbst zugesellen. Die Erziehung ist gleichförmig, bis die Differenzierung unverkennbar wird. Jeder Mann (und jede Frau) muß seine (oder ihre) Stellung nach dem eigenen Wesen, der eigenen Wahl und Entwicklung mit Rücksicht auf die Normen dieser abstrakten Klassifizierung wählen ...

Die schöpferische Klasse geistiger Individualität umfaßt einen weiten Bereich von Arten, sie alle aber besitzen eine Einbildungskraft, die über das Bekannte und Überlieferte hinausgreift und den Wunsch in sich birgt, die auf solchen Streifzügen gemachten Entdeckungen zur Kenntnis und Anerkennung zu bringen. Spielraum und Richtung der schöpferischen Streifzüge können sehr verschieden sein. Es kann sich um die Erfindung von etwas Neuem handeln oder um die Entdeckung von etwas bisher Unbekanntem. Wenn die Erfindung oder Entdeckung im letzten Grunde die Schönheit ist, so haben wir die künstlerische Art des schöpferischen Geistes, wenn nicht, so haben wir den eigentlich wissenschaftlichen Menschen. Der Bereich der Entdeckung kann eng sein wie in der Kunst Whistlers oder in der Wissenschaft eines Zahlenforschers; er kann ein weites, bedeutsames Gebiet umfassen, bis zuletzt Künstler und wissenschaftlicher Forscher aufgehn im allgemeinen Umkreis des wahren Philosophen. Der vereinigten Tätigkeit der schöpferischen Arten, beeinflußt von den Verhältnissen, verdanken wir fast alle Formen, die das menschliche Denken und Fühlen angenommen hat. Alle religiösen Ideen des Guten und Schönen treten durch die schöpferischen Inspirationen des Menschen ins Leben. Abgesehen von Prozessen des Verfalls müssen auch die Formen der menschlichen Zukunft durch Männer dieser Art kommen, und es ist ein wesentlicher Grundzug unserer modernen Vorstellung von einem vollen, weitausblickenden Fortschritt, daß diese Tätigkeit ungehindert bleibe, ja gefördert werde.

Die bewegende Klasse besteht natürlich aus mannigfaltigen Arten, die an der Grenzlinie unmerklich übergehen in die weniger typischen Glieder der schöpferischen Gruppe, sich aber durch einen engeren Bereich der Einbildungskraft unterscheiden. Ihre Vorstellung geht nicht hinaus über das Bekannte, Erlebte und Überlieferte, obgleich sie innerhalb dieser Grenzen eine ebenso lebhafte oder noch lebhaftere Phantasie besitzen als die Glieder der ersten Gruppe. Es sind oft sehr gescheite und tüchtige Menschen; aber sie schaffen nichts Neues und haben auch nicht den Drang dazu. Die kräftigeren Individuen dieser Klasse sind die gelehrigsten Leute in der Welt, und sie sind im allgemeinen moralischer und zuverlässiger als die schöpferischen Arten. Sie leben wirklich – während die Schöpferischen immer ein wenig mit dem Leben experimentieren. Die Kennzeichen dieser beiden Klassen können mit guter oder schlechter Körperbeschaffenheit verbunden sein, mit übermäßiger oder mangelhafter Energie, mit außergewöhnlicher Sinnesschärfe in einer bestimmten Richtung oder mit einer ähnlichen Eigenheit; und der bewegende Typus kann genau wie der schöpferische eine Phantasie von beschränktem oder von ganz universellem Bereich entfalten. Aber ein einigermaßen tatkräftiger Mensch dieser Klasse kommt wahrscheinlich jenem Ideal am nächsten, das unsern irdischen Anthropologen vorschwebt, wenn sie vom »normalen« Menschen reden. Bei der schöpferischen Klasse schließt schon die Definition eine gewisse Anormalität ein.

Die Utopier unterscheiden nach der Art der Einbildungskraft zwei Extreme der bewegenden Klasse, die gleichsam deren Dan und Bersaba bildeten. An dem einen Ende steht der hauptsächlich intellektuelle, unoriginelle Typus, der bei einer energischen Persönlichkeit einen ausgezeichneten Richter oder Verwaltungsbeamten abgibt, ohne eine solche einen erfindungsarmen, fleißigen, gewöhnlichen Mathematiker oder Gelehrten, während am andern Ende der unoriginelle Gefühlsmensch steht, die Art, zu welcher – bei wenig entwickelter persönlicher Energie – mein Botaniker neigt. Der zweite Typus umschließt in seinen energischen Formen große Schauspieler, volkstümliche Politiker und Prediger. Zwischen diesen Extremen steht eine ganze Fülle von Abstufungen, unter die man die meisten achtbaren Arbeiter, die kernigen, zuverlässigen Männer und Frauen rechnen würde, die Pfeiler der Gesellschaft auf Erden.

Nach diesen beiden Klassen und unmerklich in sie übergehend kommen in der utopischen Ordnung der Dinge die Stumpfen. Es sind Leute von ganz unzulänglicher Phantasie, die Leute, die nie gründlich zu lernen, deutlich zu hören, noch klar zu denken scheinen. (Ich glaube, wenn jedermann eine sorgfältige Erziehung erhielte, so wären sie in der Welt beträchtlich in der Minderheit, aber dies ist vielleicht nicht die Ansicht des Lesers. Es ist etwas, worüber man verschiedener Meinung sein kann.) Es sind die Beschränkten, die Unzulänglichen, die Formellen, die Nachahmer, die Menschen, die in jedem richtig organisierten Staat unmittelbar über oder unter dem Minimallohn schwanken, der noch zur Ehe berechtigt. Die Gesetze der Vererbung sind viel zu geheimnisvoll, als daß man ihren möglichen Nachkommen gute Aussichten abschneiden dürfte, aber sie selber kommen im Staat weder für Leistungen noch für die Leitung in Betracht.

Schließlich konstruierten jene utopischen Staatsmänner, die den Weltstaat entwarfen, mit kühner Verachtung der Regeln logischer Klassifizierung, in der Theorie noch eine Klasse der Gemeinen. Diese können schöpferisch, bewegend oder stumpf sein, wenn sie auch meist das letztere sind, und ihre Definition trifft nicht so sehr die Art ihrer Einbildungskraft als eine bestimmte Richtung derselben, welche sie für den Staatsmann besonderer Beachtung wert erscheinen läßt. Die Gemeinen haben engere und beharrlichere egoistische Beziehungen als die übrigen Menschen; sie prahlen vielleicht, aber offen sind sie nicht, sie haben einen verhältnismäßig starken Hang zu Heimlichkeiten, sind der Grausamkeit fähig, bisweilen für sie veranlagt und zu ihr geneigt. In der wunderlichen Redeweise der irdischen Psychologie mit ihrer unbeholfenen Scheu vor der Analyse: sie haben keinen »moralischen Sinn«. Sie gelten als Gegner der Staatsorganisation.

Dies ist offenbar eine sehr grobe Einteilung, und keinem Utopier ist je der Gedanke gekommen, sie sei für eine Anwendung auf den einzelnen geeignet und so scharf, daß man sagen könne: dieser Mensch ist »schöpferisch«, jener ist »gemein«. Im praktischen Leben treten diese Eigenschaften auf alle mögliche Weise verschieden und gemischt auf. Es ist keine Einteilung für die strenge Wahrheit, sondern zu einem bestimmten Zweck. Wenn man die Menschheit zusammenfaßt als eine aus einzigartigen Individuen zusammengesetzte Menge, so kann man sie für praktische Zwecke weit bequemer behandeln, indem man ihre Eigenarten und ihre gemischten Fälle ganz außer acht läßt und sie als eine Vereinigung schöpferischer, bewegender, stumpfer und gemeiner Leute ansieht. In mancher Hinsicht tut sie, als sei sie dies. Der Staat, der es nur mit nicht individualisierten Angelegenheiten zu tun hat, darf nicht nur, sondern muß die besondere Verschiedenheit des einzelnen außer acht lassen und ihn je nach seinem überwiegenden Charakter als einen im ganzen schöpferischen, bewegenden oder sonstigen Menschen behandeln. In einer Welt übereilter Urteile und nörgelnder Kritik kann man nicht zu oft wiederholen, daß die Grundideen einer modernen Idee überall und in allem Spielraum und Dehnbarkeit voraussetzen, eine gewisse allgemeine, ausgleichende Lockerheit.

III

Nun formulierten die utopischen Staatsmänner, die den Weltstaat gründeten, das Problem der sozialen Organisation folgendermaßen: Es ist eine revolutionäre Bewegung zu wecken, die alle bestehenden Regierungen aufsaugen und mit sich verschmelzen soll, die rasch fortschrittlich und anpaßbar sein muß und doch zusammenhängend, beharrlich, mächtig und wirksam.

Das Problem, den Fortschritt mit politischer Festigkeit zu verbinden, war vor jener Zeit in Utopien so wenig gelöst worden wie auf der Erde. Genau wie hier war die Geschichte Utopiens eine Aufeinanderfolge von Kräften, die im Wechsel wirksamer konservativer und unfester liberaler Staaten stiegen und fielen. Genau wie auf der Erde hatte in Utopien der bewegende Menschentypus gegenüber dem schöpferischen eine mehr oder weniger unabsichtliche Gegnerschaft entfaltet. Die allgemeine Lebensgeschichte eines Staates war auf beiden Planeten die gleiche gewesen. Zunächst entwickelte sich durch schöpferische Regsamkeit die Idee eines Gemeinwesens, und dann gestaltete sich der Staat. Schöpferische Menschen erhoben sich bald in dieser Abteilung des nationalen Lebens, bald in jener und machten bewegenden Männern eines hohen Typus Platz – denn es scheint in ihrer Natur zu liegen, daß schöpferische Männer sich gegenseitig abstoßen und einander nicht im Zusammenhange folgen – dann setzte eine Zeit der Ausdehnung und Kraft ein. Die allgemeine schöpferische Regsamkeit nahm ab mit der Entwicklung einer wirksamen und feststehenden sozialen und politischen Organisation. Der Staatsmann wich dem Politiker, der des Staatsmannes Weisheit mit der eigenen Energie verschmolz; das Originalgenie in der Kunst, der Literatur, der Wissenschaft und in jedem Gebiet der Betätigung wich dem Gebildeten und Geschulten. Der weitblickende bewegende Mensch, der sich seinem schöpferischen Vorgänger assimiliert hat, siegt in fast jeder Betätigung weit schneller als sein schöpferischer Zeitgenosse. Dieser ist schon seinem Wesen nach undiszipliniert und experimentell; Beispiele und Ordnung hindern ihn geradezu. Mit dieser Einschaltung des wirksamen Typs an Stelle des schöpferischen hört der Staat zu wachsen auf, erst auf diesem Gebiet der Betätigung, dann auf jenem; solange seine Verhältnisse die gleichen bleiben, bleibt er geordnet und leistungsfähig. Aber er hat die Kraft des Fortschritts und der Wandlung verloren, seine Anpassungsfähigkeit ist dahin, und infolge des langsamen Wandels der Verhältnisse, der ein Lebensgesetz ist, müssen sich innere und äußere Spannungen ergeben, die schließlich durch eine Revolution oder eine Niederlage neue schöpferische Kraft befreien. Der Prozeß ist in seiner Gesamtheit natürlich nicht einfach. Er kann durch die Tatsache verhüllt sein, daß ein Gebiet der Betätigung auf der schöpferischen, ein anderes auf der Stufe der Ausführung steht. In den Vereinigten Staaten herrschte zum Beispiel während des neunzehnten Jahrhunderts große schöpferische Regsamkeit in der industriellen Organisation, gar keine jedoch in der Staatsphilosophie; aber eine sorgfältige Untersuchung wird in der Geschichte jeder Periode den Rhythmus fast unabänderlich als vorhanden zeigen. Das erste Problem, das dem utopischen Philosophen vorlag, war also, ob der menschliche Fortschritt notwendig in einer Reihe von Entwicklungen, Zusammenbrüchen und, nach einem Zeitraum der Unordnung, in Unrast, oft großem Unglück und neuen Anfängen bestand, oder ob es möglich war, neben einem ununterbrochenen Fluß schöpferischer Tätigkeit einen sichern, glücklichen und fortschreitenden Staat aufrecht zu erhalten.

