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Zweites Kapitel: Von der Freiheit

I

Auf was für eine Frage müßten zwei Menschen, die auf den Planeten der modernen Utopie versetzt worden sind, wohl zuerst stoßen? Wahrscheinlich wären sie in ernster Sorge um ihre persönliche Freiheit. Ich habe schon bemerkt, daß die früheren Utopien gegen den Fremden ihre unliebenswürdigste Seite kehrten. Würde unsere neue Art eines utopischen Staates, der sich über eine ganze Welt erstreckt, weniger abschließend sein?

Wir könnten uns trösten mit dem Gedanken, daß allgemeine Duldung gewiß zu den modernen Ideen gehört, und auf solchen ruht doch dieser Weltstaat. Angenommen, wir würden also geduldet und wie jeder als Bürger zugelassen, so bliebe doch noch ein weiter Bereich der Möglichkeiten ... Ich glaube, dem Problem wäre beizukommen, wenn wir nach seinen ersten Grundsätzen suchen und dabei der Richtung unserer Zeit folgen, indem wir die Frage als die des Verhältnisses des Menschen zum Staat auffassen und die der Freiheit zu machenden Zugeständnisse erörtern.

Die Idee der persönlichen Freiheit gehört zu jenen, die mit der Entwicklung des modernen Denkens an Bedeutung fortwährend zunehmen. Den klassischen Utopisten war die Freiheit verhältnismäßig unbedeutend. Sie sahen Tugend und Glück als unabhängig an von der Freiheit und als weit bedeutendere Dinge. Unsere heutige Ansicht aber mit ihrer starken Betonung der Individualität erhöht beständig den Wert der Freiheit, bis diese schließlich als der eigentliche Sinn des Lebens, ja als das Leben selbst erscheint, und ein unweigerlicher Gehorsam gegen das Gesetz nur noch den toten Dingen zukommt, die keine Selbstbestimmung haben. Spielraum für die eigene Individualität zu haben, ist nach modernen Begriffen der subjektive Triumph des Daseins, wie das Fortleben in einem schöpferischen Werk oder in der Nachkommenschaft dessen objektiver Triumph ist. Da aber der Mensch ein geselliges Wesen ist, so muß für jeden der freie Spielraum des Willens weit hinter einer absoluten Freiheit zurückbleiben. Eine solche ist nur einem Despoten möglich, dem alles unbedingt gehorcht. Wollen hieße dann auch Befehlen und Ausführen, und wir könnten innerhalb der Grenzen der Naturgesetze jederzeit so handeln, wie es uns beliebte. Jede andere Freiheit ist ein Übereinkommen zwischen unserer eigenen und der Willensfreiheit aller Mitmenschen, mit denen wir in Berührung kommen. In einem geordneten Staate handelt ein jeder von uns gegen sich selbst und gegen die andern nach einem mehr oder weniger ausführlichen Gesetz. Er schränkt andre ein durch seine Rechte und wird durch die der andern und durch Rücksichten auf die allgemeine Wohlfahrt selbst eingeengt.

In einem Gemeinwesen hat die persönliche Freiheit, um mit dem Mathematiker zu reden, nicht immer das gleiche Vorzeichen. Dies zu übersehen ist der Hauptirrtum der übertriebenen Betonung des Individualismus. Tatsächlich kann ein allgemeines Verbot in einem Staate die Summe der Freiheiten vergrößern, eine allgemeine Erlaubnis sie verkleinern. Es ergibt sich nicht, daß, wie jene Leute uns einreden wollen, ein Mensch da am freiesten ist, wo am wenigsten Gesetz, und am unfreiesten, wo das meiste Gesetz herrscht. Ein sozialistischer oder kommunistischer Staat braucht noch keine Sklaverei zu bedeuten, und in einer Anarchie gibt es eine Freiheit überhaupt nicht. Man bedenke, welche Freiheit wir gewinnen durch den Verlust der allgemeinen Freiheit des Tötens. So können wir in allen geordneten Ländern der Welt verkehren, brauchen weder Waffen noch Rüstung zu schleppen, weder tückisches Gift noch launische Barbiere, noch Falltüren in Gasthäusern zu fürchten. Dies bedeutet tatsächlich eine Freiheit von tausend Ängsten und Vorkehrungen. Wenn auch nur die Freiheit bestünde, Blutrache zu üben, was trüge sich dann alles zu in unsern Vorstädten! Man stelle sich vor, in welch gefährlicher Lage sich zwei Hauswesen einer modernen Vorstadt befänden, die in Streit geraten und mit modernen Waffen versehen wären, gefährlich nicht bloß für einander, sondern auch für den neutralen Fußgänger. Es würde dies den tatsächlichen Verlust jeder Freiheit bedeuten für alle um sie her. Der Fleischer müßte, wenn er überhaupt noch käme, seine Runde in einem gepanzerten Wagen ausführen ...