Offenbar entschied man sich zugunsten der zweiten Möglichkeit. Wenn ich wirklich meinem utopistischen Ich lausche, so entschieden sie nicht nur, daß das Problem sich lösen lasse, sondern sie lösten es auch.

Er erzählt mir, wie sie es lösten.

Eine moderne Utopie unterscheidet sich von allen ältern dadurch, daß sie die Notwendigkeit schöpferischer Arbeit anerkennt – man sieht diese neue Einsicht zum erstenmal in den Worten auftauchen, mit denen Comte darauf besteht, es müsse der politischen Rekonstruktion eine geistige vorangehen und ferner darin, daß er die Notwendigkeit immer neuer Bücher und Dichtwerke über Utopien zugibt – und zunächst scheint es, als füge diese Anerkennung einem schon unübersehbar verwickelten Problem eine neue Verwicklung hinzu. Comtes Scheidung der Betätigung eines Staates in die geistige und materielle nimmt bis zu einem gewissen Grade den Gegensatz des Schöpferischen und Bewegenden schon vorweg; aber das innere Gewebe seines Geistes war stumpf und hart, der Begriff entschlüpfte ihm wieder, und seine Unterdrückung literarischer Tätigkeit, seine Auferlegung einer Lebensregel für die schöpferischen Typen, die sie am wenigsten durchzuführen vermögen, zeigt, wie tief er sich verlor. In weitem Maße folgte er den älteren Utopisten, wenn er annahm, das philosophische und konstruktive Problem lasse sich ein für allemal lösen, und seine Ergebnisse wandte er einfach unter einer organisierten bewegenden Regierung an. Aber was als eine Steigerung der Schwierigkeit erscheint, kann sich schließlich als eine Vereinfachung herausstellen, genau wie die Einführung eines neuen Ausdrucks eine verschlungene mathematische Formel mitunter einheitlich macht.

Nun würden Philosophen meiner utopistischen Art, die den letzten Sinn des Lebens in der Individualität, dem Neuen und Unbestimmten sehen, das schöpferische Element nicht nur als das wichtigste in der menschlichen Gesellschaft ansehen, sondern sie müßten auch die Unmöglichkeit seiner Organisation vollkommen deutlich erkennen. Damit wenden sie nur auf das moralische und intellektuelle Gefüge diejenigen Grundsätze an, die wir schon bei der staatlichen Aufsicht über die Fortpflanzung erörtert haben (6. Kapitel, II). Aber genau wie es dem Staat möglich war, für die Geburten einschränkende Bedingungen festzulegen, innerhalb welcher die Individualität freieres Spiel hat als wenn keine Vorschriften bestünden, so hielten es die Gründer dieses modernen Utopien auch für möglich, Bedingungen zu entwerfen, unter denen jedes mit schöpferischen Gaben geborene Individuum instandgesetzt und ermutigt würde, diesen in der Kunst, der Philosophie, der Erfindung oder Entdeckung volle Entwicklung angedeihen zu lassen. Gewisse allgemeine Bedingungen boten sich als einleuchtend vernünftig dar: – daß man zum Beispiel jedem Bürger eine so gute Bildung gab, wie er oder sie sich aneignen konnte und diese so einrichtete, daß der planmäßige Unterricht nie die ganze verfügbare Zeit des Lernenden in Anspruch nahm, sondern stets freie Muße und Gelegenheit ließ, um besondere Neigungen zu entwickeln, und daß man durch das Auskunftsmittel eines Mindestlohnes für eine bestimmte Arbeitsmenge dafür Sorge trug, daß es durchs ganze Leben nie an Zeit und Gelegenheit fehlte.

Aber man ermöglichte nicht nur die schöpferische Tätigkeit auf die angegebene Weise ganz allgemein, sondern die Gründer des modernen Utopien suchten auch Antriebe zu geben. Dies war eine weit schwierigere Frage, ein seiner Natur nach unentwirrbar verwickeltes Problem, das keine systematische Lösung zuließ. Mein Doppelgänger erzählte mir jedoch von einer großen Menge von Vorkehrungen, durch die schöpferischen Männern und Frauen Ehren und erweiterte Freiheiten verliehen wurden, sobald sie eine Probe ihrer Begabung ablegten, und er erklärte mir, wie weit sie ihrem Ehrgeiz Spielraum gewähren durften.

Jeder örtlichen Kraftstation waren große Systeme von Laboratorien beigeordnet, in denen unter den günstigsten Bedingungen Forschungen angestellt werden konnten, und jede Mine, ja fast jedes gewerbliche Etablissement wurde unter ähnlichen Verpflichtungen zu niedrigerer Pacht vergeben. Soviel von schöpferischer Anlage und Forschung in der physikalischen Wissenschaft. Der Weltstaat prüfte die Ansprüche jedes lebenden Steuerzahlers an jede materiell wertvolle Erfindung und zahlte oder verlangte Gebühren für ihre Benutzung, die zum Teil ihm persönlich, zum Teil der Forschungsinstitution zufielen, aus welcher er hervorgegangen war. In Dingen der Literatur, der philosophischen und soziologischen Wissenschaften hatte jedes höhere Unterrichtsinstitut seine Studenten, Mitglieder, gelegentlich vortragenden Professoren, und wer ein Gedicht, einen Roman, ein spekulatives Werk von Verdienst oder Kraft hervorbrachte, wurde der Gegenstand edlen Wettbewerbs für rivalisierende Universitäten. In Utopien hat jeder Autor die Wahl, seine Werke als Privatspekulation durch den öffentlichen Verleger herauszugeben, oder, wenn er das genügende Verdienst hat, eine Universitätsrente anzunehmen und seine Rechte der Universitätspresse abzutreten. Allerlei Stiftungen, die in der Hand von Komitees der verschiedensten Zusammensetzung lagen, ergänzten diese akademischen Hilfsmittel und sorgten dafür, daß keiner, der möglicherweise den weiten Strom des utopischen Geistes mehren konnte, vernachlässigt wurde. Abgesehen von denen, sagte mir mein Doppelgänger, die sich hauptsächlich mit einem Amt und mit der Verwaltung befaßten, erhielt das so geschaffene weltumfassende Haus des Salomo Die Neue Atlantis. über eine Million Menschen. Trotz der Seltenheit großer Vermögen blieb also kein origineller Mensch mit dem Wunsch und der Befähigung zu materiellen oder geistigen Versuchen lange ohne Hilfsquellen und den Anreiz der Beachtung, der Kritik, des Wettbewerbs.«

»Und schließlich,« sagte mein Doppelgänger, »sichern unsere Regeln weitgehendes Verständnis für die Wichtigkeit schöpferischer Betätigung bei der Mehrheit der Samurai, in deren Händen, als einer Klasse, alle wirkliche Macht der Welt liegt.«

»Ah!« sagte ich, »jetzt kommen wir zu dem, was mich am meisten interessiert. Denn mir ist ganz klar, daß diese Samurai den eigentlichen Körper des Staates bilden. Die ganze Zeit, während welcher ich auf diesem Planeten verkehrt habe, ist es mir immer deutlicher geworden, daß dieser Orden von Männern und Frauen, die wie Sie eine Uniform tragen, und deren Züge von Disziplin geschärft und von Hingebung gemildert sind, die utopische Wirklichkeit bildet; daß, wären sie nicht, der ganze Bau von so schönem Ansehen zerbröckeln und unansehnlich werden, zusammenschrumpfen und schwinden würde, bis ich wieder in Schmutz und Wirrwarr des irdischen Lebens stünde. Erzählen Sie mir von diesen Samurai, die mich an Platos Aufseher erinnern, die Tempelrittern ähnlich sehen, die einen Namen führen, bei dem man an japanische Krieger denkt ... und deren Uniform Sie selbst tragen. Wer sind sie? Ist es eine erbliche Kaste, ein besonders erzogener Orden, eine gewählte Klasse? Denn sicherlich dreht diese Welt sich um sie wie eine Türe um ihre Angeln.

IV

»Ich folge wie viele der Allgemeinen Regel,« sagt mein Doppelgänger, indem er meine Anspielung auf seine Uniform fast entschuldigend beantwortet. »Aber meine Arbeit ist ihrer Natur nach schöpferisch. Es herrscht viel Unzufriedenheit mit unserer Absonderung der Verbrecher auf Inseln, und ich untersuche die Psychologie der Gefängnisbeamten und Verbrecher im allgemeinen, um einen bessern Weg zu finden. Man hält mich in dieser Richtung für erfinderisch. Meist sind die Samurai mit Verwaltungsarbeit beschäftigt. Praktisch liegt die ganze verantwortliche Regierung der Welt in ihren Händen; alle unsre Hauptlehrer und Disziplinarleiter der Universitäten, unsre Richter, Anwälte, Arbeitgeber (soweit sie über eine bestimmte Grenze hinaus Arbeiter beschäftigen), unsere praktizierenden Ärzte, unsere Gesetzgeber müssen Samurai sein, und alle ausführenden Komitees usw., die in unsern Angelegenheiten eine so große Rolle spielen, werden durchs Los ausschließlich aus ihnen gewählt. Der Orden ist nicht erblich – wir kennen gerade genug von der Biologie und von den Ungewißheiten der Vererbung, um zu wissen, wie töricht das wäre – und er verlangt keine frühe Weihe, kein Noviziat, keine Zeremonie irgendwelcher Art. Die Samurai sind Freiwillige. Jeder intelligente Erwachsene, der einigermaßen gesund und leistungsfähig ist, kann in jedem Alter über fünfundzwanzig ein Samurai werden und an der Weltherrschaft mitarbeiten.«

»Wofern er der Regel folgt.«

»Gewiß – wofern er der Regel folgt.«

»Ich habe von ›freiwilligem Adel‹ sprechen hören.«

»Dies war die Idee unserer Gründer. Sie schufen einen edlen und privilegierten Orden – der der ganzen Welt offen stand. Keiner konnte sich über ungerechten Ausschluß beklagen, denn das einzige, was aus dem Orden ausschließen konnte, war Mangel an gutem Willen, oder Unfähigkeit, der Regel zu folgen.«

»Aber die Regel hätte leicht bestimmte Geschlechter und Rassen ausschließen können.«

»Dies war nicht ihre Absicht. Die Regel sollte die Stumpfen ausschließen, für die Gemeinen reizlos sein und alle vernünftigen, gut gesinnten Bürger verbinden.«

»Und es gelang ihr?«

»So gut als etwas Menschliches gelingen kann. Noch ist das Leben unvollkommen, immer noch ist es ein dicker Filz von Ungenüge und schwierigen Problemen. Aber schließlich hat sich der Stand all seiner Probleme gehoben, es hat keinen Krieg mehr gegeben, keine vernichtende Armut, nicht mehr die Hälfte der Krankheiten, dafür aber eine ungeheure Steigerung der Ordnung, der Schönheit und der Hilfsquellen des Lebens – seitdem die Samurai, die als eine private, angreifende Sekte begannen, sich den Weg zur Weltherrschaft gebahnt haben.«

»Ich möchte diese Geschichte kennen. Vermutlich gab es Kämpfe?« Er nickte. »Aber erst – erzählen Sie mir von der Regel.«

»Die Regel soll die Stumpfen und Gemeinen ganz ausschließen, soll die innern Antriebe und Gefühlsbewegungen in Zucht halten, soll eine moralische Gewohnheit entwickeln und den Menschen zu Zeiten der Anspannung, Ermüdung und Versuchung stützen, soll die höchste mögliche Zusammenarbeit aller Guten schaffen und alle Samurai in einem Zustand moralischer und körperlicher Gesundheit und Leistungsfähigkeit erhalten. Davon tut sie soviel und tut es so gut als sie kann, aber wie alle allgemeinen Vorschriften in keinem Fall mit unbedingter Genauigkeit. Im ganzen ist die Regel so gut, daß die meisten, die wie ich schöpferische Arbeit tun und die ohne Gehorsam genau so gut daran wären, eine Befriedigung darin finden, wenn sie an ihr festhalten. Anfangs, in der Kampfzeit, war sie ein wenig hart und unnachgiebig, sie wandte sich zu sehr an den moralischen Heuchler und den schroff rechtschaffenen Mann, aber sie hat Änderung und Erweiterung erfahren, erfährt dies noch und paßt sich mit jedem Jahr dem Bedürfnis nach einer allgemeinen Lebensregel, der alle Menschen zu folgen versuchen können, ein wenig besser an. Wir haben jetzt eine ganze Literatur über die Regel, in der sich vieles Schöne findet.

Er warf einen Blick auf ein kleines Buch auf dem Schreibtisch, nahm es, als wollte er es mir zeigen und legte es wieder hin.

»Die Regel besteht aus drei Teilen. Es gibt eine Liste der Dinge, die Berechtigung verleihen, eine Liste der Dinge, die nicht getan werden dürfen und eine Liste solcher, die getan werden müssen. Der Berechtigungsnachweis erfordert ein wenig Anstrengung, als Zeugnis guten Willens, er soll die stumpferen Stumpfen und viele von den Gemeinen ausscheiden. Unsere Schulperiode schließt jetzt mit ungefähr vierzehn Jahren, und dann wird eine kleine Anzahl von Knaben und Mädchen – etwa drei Prozent – als ungelehrig, ja als fast stumpfsinnig abgetrennt; die übrigen gehen in eine höhere Schule über.«

»Ihre ganze Bevölkerung?«

»Mit jener Ausnahme.«

»Kostenlos?«

»Natürlich. Und mit achtzehn verlassen sie die höhere Schule. Es gibt mehrere Kurse derselben; aber den einen oder andern muß man durchmachen und mit einem befriedigenden Zeugnis abschließen – vielleicht zehn Prozent fallen ab – und die Regel erfordert, daß der Samuraikandidat besteht.«

»Aber ein sehr tüchtiger Mann war manchmal ein träger Schüler.«

»Das geben wir zu. Deshalb kann sich jeder, der beim Verlassen der Schule das Examen nicht bestanden hat, im späteren Leben zum zweitenmal melden, ja zum dritten- und viertenmal. Bestimmte, genau festgelegte Dinge entbinden ganz davon.«

»Das ist gerecht. Aber gibt es nicht Leute, die keine Examina aushalten?«

»Leute von nervöser Unbeständigkeit – –«

»Aber sie können große, wenn auch ungeregelte schöpferische Gaben haben.«

»Ganz recht. Das ist gewiß möglich. Aber wir wünschen diese Art Leute nicht unter unsern Samurai. Daß man ein Examen besteht, beweist eine gewisse Festigkeit des Willens, eine gewisse Selbstbeherrschung und Unterwerfung – –«

»Eine gewisse Gewöhnlichkeit.«

»Genau, was wir wollen.«

»Natürlich können die andern irgendwelche andere Laufbahn einschlagen.«

»Ja. Das ist es, was wir wünschen. Außer den genannten zwei Bildungsnachweisen gibt es noch zwei ähnliche, von strittigerem Werte. Der eine wird augenblicklich nicht verlangt. Unsere Gründer forderten, der Kandidat der Samurai solle eine Technik besitzen, wie sie es nannten. Wie es zu Anfang galt, mußte er ein Zeugnis als Arzt, als Anwalt, als Offizier, Ingenieur oder Lehrer haben, mußte annehmbare Bilder gemalt oder ein Buch geschrieben haben oder sonst etwas der Art. Kurz, er mußte, wie die Leute sagen, »etwas sein« oder »etwas getan haben«. Es war von Anfang an eine unbestimmte Vorschrift, und sie wurde allgemein bis zum Gipfel der Absurdidät. Violine geschickt zu spielen wurde als genügende Befähigung angenommen. Früher mag ein Grund bestanden haben für diese Vorschrift: in jenen Tagen gab es viele Töchter wohlhabender Eltern – und selbst Söhne – die nichts taten, als interesselos durch die Welt ziehen, und die Organisation hätte durch ihr Eindringen leiden können. Dieser Grund besteht aber nicht mehr, und das Erfordernis ist nur noch eine Form. Dafür hat sich aber ein anderes entwickelt. Unsere Gründer legten eine Sammlung von mehreren Bänden an, die sie insgesamt das Buch der Samurai nannten, eine Kompilation von Artikeln und Auszügen, Gedichten und Prosastellen, welche die Idee des Ordens verkörpern sollten. Es sollte für die Samurai die gleiche Rolle spielen wie die Bibel für die alten Hebräer. Die Wahrheit zu sagen, war das Material sehr ungleichartig; es stand eine Menge minderwertiger Rhetorik darin und einige fast sentimentale Poesie. Auch war sehr dunkle Poesie und Prosa aufgenommen, die weise scheinen sollte. Aber trotz all solcher Mängel war von Anfang an vieles in dem Buch glänzend und voll Anregungen. Inzwischen hat das Buch der Samurai eine Durchsicht erfahren, vieles ist neu hinzugekommen, vieles gestrichen und einiges sorgfältig umgearbeitet worden. Heute steht kaum noch etwas darin, was nicht schön und in der Form vollendet wäre. Der ganze Bereich edler Empfindungen hat dort seinen Ausdruck gefunden und ebenso alle leitenden Ideen unseres modernen Staates. Wir haben kürzlich eine bündige Kritik seines Inhalts von einem gewissen Henley aufgenommen.«

»Dem alten Henley?«

»Er ist vor kurzem gestorben.«

»Ich habe ihn auf der Erde gekannt. Er ist also auch in Utopien gewesen! Er war ein großer Mann mit rotem Gesicht und Feuerhaar. Er war ein geräuschvoller, unduldsamer Erwecker von Feinden trotz seines weichen Herzens – und er gehörte zu den Samurai?«

»Er trotzte der Regel.«

»Er war ein großer Freund des Weins. Er schrieb gleichsam Wein, in unserer Welt schrieb er Wein, roten Wein, durch den das Licht scheint.«

»Er saß in der Kommission, die unsern Kanon nachprüfte. Denn dies war eine Arbeit sowohl für schöpferische wie für bewegende Leute. Sie kannten ihn in Ihrer Welt?«

»Ich wünschte, ich hätte ihn gekannt. Aber ich habe ihn gesehen. Auf der Erde schrieb er etwas ... es hieß ungefähr: –

»Aus Finsternis, die mich umringt
Von Pol zu Pol wie Grabesnacht,
Mein Dank zu allen Göttern dringt
Für meiner Seele Siegermacht ...«

»Das haben wir hier. Alles Gute von der Erde ist auch in Utopien vorhanden. Wir nahmen dies fast gleich nach seinem Tode in den Kanon auf,« sagte mein Doppelgänger.

V

Wir haben jetzt einen doppelten Kanon, einen sehr schönen Ersten Kanon und einen Zweiten Kanon aus Werken Lebender und Werken geringerer Art. Eine befriedigende Kenntnis beider ist der vierte Befähigungsnachweis für die Samurai.«

»Das muß in der Tönung Ihres Denkens eine gewisse Gleichförmigkeit festhalten.«

»Der Kanon durchsetzt unsre ganze Welt. Vieles daraus wird schon in den Schulen gelesen und gelernt ... Nach dem intellektuellen Ausweis kommt der physische. Der Kandidat muß gesund sein, frei von gewissen ekelhaften, vermeidlichen, demoralisierenden Krankheiten und körperlich gestählt. Leute, die fett, dünn, schlaff oder deren Nerven unzuverlässig sind, weisen wir ab – wir verweisen sie auf körperliche Ausbildung. Und schließlich muß sowohl Mann wie Frau voll erwachsen sein.«

»Einundzwanzig? Aber Sie sagten ja fünfundzwanzig!«

»Das Alter hat geschwankt. Erst war es fünfundzwanzig und mehr; dann mindestens fünfundzwanzig für Männer, einundzwanzig für Frauen. Jetzt meint man, es müsse wieder erhöht werden. Wir wollen keine bloßen Knaben- und Mädchenwallungen in Dienst setzen – wenigstens Männer meiner Denkungsart wollen es nicht – wir wollen unter unsern Samurai nur Leute mit Erfahrungen und einer festen, reifen Überzeugung haben. Unsere Lebensweise und Gesundheitspflege drängen Alter und Tod rasch zurück und erhalten die Menschen gesund und kräftig bis zu achtzig und mehr Jahren. Man braucht sich mit den Jungen nicht zu beeilen. Mögen sie ein wenig Wein, Weib und Gesang genießen; mögen sie den Biß kräftiger Begierden fühlen und erkennen, mit was für Teufeln sie zu rechnen haben.«

»Aber es gibt eine vorzügliche Art junger Leute, die den Reiz alles Höheren schon mit neunzehn empfinden.«

»Sie können die Regel jederzeit halten – ohne ihre Vorrechte. Wer aber die Regel nach seinem Beitritt mit fünfundzwanzig bricht, kommt nie wieder unter die Samurai. Vor diesem Alter kann er sie brechen und bereuen.«

»Und nun, was ist verboten?«

»Wir verbieten sehr vieles. Viele kleinen Genüsse schaden nicht, aber wir halten es für gut, sie trotzdem zu verbieten, um die Schwachen auszuroden. Wir glauben, daß ein fortwährender Widerstand gegen kleine Versuchungen gut ist für die Tüchtigkeit des Menschen. Jedenfalls zeigt er, daß der Betreffende bereit ist, für Ehre und Vorrechte etwas hinzugeben. Wir schreiben eine gewisse Diät vor, verbieten Tabak, Wein, alle alkoholischen Getränke, alle Narkotika – –«

»Fleisch?«

»Auf dem ganzen Weltrund Utopiens gibt es kein Fleisch. Früher ja. Aber heutzutage ist uns der Gedanke an Schlachthäuser unerträglich. Und in einer durchweg gebildeten Bevölkerung, die ungefähr auf der gleichen Stufe der Verfeinerung steht, ist es tatsächlich unmöglich, jemand zu finden, der ein totes Rind oder Schwein zerschlüge. Die gesundheitliche Frage des Fleischessens haben wir nie erledigt. Jene andere Erwägung entschied die Sache. Ich entsinne mich noch aus meiner Kindheit der Freude über die Schließung des letzten Schlachthauses.«

»Sie essen Fische?«

»Das ist nicht logisch. In unserer barbarischen Vergangenheit hingen scheußliche, abgezogene, bluttriefende Tierleichen auf offenen Straßen zum Verkauf aus.« Er zuckte die Achseln.