Daher muß in einem modernen Utopien, das als Endziel eine freie Entwicklung der Individualitäten aufstellt, der Staat alle Auswüchse der Freiheit, wodurch die wahre Freiheit erstickt wird, aber auch nur diese, beschnitten, und so die größte allgemeine Freiheit erreicht haben.

Es gibt zwei deutliche, einander entgegengesetzte Arten, die Freiheit zu beschränken: die erste ist das Verbot »du sollst nicht«, die zweite das Gebot »du sollst«. Das Verbot kann aber auch die Form eines bedingenden Gebotes annehmen, darauf muß man besonders achten. Es sagt dann: wie du das und das erreichen willst, mußt du so und so handeln, zum Beispiel: wenn du mit deinen Angestellten aufs Meer gehst, so mußt du ein seetüchtiges Schiff haben. Das reine Gebot aber ist unbedingt; es sagt: dies mußt du tun, ohne Rücksicht auf das, was du ausgeführt hast, eben tust oder zu tun beabsichtigst, so wenn die sozialen Verhältnisse durch den gemeinen Zwang gemeiner Eltern und schlechter Gesetze ein Kind mit dreizehn Jahren in die Fabrik schicken. Das Verbot nimmt aus der unbegrenzten Freiheit eines Menschen ein begrenztes Ding heraus, überläßt aber seiner freien Wahl noch eine unendliche Zahl von Handlungen. Er bleibt frei, und es ist ihm aus dem Meer seiner Freiheit nur ein Eimer voll genommen worden. Der Zwang aber zerstört die Selbstbestimmung gänzlich. In unseren Utopien mag es viele Verbote geben, aber keinen mittelbaren Zwang – wenn sich Mittel und Wege finden lassen – und wenige oder keine Gebote. Soweit die vorliegende Untersuchung es mich erkennen läßt, glaube ich, man wird in Utopien überhaupt keinen Zwang brauchen, wenigstens nicht für die Erwachsenen – abgesehen davon, daß er als verdiente Strafe auferlegt werden kann.

II

Unter was für Verboten stünden wir beiden Ausländer wohl in dieser utopischen Welt? Gewiß dürften wir nicht jeden beliebigen, dem wir begegnen, töten, anfallen oder bedrohen, und so etwas ließen sich auf der Erde erzogene Menschen kaum zuschulden kommen. Bis wir den in Utopia geltenden Begriff von Eigentum genauer kännten, wären wir sehr behutsam, etwas anzurühren, das vielleicht jemand gehört. Wenn es nicht Privateigentum wäre, möchte es ja Eigentum des Staates sein. Aber noch andre Zweifel hätten wir. Sind wir befugt, solch fremdartige Kleider zu tragen, unsern Weg quer über die Felsen und Rasen nach Gefallen einzuschlagen, hineinzuschreiten mit nicht desinfizierten Rucksäcken und schneefeuchten Gebirgschuhen in eine augenscheinlich äußerst saubere und geordnete Welt? Wir sind am ersten Utopier vorbeigekommen mit einem flüchtigen gegenseitigen Gruß und haben mit einer heimlichen Befriedigung bemerkt, daß er keinen Anfall des Entsetzens bekam, und jetzt, da wir um eine Krümmung gekommen sind, sehen wir etwas fern unten im Tal, das wie eine außerordentlich wohl gepflegte Straße aussieht ...

Ich gebe zu, daß es für einen modern gesinnten Menschen keinerlei begehrenswertes Utopien geben kann, das nicht die äußerste Bewegungsfreiheit gewährt, denn diese ist für manche Leute das größte aller Lebensgüter – hinzugehen, wo sie gerade Lust haben, zu wandern und zu sehen – und wenn sie auch jede Behaglichkeit, jede Sicherheit, jede moralische Ordnung haben, sind sie doch unglücklich, solange ihnen jene Freiheit versagt bleibt. Wofern nicht besonders angelegte und gepflegte Sachen beschädigt werden, besitzen die Utopier sicherlich dieses Recht, und wir dürfen keine unübersteigbaren Mauern und Umfriedungen erwarten, auch nicht befürchten, ein Gesetz zu übertreten beim Abstieg aus dem Gebirge.

Ebenso wie die bürgerliche Freiheit durch Verbote eingeschränkt und verteidigt werden muß, so bedarf auch diese besondere Art von Freiheit einer näheren Bestimmung. Auf die Spitze getrieben, müßte die Bewegungsfreiheit zu einer Belästigungsfreiheit werden. In einer Anmerkung über Mores Utopia haben wir bereits zu verstehen gegeben, daß Aristoteles recht hat, wenn er gegen den Kommunismus einwirft, die Leute müßten sich da fortwährend in unerträglicher Weise aneinander reiben. Schopenhauer führte dies in der ihm eigenen scharfen Art und mit einem sehr treffenden Bilde näher aus, indem er die menschliche Gesellschaft Igeln verglich, die sich der Wärme wegen zusammenschließen, aber unglücklich sind, ob sie nun zu dicht oder zu weit auseinandersitzen. Empedokles sah die ganze Bedeutung des Lebens nur in einem unruhigen Spiel von Liebe und Haß, Anziehung und Abstoßung, Angleichung und Behauptung des Unterschiedes. So lange als wir die Unterschiede und Individualitäten leugnen, wie es meiner Ansicht nach alle bisherigen Utopien getan haben, so lange können wir absolute Einrichtungen treffen, Kommunismen oder Individualismen und alle möglichen runden theoretischen Gebilde vorschreiben. Aber in der Welt der Wirklichkeit, die – um wie ein moderner Heraklit oder Empedokles zu sprechen – nichts mehr oder weniger ist als die Welt der Individualität – gibt es kein festes Recht noch Unrecht, keine Frage: wie ist das zu beurteilen, sondern nur: wie ist es zu ordnen? Im gebildeten Menschen ist normalerweise das Verlangen nach Bewegungsfreiheit und nach einer gewissen Abschließung, nach einer gesicherten eigenen Ecke, gleich stark, und wir müssen für beide die Linie des Ausgleichs suchen.

Der Wunsch nach vollständiger persönlicher Abschließung zeigt sich vielleicht nie als ein sehr kräftiges oder andauerndes Begehren. Bei der großen Mehrzahl der Menschen ist das Herdengefühl kräftig genug, jede längere Einsamkeit nicht nur unangenehm, sondern geradezu schmerzlich empfinden zu lassen. Der Wilde hat alle Abgeschlossenheit, die er braucht, im Bereich seines Schädels; wie Hunde und furchtsame Frauen zieht er eine schlechte Behandlung der Flucht vor, und nur unter modernen Menschen findet man seltene und verwickelte Naturen, die Trost und Erquickung finden in der Einsamkeit und in einsamen Beschäftigungen. Aber es gibt solche Leute, die weder gut schlafen noch ruhig denken, noch das Schöne voll genießen, denen das beste Dasein nicht behagt, bis sie verbürgt allein sind, und schon um ihretwillen wäre es angezeigt, dem Rechte der allgemeinen Bewegungsfreiheit einige Grenzen zu ziehen. Ihr besonderes Bedürfnis ist aber nur eine einzelne und seltene Seite eines unter modernen Menschen fast allgemeinen Verlangens nach Abschließung, nicht so sehr, um allein, als um in der Gesellschaft Gleichgesinnter zu sein. Wir wollen uns von der großen Menge trennen und mit jenen gehen, mit denen wir harmonieren, mit ihnen wollen wir Haushaltungen und Gemeinschaften bilden und unser Wesen im Verkehr mit ihnen und in allem, was zu diesem Verkehr gehört, sich ergehen lassen. Gärten und Umfriedungen und ein umhegtes Gebiet der Freiheit brauchen wir zu unserem Belieben und zu freier Verfügung, so geräumig als wir sie nur bekommen können, und nur der einförmige Massenmensch, der eine ähnliche Entwicklung in entgegengesetzter Richtung anstrebt, nötigt uns, die persönliche Gesellschaftswahl einzuschränken und die Abschließung in Grenzen zu halten.