»So ist es noch heute in London – in meiner Welt,« sagte ich.

Er blickte mir wieder in mein schlafferes, gröberes Gesicht, ohne den Gedanken zu äußern, der ihm durch den Kopf gegangen war.

»Ursprünglich war den Samurai der Wucher verboten, das heißt das Ausleihen von Geld zu einem bestimmten Zinsfuß. Dieses Verbot besteht noch. Da aber unser Handelsgesetz den Wucher tatsächlich unmöglich macht, und da unser Gesetz Verträge auf Zinsen für Privatdarlehen an unglückliche Entleiher nicht anerkennt, so ist es kaum noch nötig. Der Gedanke, daß jemand durch bloße Untätigkeit auf Kosten eines verarmenden Schuldners reich wird, ist für utopische Begriffe äußerst unerträglich, und unser Staat besteht jetzt ziemlich wirksam darauf, daß der Verleiher am Risiko des Entleihers teilnimmt. Dies gehört jedoch nur in eine Reihe von Einschränkungen gleicher Art. Es ist klar, daß der Kauf, nur zu dem Zweck, wieder zu verkaufen, viele unsoziale menschliche Eigenschaften hervorbringt. Der Mensch sucht da den Nutzen zu steigern und Werte zu fälschen, und so ist es den Samurai verboten, auf eigene Rechnung oder für einen Arbeitgeber – außer für den Staat – zu verkaufen, wenn nicht ein Fabrikationsprozeß die Art der Ware ändert (eine bloße Änderung des Umfanges oder der Verpackung genügt nicht). Alles Verkäufertum und dessen Kunstgriffe sind ihnen untersagt. Deshalb können sie nicht Hotelwirte, Hotelbesitzer oder Hotelteilhaber sein, und ein Arzt – alle praktizierenden Ärzte müssen Samurai sein – darf keine Arzneien verkaufen, außer im öffentlichen Dienste der örtlichen Verwaltung oder des Staates.«

»Das läuft natürlich allen unseren irdischen Begriffen zuwider,« sagte ich. »Wir sind besessen von der Macht des Geldes. Diese Regeln werden auf ein Gelübde maßvoller Armut hinauslaufen, und wenn Ihre Samurai einen Orden armer Leute bilden – –«

»Sie brauchen nicht arm zu sein. Samurai, die neue Industrien erfunden, organisiert und entwickelt haben, sind reiche Leute geworden, und viele, die durch glänzenden und originellen Handel reich geworden waren, sind später Samurai geworden.«

»Dies sind aber Ausnahmen. Die große Masse Ihrer einträglichen Geschäfte muß auf Leute beschränkt sein, die keine Samurai sind. Sie müssen eine Klasse reicher, mächtiger Outsiders haben – –«

»Wirklich?«

»Ich sehe allerdings keine Spuren ihrer Existenz.«

»Wir haben tatsächlich solche Leute! Es gibt reiche Händler, Leute, die in der Ökonomie des Güterverkehrs Entdeckungen gemacht, oder die zum Beispiel durch intelligente, wahrheitsgetreue Reklame auf die Möglichkeiten vergessener Waren aufmerksam machten.«

»Aber sind sie nicht eine Macht?«

»Warum sollten sie?«

»Reichtum ist Macht.«

Den Satz mußte ich erklären.

Er protestierte: »Reichtum ist durchaus keine Macht, wenn man ihn nicht dazu erhebt. Wenn er es in Ihrer Welt ist, kann dies nur infolge mangelnder Aufklärung sein. Reichtum ist etwas vom Staate Geschaffenes, ist eine Konvention, ist die künstlichste aller Mächte. Eine verfeinerte Staatskunst kann festlegen, was durch ihn zu erkaufen ist, was nicht. Mir scheint, ihr habt in eurer Welt die Muße, die Freiheit der Bewegung und jede andere Freiheit käuflich gemacht. Um so größere Toren seid ihr! Ein armer Arbeiter ist bei euch ein Mann der Trübsal und Furcht. Kein Wunder, daß eure Reichen Macht haben. Hier aber kann jedermann eine vernünftige Muße und ein anständiges Leben billiger haben, als dadurch, daß er sich den Reichen verkauft. Und so reiche Menschen es hier auch gibt, so ist doch in der ganzen Welt kein Privatvermögen, das neben dem Reichtum des Staates mehr wäre als eine Kleinigkeit. Die Samurai verwalten den Staat und den Reichtum des Staates, und nach ihren Gelübden dürfen sie sich keinem der gröberen Genüsse hingeben, die der Reichtum noch kaufen kann. Wo also bleibt die Macht der Reichen?«

»Aber – wo bleibt da der Anreiz – –?«

»O! man erwirbt viel für sich durch Reichtum – unendlich viel. Aber wenig oder keine Macht über andere – es sei denn über Leute, die besonders schwach sind oder Leidenschaften frönen.«

Ich überlegte. »Was ist den Samurai sonst noch verboten?«

»Schauspielen, Singen und Rezitieren ist ihnen verboten, obgleich sie unter Vollmacht Vorträge halten und debattieren dürfen. Berufsmäßige Schauspielerei hält man nicht nur für eines Mannes und einer Frau unwürdig, sondern man glaubt auch, es schwäche und verderbe die Seele. Der Geist gerät in törichte Abhängigkeit vom Beifall; er wird übergeschickt, flitterhafte augenblickliche Täuschungen über hervorragende Leistungen hervorzurufen. Es ist unsere Erfahrung, daß Schauspieler und Schauspielerinnen als Klasse laut, unvornehm und unaufrichtig sind. Wenn sie diese flackernden Eigenschaften nicht haben, so sind sie laue, wirkungslose Spieler. Auch dürfen die Samurai keinen persönlichen Dienst verrichten, außer als Ärzte oder Chirurgen, sie dürfen zum Beispiel keine Barbiere sein, keine Kellner noch Stiefelputzer; aber wir haben heutzutage kaum noch Barbiere und Stiefelputzer; solche Verrichtungen tun die Menschen für sich selber. Auch darf keiner, der der Regel folgt, jemandes Diener und verpflichtet sein, zu tun, was man ihm befiehlt. Er darf weder Diener sein, noch sich einen halten. Er muß sich selbst rasieren, anziehen und bedienen, sich seine Speisen vom Anrichtetisch selbst auf den Tisch tragen, sein Schlafzimmer selber ordnen und sauber verlassen ...«

»Das alles ist leicht genug in einer so geregelten Welt wie der Ihren. Vermutlich darf kein Samurai wetten?«

»Nie. Er darf sein Leben und Alter zugunsten der besseren Ausstattung seiner Kinder und zu anderen genau bestimmten Zwecken versichern; dies aber ist sein ganzer Verkehr mit dem Zufall. Auch ist ihm verboten, sich an öffentlichen Spielen zu beteiligen oder solchen zuzusehen. Bestimmte gefährliche und kühne Spiele und Leibesübungen sind ihm vorgeschrieben, aber keine Wettkampfspiele, wo Mann gegen Mann steht, oder Partei gegen Partei. Diese Lehre lernte man längst, ehe die Samurai kamen. Vornehme Herren ritten nach dem alten Herkommen Pferde, fuhren Wagenrennen, fochten und maßen sich in Geschicklichkeitsspielen, und die Stumpfen, Feigen und Gemeinen kamen zu Tausenden, um zu bewundern, zu brüllen und zu wetten. Die vornehmen Herren entarteten rasch genug zu einer Art athletischer Sportsprostitution mit allen Fehlern, all der Eitelkeit, Betrügerei und Einbildung des gewöhnlichen Schauspielers, ja sogar ohne dessen Intelligenz. Unsere Gründer fanden sich nicht ab mit dieser Organisation der öffentlichen Spiele. Sie opferten nicht ihr Leben, um allen Männern und Frauen auf der Erde Freiheit, Gesundheit und Muße zu sichern zu dem Zweck, daß sie ihr Leben auf solche Narrheiten verschwenden könnten.«

»Wir haben diese Mißbräuche,« sagte ich, »aber einige unserer irdischen Spiele haben ihre gute Seite. So haben wir ein Spiel, das Kricket heißt – ein schönes, feuriges Spiel.«

»Unsere Knaben spielen es, und auch Männer. Aber es gilt als ziemlich kindisch, ihm viel Zeit zu widmen, Männer sollten ernstere Interessen haben. Auffällig schlecht zu spielen, entsprach der Würde und dem Ansehen der Samurai nicht, und unmöglich konnten sie so fortwährend spielen, daß sie Auge und Hand in Übung zu erhalten vermochten gegenüber dem, der Narr genug war, sich zum gewiegten Spieler auszubilden. Kricket, Tennis, Fives, Billard – Sie werden auch in Utopien Klubs und eine Menschenklasse finden, die all diese Spiele spielen, aber nicht die Samurai. Und sie müssen ihre Spiele als Spiele betreiben, nicht als Schauspiele. Der Preis für ein abgeschlossenes Grundstück zum Kricketspielen, so daß sie Eintrittsgeld erheben könnten, wäre überwältigend hoch. ... Neger spielen oft sehr geschickt Kricket. Eine Zeitlang hatten die Samurai ihr Säbelfechten; aber diesen Sport pflegen jetzt nur noch wenige. Bis vor etwa fünfzig Jahren zogen sie jedes Jahr vierzehn Tage zu Kriegsübungen aus, marschierten große Strecken weit, schliefen im Freien, führten Vorräte mit und schossen auf unbekanntem Terrain nach auftauchenden und verschwindenden Zielscheiben. Man war in unserer Welt merkwürdig unfähig, einzusehen, daß der Krieg für immer vorbei war.«

»Und sind wir jetzt bald mit Ihren Verboten zu Ende? Sie verbieten den Alkohol, Narkotika, das Rauchen, Wetten, Spiele, den Wucher, den Handel und Dienstboten. Gibt es auch ein Gelübde der Keuschheit?«