Von dem Abhange des utopischen Berges, wo diese Unterhaltung geführt wird, werfen wir nun einen Blick zurück auf die Wirrnisse der alten Erde und bemerken, daß dort das Bedürfnis und Verlangen nach Abschließung in der gegenwärtigen Zeit besonders groß ist, daß es früher geringer war, auch in Zukunft wieder nachlassen wird und unter den Verhältnissen in Utopien, zu denen wir auf dem Weg vor uns augenblicklich gelangen werden, wieder in einen ganz handlichen Umfang zusammenschrumpft. Dies soll aber nicht dadurch erreicht werden, daß man die Individualitäten in eine allgemeine Schablone zwängt, sondern indem das gegenseitige Verständnis gefördert, Sinn und Sitten verbessert werden. Nicht durch Angleichung, sondern durch Einsicht gelangt die moderne Utopie zur Vollendung. Das ideale Gemeinwesen des Menschen der Vergangenheit war eine Gemeinschaft des Glaubens, der Sitten, der religiösen und der Lebensformen und Formeln: Leute derselben Gesellschaft kleideten sich in derselben Art, jeder nach seinem bestimmten und anerkannten Rang, benahmen sich auf dieselbe Art, liebten, beteten und starben auf dieselbe Art. Sie taten oder fühlten wenig, was nicht mit der allgemeinen Art übereinstimmte. Die natürliche Neigung aller Völker, ob weiß, schwarz oder braun, eine Anlage, welcher die Aufklärung entgegenarbeitet, geht dahin, Gleichförmigkeit zu fordern und in der Öffentlichkeit auch nur die harmloseste Abweichung von der Regel nicht zu dulden. »Sonderbar« gekleidet sein oder sich benehmen, nach anderer Art oder andere Speisen essen, kurz, den kleinsten Bruch mit der bestehenden Konvention sich zuschulden kommen lassen, heißt bei einfachen Leuten Anstoß erregen und sich ihre Feindschaft zuziehen. Originelle und unternehmende Geister haben aber zu allen Zeiten zu solchen Neuerungen geneigt.

Dies sehen wir besonders deutlich in der Gegenwart.

Die sich fast überstürzenden Erfindungen neuer Maschinen, die Entdeckung neuer Rohstoffe und das Auftauchen neuer sozialen Möglichkeiten im Verlauf dieser Entwicklung haben den Erfindungsgeist auf eine ungeheure und nie gekannte Weise erleichtert. Über die ganze Welt hin ist überall im kleinen Kreise die alte Ordnung aufgelöst worden oder befindet sich in der Auflösung, überall zerfließen die gesellschaftlichen Verbände, die Menschheit treibt auf den Trümmern ihrer weggeschwemmten Konventionen umher in furchtbarer Ahnungslosigkeit dessen, was geschehen ist. Was früher für allein richtig galt in Beziehung auf das öffentliche Auftreten und den Vorrang, was an Vergnügungen und Beschäftigungen erlaubt, für die Lebensführung in unwichtigen kleinen Dingen des Alltags vorgeschrieben und als Betrachtungsweise für die Gegenstände öffentlicher Erörterung allein gebräuchlich war, all das ist zerschmettert und zermalmt und widerspruchsvoll durcheinandergemischt, ein Brauch mit dem andern, und noch ist keine weltumfassende Duldung, kein entgegenkommendes Zugeständnis der Unterschiede, kein weiterer Gesichtskreis an seine Stelle getreten. Daher ist auch die Öffentlichkeit heutzutage für jedermann unbewußt widrig geworden. Verschiedene Klassen und Interessenkreise sind einander unerträglich, die gegenseitige Berührung führt zu Vergleichen, Angriffen, Verfolgungen und allerlei Unannehmlichkeiten: so sehen sich denn die Feinfühligen äußerst gequält durch eine immer widrige, oft auch feindselige Beobachtung. Ohne Absonderung von der großen Masse zu leben ist einem um so unerträglicher, als man individuell veranlagt ist.