»Haben Ihre irdischen Orden eine solche Regel?«

»Ja – abgesehen, wenn ich mich recht erinnere, von Platos Aufsehern.«

»Es gibt hier eine Regel der Keuschheit – aber nicht die des Zölibats. Wir wissen sehr genau, daß die Zivilisation etwas Künstliches ist, und daß all die physischen und Gefühlsinstinkte des Menschen zu stark sind, und sein natürlicher Instinkt der Selbstbeherrschung zu schwach, als daß er leicht in einem zivilisierten Staat leben könnte. Die Zivilisation hat sich weit schneller entwickelt, als der Mensch sich verändert hat. Unter der unnatürlichen Vervollkommnung der Sicherheit, Freiheit und Fülle, die unsre Zivilisation erreicht hat, neigt das normale, ungeschulte Menschenwesen zur Ausschweifung in jeder Richtung. Er ißt leicht zu viel und zu raffiniert, er wird schneller träge, als seine Arbeit dies zuläßt, er vergeudet sein Interesse an Schaustellungen und huldigt der Liebe zuviel und zu raffiniert. Er verliert so seine Gewandtheit und widmet sich nur egoistischen und erotischen Grübeleien. Die frühere Geschichte unserer Rasse ist zum großen Teil die Geschichte sozialer Zusammenbrüche infolge der Entsittlichung durch die Zuchtlosigkeit, die auf Zeiten der Sicherheit und des Wohlstandes folgt. Zur Zeit unserer Gründer waren die Anzeichen einer weltumfassenden Epoche des Wohlstands und der Erschlaffung zahlreich vorhanden. Beide Geschlechter trieben sexuellen Ausschweifungen zu: die Männer empfindsamen Überschwenglichkeiten, schwachsinniger Verehrung, raffinierten physischen Genüssen; die Frauen jenen Erweiterungen und Differenzierungen der Empfindung, die in der Musik und in kostbarer, auffallender Kleidung Ausdruck findet. Beide Geschlechter wurden unstabil und gingen ineinander über. Die ganze Welt schien geneigt, mit ihren sexuellen Interessen genau so zu verfahren, wie mit ihrem Essen und Trinken, sich daran gütlich zu tun.«

Er hielt inne.

»Da kam die Übersättigung zu Hilfe,« sagte ich.

»Die Vernichtung kann vor der Übersättigung kommen. Unsere Gründer zogen Motive aus allen möglichen Quellen; aber ich glaube, die wichtigste Kraft, die dem Menschen Selbstbeherrschung verleiht, ist der Stolz. Er ist vielleicht nicht das Edelste in der Seele, aber trotzdem herrscht er dort als König. Von ihm erwarteten sie, er werde den Menschen rein, gesund und vernünftig erhalten. Sie glaubten, in dieser Hinsicht dürfe, wie in allen Dingen natürlichen Begehrens, keine Begierde übersättigt, noch künstlich geschärft werden, aber ebensowenig dürfe sie verhungern. Der Mensch soll befriedigt, aber nicht voll vom Tisch aufstehen. Und in Dingen der Liebe war ein offenes und reines Verlangen nach einem reinen und offenen Mitgeschöpf das Ideal unserer Gründer. Sie forderten die Ehe unter gleichen als die Pflicht des Samurai gegen die Rasse, und sie prägten Anweisungen der genauesten Art, um jene eheliche Unzertrennlichkeit und Zärtlichkeit zu verhindern, die aus einem Paar etwas weniger macht, als jedes einzelne war. Dieser Kanon ist zu lang, als daß ich ihn jetzt entwickeln könnte. Ein Mann, der unter der Regel steht und eine Frau liebt, die ihr nicht folgt, muß entweder die Samurai verlassen, um sie zu heiraten, oder sie veranlassen, daß sie die sogenannte Frauenregel auf sich nimmt, die ihr die strengere Einschränkung und Zucht erspart, ihre Lebensführung aber doch mit der seinigen in werktätigen Einklang bringt.«

»Und wenn sie nachher die Regel bricht?«

»So muß er entweder die Frau oder den Orden verlassen.«

»Darin liegt Stoff für manchen Roman.«

»Es hat den Stoff für Hunderte abgegeben.«

»Ordnet die Frauenregel auch den Aufwand ebenso wie die Diät? Ich meine – darf sie sich anziehen, wie sie will?«

»Keine Spur,« sagte mein Doppelgänger. »Es zeigte sich, daß jede Frau, die über Geld verfügen konnte, dies benutzte, um ungezogene Angriffe gegen andere Frauen auszuführen. Während sich die Männer zur Zivilisation erhoben, schienen die Frauen wieder der Wildheit zu verfallen – der Farbe und den Federn. Aber die Samurai tragen alle eine besondere Kleidung, die Männer und die Frauen, auch die Frauen unter der Geringeren Regel. Zwischen Frauen der Großen und der Geringeren Regel besteht kein Unterschied. Die Männerkleidung haben Sie gesehen – es ist stets die, die ich hier trage. Die Frauen können die gleiche tragen, entweder mit kurz geschnittenem oder hinten geflochtenem Haar, oder sie können ein Kleid mit hochsitzendem Gürtel aus sehr feinem, weichem Wollstoff haben, mit hinten aufgestecktem Haar.«

»Das habe ich schon gesehen,« sagte ich. In der Tat schienen fast alle Frauen Abarten dieser einfachen Formel zu tragen. »Es scheint mir eine sehr schöne Kleidung. Die andere – bin ich nicht gewohnt – aber bei Mädchen und schlanken Frauen gefällt sie mir.«

Mir fiel etwas ein, und ich fügte hinzu: »Geben sie sich nicht manchmal – nun, recht viel Mühe mit ihrem Haar?«

»Mein Doppelgänger lachte mir ins Gesicht. »O ja,« sagte er.

»Und die Regel?«

»Die Regel ist niemals kleinlich,« antwortete er, immer noch lächelnd.

»Wir wollen nicht, daß die Frauen aufhören, schön zu sein, sogar bewußt schön zu sein, wenn Sie wollen,« fügte er hinzu. »Je mehr wirkliche Schönheit an Gestalt und Gesicht wir haben, um so schöner ist unsre Welt. Aber teurer sexualischer Aufputz – –«

»Ich hätte gedacht,« sagte ich, »es wäre eine Klasse von Frauen entstanden, die mit ihrem Geschlecht Handel treiben, Frauen, meine ich, die ihr Interesse und ihren Vorteil darin finden, ihre besondere weibliche Schönheit zu entfalten. Es gibt kein Gesetz, dies zu hindern. Sie würden gewiß der Strenge der von der Regel vorgeschriebenen Tracht entgegenarbeiten.«

»Es gibt solche Frauen; trotzdem gibt die Regel den Ton an für die gewöhnliche Kleidung. Wenn eine Frau von der Leidenschaft für prunkvolle Kleidung besessen ist, so befriedigt sie diese Leidenschaft gewöhnlich im engen Kreise und nur mit seltenen, gelegentlichen Angriffen auf die Augen der Öffentlichkeit. Ihre Alltagsstimmung und die Neigung der meisten Menschen ist gegen das Schaustellen von Auffälligkeiten. Hinzufügen muß ich, daß es unter der Geringeren Regel kleine Freiheiten gibt: diskrete Verwendung feiner Nadelarbeit und Stickerei, freiere Wahl unter den Stoffen.«

»Sie haben keine wechselnden Moden?«

»Keine. Und sind nicht unsere Kleider trotzdem ebenso schön wie die eurigen?«

»Unsere Frauenkleider sind durchaus nicht schön,« sagte ich, eine Zeitlang von der geheimnisvollen Philosophie der Kleider angezogen. »Schönheit? Dies ist nicht ihr Ziel.«

»Ja, was sollen sie dann?«

»Mein lieber Herr! was soll denn meine ganze Welt?«

VI

Ich komme nun zu unserm dritten Gespräch und soll voller Neugier etwas erfahren vom dritten Teil der Regel, von dem, was die Samurai zu tun verpflichtet sind.

Da wären viele genaue Anweisungen zu nennen, die seine Gesundheit betreffen, und Regeln, die zugleich die Gesundheit und jene beständige Willensübung im Auge haben, die das Leben gut gestaltet. Gewisse besondere Umstände ausgenommen, müssen die Samurai in kaltem Wasser baden und die Männer sich täglich rasieren. Sie haben die genauesten Vorschriften in solchen Dingen, der Körper muß gesund, Haut, Muskeln und Nerven in vollkommenem Wohlbefinden sein, oder der Samurai muß zu den Ärzten des Ordens gehen und der verordneten Lebensweise unbedingt Folge leisten. Sie müssen mindestens vier von fünf Nächten allein schlafen. Sie müssen einmal an drei bestimmten Tagen der Woche im nächsten Klubhaus der Samurai speisen und mit jedem Genossen, der an ihrer Unterhaltung Interesse hat, wenigstens eine Stunde plaudern. Ferner müssen sie jeden Tag mindestens zehn Minuten laut im Buch der Samurai lesen. Jeden Monat müssen sie wenigstens ein Buch, das innerhalb der letzten fünf Jahre veröffentlicht worden ist, kaufen und gewissenhaft durchlesen; der einzige Eingriff in die persönliche Wahl besteht dabei in der Vorschrift eines bestimmten Umfanges des monatlichen Buches. Aber die volle Regel dieser kleinen Pflichten ist sehr umfangreich und ins einzelne gehend, kennt aber auch eine Fülle von Wahlfreiheiten. Ihr Ziel ist mehr, den Samurai gleichsam durch eine Anzahl Musterpflichten die Notwendigkeit und ein paar der wichtigsten Mittel vorzuführen, den Körper und Geist gesund zu erhalten, als ein umfassendes Gesetz aufzustellen; auch dafür zu sorgen, daß durch die Gewohnheit, den Verkehr und eine lebende zeitgenössische Literatur eine gemeinsame Grundlage der Empfindung und der Interessen unter den Samurai erhalten bleibt. Die kleineren Verpflichtungen nehmen nicht mehr als eine Stunde täglich in Anspruch. Und doch helfen sie, Isolierungsgrenzen der Empfindung, allerlei körperliche und geistige Trägheiten und die Entwicklung unsozialer Vorurteile mancher Art niederzuhalten.

Verheiratete Samuraifrauen, sagte mir mein Doppelgänger, müssen – wenn sie sowohl verheiratet wie im Orden bleiben sollen – Kinder gebären, ehe der Zeitraum, der eine kinderlose Ehe beendet, zweimal verstrichen ist. Ich vergaß damals, meinen Doppelgänger nach den genauen Ziffern zu fragen, aber zweifellos wird wohl ein sehr großer Bruchteil der künftigen Bevölkerung Utopiens Samuraimüttern der Großen oder der Geringeren Regel entstammen. Auch Frauen, die mit nicht unter der Regel stehenden Männern verheiratet sind, können Samurai werden. Hier liegt offenbar wieder Stoff für Romane und für das Drama des Lebens. In der Praxis scheint es so zu sein, daß nur Männer von großer schöpferischer Begabung oder führende Männer des Großhandels, die selber nicht unter der Regel stehen, Samuraifrauen haben. Die Tendenz solcher Verbindungen geht entweder dahin, den Mann unter die Regel zu bringen, oder die Frau derselben zu entziehen. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß solche Heiratsbeschränkungen das Bestreben verraten, die Samurai zu etwas wie einer erblichen Klasse zu machen. Ihre Kinder werden in der Regel Samurai. Aber es ist keine abgeschlossene Kaste. Unter der Bedingung sehr vernünftiger Berechtigungsnachweise kann jeder, der es für geraten hält, jederzeit eintreten, und so wächst sie, allen andern bevorrechtigten Klassen, die die Welt gesehen hat, ungleich, fortwährend im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung und kann schließlich sogar die ganze Bevölkerung der Erde umfassen.

VII

Soviel erzählte mir mein Doppelgänger ganz bereitwillig. Jetzt aber kam er zum Kern aller seiner Erklärungen, zu dem zentralen Beweggrund und Willen, durch den sich Männer und Frauen bereit finden ließen, sich der Disziplin zu unterwerfen, auf den Reichtum und die Verfeinerung des sinnlichen Lebens zu verzichten, ihre Empfindungen zu beherrschen und ihre Triebe zu zügeln, fortwährend zu streben und sich zu mühen, während die Fülle sie umgab, die alle Begierden wecken und befriedigen konnte. Seine Erklärung hierüber war schwieriger.

Er versuchte mir seine Religion klarzumachen.

Der leitende Grundsatz der utopischen Religion ist die Verwerfung der Lehre von der Erbsünde; die Utopier sind der Ansicht, daß der Mensch im ganzen gut ist. Dies ist ihr Grundglaube. Der Mensch, sagen sie, hat den Stolz und das Gewissen, beide kann man durch Übung verfeinern wie das Auge und das Ohr. In seinem Wesen trägt er die Reue und den Schmerz, die allen naturwidrigen Genüssen auf dem Fuße folgen. Wie kann man ihn für schlecht halten? Er ist religiös, die Religion ist ihm so natürlich wie Lust und Zorn, weniger kräftig zwar, aber dafür kommt sie mit alles beherrschender Unvermeidlichkeit wie der Friede nach allem Aufruhr und Getöse. Und dies verstehen sie gar deutlich in Utopien, wenigstens die Samurai. Sie nehmen die Religion hin, wie sie etwa den Durst hinnehmen, als etwas, das enge zum geheimnisvollen Rhythmus des Lebens gehört. Und genau wie Durst und Stolz und alle Begierden in einer Zeit überreicher Gelegenheiten entarten und die Menschen durch Unmäßigkeit im Trinken, durch Schaustellung oder Ehrgeiz entwürdigt oder verbraucht werden können, genau so kann auch die edlere Gesamtheit von Begierden, welche die Religion ausmacht, von den Stumpfen, den Gemeinen, den Unbedachten in ein Übel verkehrt werden. Träge Hingabe an religiöse Neigungen, Unfähigkeit, auch in religiösen Dingen scharf zu denken und so gerecht als möglich zu urteilen, liegt den Menschen unter der Regel genau so fern, wie sich zu betrinken, weil sie durstig sind, zu essen bis zur Übersättigung, ein Bad zu meiden, weil das Wetter frostig ist, oder ein helläugiges Mädchen zu verfolgen, weil es im Dämmerlicht hübsch aussieht. Utopien, das jede Art von Charakter enthalten soll, den man auf Erden findet, wird seine Tempel und Priester haben, genau wie seine Schauspielerinnen und seinen Wein. Den Samurai aber wird die Religion dramatisch beleuchteter Altäre, der Orgelmusik und des Weihrauchs so ausdrücklich verboten sein wie die Liebe zu geschmückten Frauen oder die Tröstung des Branntweins. Und gegen all die Dinge, die weniger sind als Religion, sie aber zu umfassen suchen, gegen Weltentstehungslehren und Philosophien, Glaubenssätze und Formeln, Katechismen und oberflächliche Erklärungen werden die Samurai in ihrem Verhalten und wird das Buch der Samurai Mißtrauen zeigen. All das, werden die Samurai sagen, gehört zu den Schwächen, die überwunden werden sollen, ehe man sich der Regel beugt; all das sind, wie die Freuden der Jugend, nur Erfahrungen, die zum Verzicht führen sollen. Die Samurai werden über solche Dinge hinaus sein.

Die Theologie der utopischen Herrscher wird mit derselben Philosophie der Einigkeit durchsättigt sein, der Ablehnung alles dessen, was über Ähnlichkeiten und praktische Parallelismen hinausgeht, die alle ihre sonstigen Einrichtungen durchdringt. Sie werden jene Täuschungen und willkürlichen Annahmen erschöpfend untersucht haben, die sich zwischen dem Einen und der Vielheit ergeben und die, seit es eine Philosophie gibt, dieselbe gestört haben. Ebenso wie sie unter ihren genauen Definitionen die trügerische Vereinheitlichung aller Arten vermieden haben, so auch die täuschende Vereinfachung Gottes, die alle irdische Theologie in die Irre führt. Sie haben den Glauben an Gottes Vielfältigkeit, an eine unendliche Mannigfaltigkeit, ihn aufzufassen, die sich durch keine allgemeine Formel ausdrücken, noch auf eine allgemeine Art erweisen läßt. So wie die Sprache Utopiens eine Zusammenfassung ist, so auch Utopiens Gott. Die Auffassung Gottes ist bei jedem Menschen nach seiner Individualität verschieden, und das innerste Wesen der Religion muß daher in der Einsamkeit zwischen dem Menschen und Gott allein bestehen. Es ist Wahnwitz, sie zu einem Verhältnis zwischen Mensch und Menschen zu machen, und der Mensch kann Gott so wenig durch einen Priester erreichen, wie er seine Frau durch einen Priester lieben kann. Aber wie der Mensch aus der Dichtung und Musik schöpferischer Menschen in der Liebe die eigenen Empfindungen verfeinert erkennen und ihren Ausdruck entlehnen kann, so kann er auch nach Belieben fromme Bücher lesen und Musik hören, die mit seinen aufkeimenden Empfindungen im Einklang stehen. Viele der Samurai legen sich also besondere Regeln auf, die ihr geheimes, religiöses Leben fördern, beten und lesen Andachtsbücher; aber mit all dem hat die Regel des Ordens nichts zu tun.

Der Gott der Samurai ist zweifellos ein transzendentaler und mystischer Gott. Soweit die Samurai in der Erhaltung des Staates, der Ordnung und des Fortschritts der Welt ein gemeinsames Ziel haben, so weit beten sie Gott gemeinsam an durch ihre Disziplin und Entsagung, durch ihre öffentliche Arbeit und ihr Streben. Aber die Quelle der Motive liegt im individuellen Leben, liegt im stillen und überlegten Gedanken, und hierauf zielt die auffälligste aller Regeln der Samurai. Wenigstens sieben aufeinanderfolgende Tage im Jahr muß jeder Mann und jede Frau unter der Regel aus allem Leben der Menschen ausscheiden und an einen einsamen, wilden Ort gehen, darf mit keinem Mann und keiner Frau reden und keinerlei Verkehr mit den Menschen haben. Sie müssen ohne Buch und Waffe, ohne Feder, Papier und Geld ausziehen. Vorräte für die Zeit der Reise werden mitgenommen, ferner eine Decke oder ein Schlafsack – denn sie müssen unter freiem Himmel schlafen – aber nichts, um Feuer zu machen. Sie können im voraus Landkarten studieren, die alle Schwierigkeiten und Gefahren der Reise angeben, aber sie dürfen kein Hilfsmittel dieser Art mitnehmen. Sie dürfen keine betretenen Pfade gehen und nirgends, wo bewohnte Häuser sind, sondern nur in die öden, ruhigen Gegenden des Planeten – die ihnen vorbehaltenen Gebiete.

Diese Disziplin, sagte mir mein Doppelgänger, wurde erfunden, um eine gewisse Kraft des Herzens und des Leibes bei den Mitgliedern des Ordens zu sichern, da er sonst zu vielen furchtsamen, nur enthaltsamen Männern und Frauen offengestanden hätte. Vieles war angeregt worden, Fechtspiele und Proben, die an die Folter grenzen, Erklettern schwindliger Höhen und ähnliches, bis man dies wählte. Zum Teil sollte es für gute Schulung und Kräftigung des Leibes und der Seele sorgen, aber zum Teil sollte es auch ihren Geist auf eine Weile abziehn von den hartnäckigen Einzelheiten des Lebens, von verwickeltem Denken und der nagenden Anstrengung der Arbeit, von persönlichem Streit und persönlicher Liebe und von den Dingen des geheizten Zimmers. Hinaus sollen sie ziehen, hinaus aus der Welt.

Gewisse große Gebiete sind für diese jährlichen Pilgerfahrten jenseits der staatlich gewährten Sicherheit vorbehalten. Tausende von Quadratmeilen sandiger Wüste sind in Afrika und Asien reserviert, ferner ein großer Teil des Nord- und Südpolarkreises, riesenhafte Flächen von Bergland und gefrorenen Sümpfen, abgeschlossene Waldgehege und zahllose unbefahrene Straßen des Meeres. Manche dieser Reisegegenden sind gefährlich und mühsam, manche nur trostlos verlassen, und es gibt sogar Seereisen, die man in den Tagen der Ruhe machen kann, wie man durch einen Traum segelt. Aufs Meer muß man in einem kleinen, ungedeckten Segelboot ziehen, das man bei Windstille rudern kann; alle andern Reisen werden zu Fuß ohne Hilfsmittel unternommen. Um all diese einsamen Regionen und an den meisten Küsten liegen kleine Amtsstellen, wo die Samurai der Welt der Menschen Lebewohl sagen, und wo sie wieder in dieselbe eintreten, wenn die Mindestzeit des Schweigens vorüber ist. Während der Zwischenzeit müssen sie mit der Natur, der Not und den eigenen Gedanken allein sein.

»Ist das gut?« fragte ich.

»Es ist gut,« antwortete mein Doppelgänger. »Wir zivilisierten Menschen kehren zurück zur gewaltigen Mutter, die soviele von uns vergessen hätten, wäre nicht diese Regel. Und man denkt ... Erst vor zwei Wochen habe ich meine diesjährige Reise gemacht. Ich ging mit meiner Ausrüstung zur See nach Tromsoe und dann landeinwärts zu einem Aufbruchspunkt. Dort nahm ich meine Eisaxt, meinen Rucksack und sagte der Welt Lebewohl. Ich habe vier Gletscher überwunden, ich bin über drei hohe Bergpässe gestiegen und habe in einsamen Tälern auf Moos geschlafen. Sieben Tage lang sah ich kein menschliches Wesen. Dann stieg ich durch Fichtenwälder hinab zum Anfang einer Straße, die an die Baltische Küste führt. Im ganzen dauerte es dreizehn Tage, bis ich mich wieder meldete und mit Mitmenschen sprach.«

»Auch die Frauen tun dies?«

»Die Frauen, die wirklich Samurai sind – ja. Genau wie die Männer. Wenn nicht Kinder erwartet werden und dies hindern.«

Ich fragte ihn, wie es ihm vorgekommen sei, und woran er während der Reise gedacht habe.