Natürlich werden die Dinge in Utopien ganz anders liegen. Da wird alles von Rücksicht durchdrungen sein. Ein tröstlicher Gedanke für uns in unsern bergbeschmutzten Loden und mit dem nur in unerreichbarer Ferne gültigen englischen Papiergeld. Und die Utopier werden sich nicht nur duldsam, sondern in ihrer ganzen Art selbst durchaus erträglich erweisen. Unzählige Dinge, für die auf Erden nur hin und wieder einer Einsicht zeigt, werden sich dort eines allgemeinen Verständnisses erfreuen; kein Teil der Gesellschaft wird sich durch gemeines Benehmen und grobe Manieren auszeichnen. Deshalb gibt es hier die nächsten Gründe für eine Abschließung nicht. Und auch jene wilde Scheu, welche das Betragen manches Halbgebildeten bei uns so verschlossen und abwehrend macht, wird bei den Utopiern durch eine freiere Erziehung abgetan sein. In dem von uns erdachten Kulturstaat wird es unendlich viel leichter sein, öffentlich zu essen, sich zu erholen und zu vergnügen, ja öffentlich zu arbeiten. Unser gegenwärtiges Bedürfnis nach Abschließung in vielen Dingen ist das Zeichen eines Überganges von dem früheren Behagen an öffentlichen Dingen, das auf Gleichförmigkeit beruhte, zu dem zukünftigen, das auf Einsicht und wahrer Bildung begründet sein wird, und in Utopien wird dieser Übergang ganz vollzogen sein. Dies müssen wir während des ganzen Ganges der vorliegenden Untersuchung im Auge behalten.

Dies eingeräumt, so bleibt in Utopien immer noch genug Anspruch auf Abschließung übrig. Das Zimmer, die Wohnung, das Heim oder der Sitz, oder was es auch sei, das jemand innehat, muß ihm eigen sein und seiner ausschließlichen Herrschaft unterstehen. Es erschiene als lästige Einmischung, einen Innengarten oder ein Peristyl zu versagen, wie man es in Pompeji sieht, innerhalb der Hausmauern; und es wäre fast ebenso schwer, ein kleines Besitztum außerhalb des Hauses nicht zugestehen zu wollen. Wenn wir aber dies ohne weitere Fürsorge einräumen, so müssen wir notwendig auch die Möglichkeit zugeben, daß der ärmere Stadtbewohner (wenn es Arme und Reiche in diesem Weltreich gäbe) auf endlose Strecken zwischen hochumzäunten Villengärten hinwandern muß, ehe er auf dem der Öffentlichkeit vorbehaltenen Fleckchen sich ergehen kann. Ein solch elendes Schicksal ist ja dem armen Londoner schon beschieden ... Unser Utopien wird natürlich fehlerfreie Straßen, schön angelegte innerstädtische Verkehrslinien, schnelle Zugs- und Automobilverbindungen und alles mögliche besitzen, um seine Einwohner zu zerstreuen, und wenn wir uns nicht gleich vorsehen, so wird der Anblick der bewohnten Plätze nur zu wahrscheinlich ein ungeheures Feld einzelner von Mauern eingefriedeter Villenparadiese werden.