»Ich habe immer das Gefühl der Mühsal, wenn ich zu Beginn der Reise die Welt verlasse. Ich wende mich immer wieder um und blicke auf das kleine Amt zurück, wenn ich meinen Berghang emporsteige. Den ersten Tag und die erste Nacht bin ich ein wenig geneigt, die Sache zu umgehen – so ist es jedes Jahr – zum Beispiel den Rucksack vom Rücken zu nehmen, seinen Inhalt durchzusehen und mich zu überzeugen, daß ich meine ganze Ausrüstung habe.«

»Ist es nicht möglich, daß Ihnen einer zufällig begegnet?«

Es dürfen nie zwei Leute innerhalb sechs Stunden von demselben Amt aus nach derselben Reisestrecke aufbrechen. Wenn sie einander zu Gesicht bekommen, müssen sie die Begegnung vermeiden – außer bei Lebensgefahr. All das ist im voraus geordnet.«

»Natürlich. Erzählen Sie noch mehr von Ihrer Reise.«

»Ich fürchte die Nacht. Ich fürchte Unbehagen und schlechtes Wetter. Erst nach dem zweiten Tag raffe ich mich allmählich auf.«

»Haben Sie nicht Angst, den Weg zu verlieren?«

»Nein. Es sind Steinhaufen und Meridianzeichen da. Ohne das würde man sich natürlich die ganze Zeit mit Landkarten plagen müssen. Aber erst nach der zweiten Nacht weiß ich, daß ich ein Mann bin und die Kraft habe, es durchzuführen.«

»Und dann?«

»Dann gewöhnt man sich allmählich daran. Die beiden ersten Tage ist man dem ausgesetzt, daß die Ereignisse der Reise, kleine Wanderzwischenfälle, Gedanken an Arbeit und Geschäfte auftauchen, verblassen und wiederkehren; dann aber beginnen die Ausblicke. Ich schlafe des Nachts nicht viel auf diesen Reisen; ich liege wach und blicke unverwandt nach den Sternen. Gegen Tagesanbruch und in der Morgensonne schlafe ich vielleicht. Die Nächte waren diesmal sehr kurz, nie dunkler als das Zwielicht, und immer sah ich den Schimmer der Sonne, gerade über dem Rand der Welt. Aber ich hatte die Zeit des Neumonds gewählt, so daß ich die Sterne ein wenig sehen konnte ... Vor Jahren zog ich vom Nil aus durch die Lybische Wüste nach Osten, und da brachten mich die Sterne – die Sterne der späteren Tage jener Reise – fast zum Weinen ... Am dritten Tag fühlt man sich allmählich einsam, wenn man verlassen auf einem blendenden Schneefeld steht und in der ganzen Welt keine Spur von der Menschheit zu sehen ist, als vielleicht eine Landmarke, ein feines, dünnes, rotes Eisendreieck, das im Sattel des Bergkammes gegen den Himmel steht. Diese ganze geschäftige Welt, die so viel ausgeführt hat und das alles so wunderbar, und die doch so klein ist – man sieht sie so klein, wie sie ist – und so weit weg. Den ganzen Tag hindurch geht man, es kommt die Nacht, und da könnte es ein anderer Planet sein. Und dann denkt man in den ruhigen, wachen Stunden an sich selbst, an die großen Dinge außer uns, an Raum und Ewigkeit, an das, was man unter Gott versteht.«

Er sann nach.

»Sie denken an den Tod?«

»Nicht an den meinen. Aber wenn ich durch Schnee und Öden gehe – und gewöhnlich mache ich meine Pilgerfahrt im Gebirge oder im Norden – dann denke ich oft an die Nacht dieser Welt – an die Zeit, da unsre Sonne rot und trüb sein wird und Luft und Wasser in ein gemeinsames Schneefeld zusammengefroren daliegen werden, wo jetzt die Wälder der Tropen dampfen ... Oft denk' ich daran und ob es wirklich Gottes Wille sei, daß unser Geschlecht aufhöre und die Städte, die wir gebaut, die Bücher, die wir geschrieben, alles, dem wir Stoff und Form gegeben haben, tot unter dem Schnee liegen soll.«

»Sie glauben das nicht?«

»Nein. Aber, wenn dem nicht so ist – –. Ich suchte mir den Pfad zwischen Schluchten und Abgründen, während mein armes Gehirn von jeder Möglichkeit träumte, meine Phantasie sich mühte und versagte. Aber in dieser Luft der Höhen und in solcher Einsamkeit überkommt den Menschen eine Art Begeisterung ... Ich erinnere mich, daß ich in einer Nacht aufblieb und den Sternen ganz im Ernst sagte, sie würden uns schließlich doch nicht entgehen.«

Er sah mich einen Augenblick an, als zweifelte er, ob ich ihn verstehe.

»Da oben wird man zu einer Personifikation,« sagte er. »Man wird zum Gesandten der Menschheit an die äußere Welt.«

»Man hat Zeit, über viele Dinge nachzudenken. Man legt sein Ich und seinen Ehrgeiz in neue Wagschalen ...

»Dann kommen Stunden, da man wie ein Kind die Wildnis erforscht. Bisweilen sieht man wohl vom Rand eines Abgrundes ganz in der Ferne einen Streif der Ebenen und Häuser und Straßen und weiß dann wieder, daß es immer noch eine geschäftige Welt der Menschen gibt. Und schließlich wendet man sich einen Abhang, eine Schlucht hinab, die zurückführt. Man kommt vielleicht in einen Tannenwald und hört das wunderliche Stampfen des Renntiers – dann sieht man wohl ganz in der Ferne einen Hirten, der einen beobachtet. Man trägt den Pilgerstab, er aber verrät durch kein Zeichen, daß er einen sieht ...

»Nach dieser Einsamkeit fühle ich dieselbe wunderliche Abneigung, in die Welt der Menschen zurückzukehren, die ich fühle, wenn ich sie verlassen soll. Ich denke an staubige Straßen, heiße Täler und die vielen Leute, die einen ansehen. Ich denke an die Plage der Arbeit mit Genossen und Gegnern. Bei der letzten Reise blieb ich über meine Zeit hinaus, da ich sechs Tage lang in den Tannenwäldern lagerte. Dann lenkten sich meine Gedanken wieder auf meine Arbeit. Mich verlangte, sie fortzusetzen, und so kehrte ich in die Welt zurück. Man kehrt physisch so rein zurück, als wären einem alle Adern und Arterien ausgewaschen. Und auch das Gehirn ist gesäubert ... Ich bleibe nun bei den Bergen, bis ich alt bin, und dann will ich durch Polynesien segeln. Das tun sehr viele alte Leute. Erst letztes Jahr wurde einer der großen Führer der Samurai – ein weißhaariger Greis, der seinen hundertundelf Jahren zum Trotz noch der Regel folgte – weit im Süden, fern von jedem Land, in seinem Boot tot aufgefunden, daliegend wie ein schlafendes Kind ...«

»Das ist besser,« sagte ich, »als ein zerwühltes Bett, in dem einen irgendein blutjunger Arzt mit der Injektionsspritze sticht, und das trauernde Menschen umstehen.«

»Gewiß,« sagte mein Doppelgänger, »in Utopien sterben wir, die wir Samurai sind, besser ... Sterben Ihre großen Männer so?«

Es kam mir plötzlich als sehr seltsam vor, daß, während wir hier saßen und plauderten, einsame Männer und Frauen über verlassene Meere, auf brennendem Sand, durch die stillen Pfade der Wälder und in all den hohen und entlegenen Gebieten der Welt, jenseits der Grenze, bis wohin die Straßen und Häuser gehen, allein segelten, marschierten oder kletterten – als ruhige, entschlossene Verbannte. Sie standen allein in eisigen Wildnissen, an jähen Ufern brausender Bäche, in ungeheuerlichen Höhlen, oder sie steuerten ein schwankendes Boot durch den kleinen Kreis des Horizontes über das wilde, unermüdliche Meer. Alle pflegen sie auf ihre Art Verkehr mit der Leere, mit den Räumen voller Rätsel und der Stille, mit den Winden, den Bächen und unbeseelten Kräften, die das helle und geordnete Leben der Menschen umlagern.

Jetzt sah ich in der Haltung und in den Gesichtern dieser utopischen Ritterschaft etwas, was ich schon dunkel gesehen hatte, deutlicher, eine schwache, dauernde Spur des Losgelöstseins von der unmittelbaren Hitze und Hast, den kleinen Freuden und Genüssen, den Spannungen und Antrieben der täglichen Welt. Es machte mir eine seltsame Freude, an diese stetige jährliche Pilgerschaft in der Einsamkeit zu denken und daran, wie nahe die Menschen den hohen Fernen Gottes kommen könnten.

VIII

Hierauf begannen wir, wie ich mich entsinne, von der Disziplin der Regel zu reden, von den Gerichten, die für deren Übertretung zuständig sind und über zweifelhafte Fälle entscheiden – denn, wenn jemand auch nach der vorgeschriebenen Kündigung austreten kann und es ihm freisteht, nach einer bestimmten Zeit wieder einzutreten, so kann ein einziger überlegter Bruch der Regel ihn für immer ausschließen – von dem System von Gesetzen, das aus diesen Untersuchungen hervorgegangen ist, und von dem auf je drei Jahre eingesetzten Rat, der die Regel durchsieht und ändert. Von hier aus kamen wir auf die Erörterung der allgemeinen Verfassung des Weltstaates. In der Praxis steht alle politische Macht bei den Samurai. Nicht nur sind sie die einzigen Verwaltungsbeamten, Rechtskundigen, praktizierenden Ärzte und öffentlichen Beamten fast jeder Art, sondern sie sind auch allein stimmberechtigt. Und doch – eine sonderbare Ausnahme – muß die höchste gesetzgebende Versammlung ein Zehntel, und sie darf die Hälfte ihrer Mitglieder außerhalb des Ordens wählen, und zwar, weil, wie behauptet wird, es eine bestimmte Art der Weisheit gibt, die aus der Sünde und Leichtfertigkeit entspringt und für eine vollkommene Leitung des Lebens auch notwendig ist. Mein Doppelgänger führte mir darüber aus dem Kanon einen Vers an, der meinem schlechten Wortgedächtnis entfallen ist, aber es war etwas wie ein Gebet, die Welt vor »unvergorenen Menschen« zu bewahren. Der Aristotelische Gedanke einer Abwechslung unter den Regierenden, ein Gedanke, der in Harringtons Oceana, jener ersten Utopie des »souveränen Volkes« wieder auftaucht (einer Utopie, die infolge Dantons genauer Kenntnis der englischen Literatur in der französischen Revolution eine unheilvolle Rolle spielte), fände wohl wenig Anklang in Utopien. Die Absicht dabei ist, guten Menschen praktisch dauernde Macht zu verleihen. Jeder Regierende und Beamte wird freilich jedes dritte Jahr vor ein Gericht gestellt, das durchs Los bestimmt wird, und zwar, je nach dem Bereich seiner Tätigkeit, aus den Samurai seines Gemeindegebiets oder aus der allgemeinen Liste der Samurai; aber dieses Gericht hat nur zu entscheiden, ob er im Amte bleiben oder ob eine Neuwahl stattfinden soll. In den meisten Fällen lautet der Spruch auf Verbleiben im Amt. Und wenn dies auch nicht der Fall ist, so kann der Beamte doch vor dem zweiten, besonderen Gericht, das die leere Stelle wieder besetzt, als Kandidat erscheinen ...

Mein Doppelgänger führte einige zerstreute Einzelheiten an über die Wahlverfahren. Da ich aber damals glaubte, wir hätten noch viele andere Unterredungen, so erschöpfte ich meine Neugier über diesen Gegenstand nicht. Ich war wirklich nicht wenig zerstreut und unaufmerksam. Die Religion der Samurai war nach meinem Herzen und hatte mich stark gepackt ...

Aber wie ich ihn nun befragte über die Verwicklungen, die im modernen Utopien aus der Verschiedenheit der Menschenrassen entstehen, kam meine Aufmerksamkeit gleich wieder zurück. Doch will ich den Stoff dieser Erörterung auf ein besonderes Kapitel verschieben. Schließlich kamen wir noch einmal auf die Besonderheiten jener großen Lebensregel, die jeder zu befolgen hat, der unter die Samurai will.

Ich erinnere mich noch, wie ich nach unserer dritten Gesprächsreihe durch die Straßen des utopischen London nach unserm Hotel zurückkehrte, um den Botaniker zu treffen.

Mein Doppelgänger hatte eine Wohnung in einem großen Gebäude inne – ich denke, etwa da, wo in unserm London die Tate-Galerie steht – und da der Tag schön war und ich keinen Grund zur Eile hatte, nahm ich nicht den gedeckten, beweglichen Pfad, sondern ging zu Fuß über die breite, baumbesetzte Terrasse, die zu beiden Seiten dem Flusse folgt.

Es war Nachmittag, und der milde Sonnenschein des Themsetales beleuchtete warm und sanft eine saubere, anmutige Welt. Es waren viele Menschen im Freien, die ohne Eile, aber nicht ziellos hin und her gingen, und ich beobachtete sie so aufmerksam, daß, wenn man mich nach den nächsten Einzelheiten der auf beiden Ufern liegenden Gebäude und Terrassen oder der Zinnen, Türme und Brustwehren fragte, die den Himmel auszackten, ich nichts darüber sagen könnte. Von den Leuten aber könnte ich sehr viel erzählen.

Kein Utopier geht in Schwarz, und bei aller Häufigkeit der Samurai-Uniform in den Londoner Straßen ist der allgemeine Eindruck der einer buntfarbig gekleideten Bevölkerung. Nie sieht man einen, der auffallend zerlumpt oder schmutzig wäre; die Schutzleute, die Auskunft geben und die Ordnung aufrecht halten (von der Organisation zur Verfolgung der Verbrecher sind sie ganz getrennt) sehen darauf; auch schäbige Leute sind sehr selten. Die Leute, die zu andern Zwecken Geld sparen oder nicht viel Mühe auf ihre Kleidung verwenden wollen, scheinen Kleider aus rauhem, bescheiden braun oder grün gefärbtem Tuch über fein wollenem Unterzeug zu tragen und so in einfachster Form anständige Bequemlichkeit zu erreichen. Andre, die außerhalb des Ordens der Samurai stehen, suchen das Spektrum auf Farben durch und haben jede Abwechslung im Gewebe. Die von den utopischen Färbern erzielten Farben scheinen mir voller und reiner als die gewöhnliche Skala der Farbstoffe auf Erden, und die feine Faltung der Wollgewebe zeugt dafür, daß das utopische Bradford durchaus nicht hinter seiner irdischen Schwesterstadt zurücksteht. Weiß ist außerordentlich häufig, weißwollene Tuniken und Gewänder, in die Streifen von leuchtender Farbe eingewoben, herrschen vor. Oft ahmen diese den Schnitt und den Purpurrand nach, der die Samurai auszeichnet. Im utopischen London ist die Luft ebenso klar und weniger staubig als in den hohen Bergen. Die Straßen werden als zusammenhängende Fläche, nicht als rissige Erdmasse, hergestellt. Die Heizung geschieht ganz mit Elektrizität, keine Kohle kommt je in die Stadt. Es gibt keine Pferde und Hunde. So ist keine Spur von Rauch und kaum der geringste Schmutz vorhanden, daß dadurch Weiß unmöglich wäre.

Der Einfluß, den die Uniform der Samurai ringsum verbreitet, hat dahin gewirkt, die Tracht einfach zu erhalten, was vielleicht den allgemeinen Eindruck kräftiger Gesundheit und schöner Körper verstärkt. Jedermann ist gut gewachsen und gut genährt, jedermann scheint in guter Verfassung, kommt wohl einher und hat jene Klarheit des Auges, die von der Reinheit des Blutes kommt. In London darf ich sagen, ich sei von erträglicher Gestalt und Haltung; hier fühle ich mich klein und gering. Die leichten Andeutungen von Rückenkrümmungen, schiefen Füßen, ungleichen Beinen, schlecht gewachsenen Knochen, die einen in einer Londoner Volksmenge verfolgen, die klaren Anzeichen – in gelben und in aufgeschwemmten Gesichtern, fleckiger und unregelmäßiger Gesichtsfarbe, in nervösen Bewegungen, Hustenanfällen und Katarrhen – schlechter Gewohnheiten und unfähiger oder mißachteter ärztlicher Kunst treten hier nicht auf. Ich bemerke wenige alte Leute, aber der Bruchteil von Männern und Frauen, die in oder nächst der Blüte der Jahre stehen, scheint größer zu sein.

Dabei bleibe ich stehen. Ich habe hier einen oder zwei Fette gesehen – sie fallen um so mehr auf, da sie selten sind. Aber runzliges Alter? Habe ich in Utopien schon einen Kahlkopf zu sehen bekommen?

Die Utopier haben ein gesünderes physiologisches Wissen in die Diät eingeführt als wir. Man weiß besser, was man tun, was meiden muß, wie man kommende Störungen voraussehen und verhüten kann, wie man die feinen Gifte, welche die Schärfe der Empfindung abstumpfen, meidet und unterdrückt. Sie haben die Jahre des Verfalls hinausgerückt. Sie erhalten ihre Zähne und ihre Verdauung, sie wehren Gicht und Rheumatismus, Neuralgie und Influenza ab und alle jene verwandten Zerstörer, die Männer und Frauen schon in den mittleren Jahren beugen und runzlig machen. Sie haben die kräftigen Jahre bis weit in die Siebzig vorgeschoben, und wenn das Alter kommt, so kommt es schnell und leicht. Die fieberische Eile unserer Erde, der Verfall, der beginnt, eh noch das Wachstum beendet ist, wird ersetzt durch eine volle, lange Zeit der Reife. Dieses moderne Utopien ist eine Welt von Erwachsenen. Die erregte Romantik, die vorherrschende Erotik, die abenteuerliche Unsicherheit einer Welt, in der die Jugend überwiegt, macht hier ernster Überlegung, voller und kräftigerer Empfindung und einem breiteren Anfassen des Lebens Platz.

Und doch ist die Jugend da.

Unter den Männern, deren Gesichter durch Denken und geregeltes Leben schön geworden sind, unter den Frauen mit der heiteren Miene kommt auch die Jugend einher, bunt, überströmend gesund, mit herausfordernden Augen, mit frischem, begierigem Gesicht ...

Für jeden Utopier, der vernünftig genug ist, Nutzen daraus zu ziehen, dauern Studium und Ausbildung bis zwanzig; dann kommt das Wanderjahr, und viele studieren noch bis vier- und fünfundzwanzig. Die meisten bleiben in gewissem Sinne ihr Leben lang Studenten. Man ist aber der Meinung, daß, wenn nicht in den ersten zwanziger Jahren die verantwortliche Tätigkeit in irgendeiner Form beginnt, der Wille teilweise verkümmern muß. Aber der volle Schwung des erwachsenen Lebens wird kaum vor dem dreißigsten Jahre erreicht. Die Männer heiraten vor Mitte der dreißig, die Frauen früher; wenige sind vor fünfundzwanzig Mutter. Die Mehrzahl derer, die Samurai werden, treten zwischen siebenundzwanzig und fünfunddreißig ein. Zwischen siebzehn und dreißig finden sich die Utopier mit der Liebe ab, das Spiel und die Aufregungen derselben bilden da ein Hauptinteresse des Lebens. Hiebei wird ihnen viel Aktionsfreiheit gewährt, so daß ihr Wille frei wachsen kann. Die meisten schließen mit einer Heirat ab, und die Liebe macht einem besonderen und dauernden Interesse Platz, obgleich auch Liebe zwischen älteren Männern und jungen Mädchen, zwischen jungen Leuten und reiferen Frauen vorkommt. In diesen anmutigsten und schönsten Lebensjahren zeigen sich alle die Freiheiten in der Kleidung, die die utopische Öffentlichkeit erlaubt. In Schmuck und Farbe blickt da der urwüchsige, helle Wille der Jugend und ihre Phantasie hervor.

Gestalten kommen mir zu Gesicht, nehmen mich einen Augenblick gefangen, schwinden und machen andern Platz. Dort kommt eine dunkle, kleine Jüdin mit roten Lippen, in bernsteinfarbenem Kleid, mit tiefroter Blume – ich weiß nicht, ob echt, ob künstlich – im stumpfen Schwarz ihres Haares. Sie geht mit unbewußter Verachtung an mir vorbei. Dann sehe ich ein hell lächelndes, blauäugiges Mädchen an, das, groß, rötlich, warm-sommersprossig, gekleidet wie eine Bühnen-Rosalinde, fröhlich mit einem blonden jungen Mann spricht, einem Novizen unter der Regel. Eine Mutter, die der Geringeren Regel angehört, geht vorbei; sie hat rote Haare, ein grünes Kleid mit dunkelgrünen Streifen, die sich zwischen den Brüsten kreuzen, und ihre beiden barbeinigen, leichtbeschuhten, lockenköpfigen Kinder ziehen zu beiden Seiten an ihren Händen. Dann bespricht ein ernster Mann in langen, pelzverbrämtem Kleid, vielleicht ein Kaufmann, eine ernste Angelegenheit mit einem Gehilfen in weißer Tunika. Und das Gesicht des Gehilfen – –? Ich wende mich, um das straffe, blauschwarze Haar zu beobachten. Der Mann muß ein Chinese sein ...

Es folgen zwei kurzbärtige Männer in nachlässigem, indigoblauem Anzug, und beide wälzen sich vor Lachen – Leute außerhalb der Regel, die wohl irgendeine Kunst ausüben – dann einer der Samurai, in lustigem Streit mit einem achtjährigen Mädchen in blauem Kleid. »Aber du hättest gewiß gestern zurückkommen können, Dadda,« beharrt sie. Er ist tief sonnverbrannt, und plötzlich erscheint vor meinem Geiste das Bild einer schneeigen Gebirgsöde beim Anbruch der Nacht, und einer einsamen, kleinen Gestalt unter den Sternen.

Wie ich mich wieder der Gegenwart zuwende, fällt mir plötzlich ein junger Neger auf, der Bücher in der Hand trägt, ein vielversprechender junger Neger voll Selbstachtung, in einem schmuck geschnittenen, dunkelblauen Rock mit Silber. Da erinnere ich mich an das, was mein Doppelgänger über die Rassenfrage sagte.


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