Dies ist, wohlgemerkt, eine Frage der äußeren Ordnung, die nicht durch Feststellung von Grundsätzen geregelt werden kann. Unsere Utopier werden sie wahrscheinlich im einzelnen lösen, je in Übereinstimmung mit den örtlichen Verhältnissen. Eine Abschließung außerhalb des Hauses könnte zu einem Vorrecht gemacht werden, das im Verhältnis zur Größe des beanspruchten Gebietes zu bezahlen wäre, und die Steuer auf die Abschließungserlaubnis könnte danach progressiv angelegt werden. Ein größter Bruchteil dessen, was von jeder Quadratmeile städtischen und vorstädtischen Gebietes zur privaten Umfriedigung abgegeben wird, könnte festgesetzt werden. Man könnte einen Unterschied festlegen zwischen einem absolut privaten Garten und einem solchen, der nur auf einen Tag oder allwöchentlich ein paar Tage für Privatzwecke geschlossen wird, sonst aber dem gesitteten Publikum offen stände. Wer würde in einem wirklich zivilisierten Gemeinwesen ein solches Eindringen der Öffentlichkeit unerträglich finden? Mauern könnten nach der Höhe und Länge besteuert und die Abschließung wirklicher Naturschönheiten wie Stromschnellen, Wasserfälle, Schluchten, Aussichtspunkte usw. unmöglich gemacht werden. So ließe sich ein vernünftiger Kompromiß zwischen den notwendigen und doch oft einander widerstreitenden Ansprüchen auf Bewegungsfreiheit und der Abschließungsfreiheit erreichen ...

Während wir dies alles besprechen, kommen wir der Straße immer näher, die hinaufführt, über den Kamm des Gotthard weg, und dann das Val Tremola hinab nach Italien.

Wie wäre dieser Weg wohl beschaffen?

III

Bewegungsfreiheit muß in einem nach modernen Begriffen gedachten Utopien mehr besagen als nur ungehindertes Wandern zu Fuß, und schon die Annahme eines Weltstaates mit einheitlicher Sprache schließt den Begriff eines Weltvolkes ein, welches das Reisen in einer Weise ausdehnt, die unsere alte Erde nie auch nur entfernt gekannt hat. Wir machen hier die Erfahrung, daß, sobald eine Gesellschaftsklasse durch wirtschaftliche und politische Entwicklung in den Stand gesetzt wird, Reisen zu machen, sie es auch sofort tut. In England ist unter den Einwohnern von fünf- bis sechshundert Pfund jährlichem Einkommen an aufwärts kaum einer zu finden, der nicht regelmäßig Reisen macht oder nicht oft, wie die Leute sagen »draußen« gewesen wäre. Im Modernen Utopien muß das Reisen zum gewöhnlichen Betrieb des Lebens gehören. Neue Himmelsstriche und Landschaften, einen andern Menschenschlag und eine andere Art von Wohnung, Nahrung und äußerer Ausstattung aufzusuchen, ungewohnte Bäume, Kräuter, Blumen und Tiere zu sehen, Berge zu erklimmen, der Schneenacht des Nordens und der Glutsonne des tropischen Mittags beizuwohnen, große Flüsse zu verfolgen, die Abgeschiedenheit von Einöden zu genießen, die Dämmerung des Tropenwaldes und die hohe See zu durchqueren: das alles wird einen wesentlichen Teil der Gefahren und Genüsse des Lebens bilden, selbst für die gewöhnlichsten Leute ... Dies ist eine glänzende und erfreuliche Besonderheit, durch die sich eine moderne Utopie des weiteren, und zwar gerade entgegengesetzt von ihren Vorgängerinnen entfernt.

Wir können aus dem, was auch auf unserer Erde teilweise schon geschehen ist, schließen, daß die ganze utopische Welt für den Wanderer überall offen, zugänglich und ebenso sicher ist wie heutzutage England oder Deutschland. Der Weltfriede wird auf ewig befestigt sein, und überall außer an entlegenen, verlassenen Orten wird es behagliche Gasthöfe geben, mindestens ebenso behagliche und zuverlässige als die der heutigen Schweiz. Die Touristenklubs und Hotelverbände, die diesem Lande und Frankreich so erfolgreich Tarife auferlegt haben, werden ihre schönen utopischen Ebenbilder haben, und die ganze Welt wird an das Kommen und Gehen der Fremden gewöhnt sein. Der größere Teil der Welt wird ebenso sicher und jedermann ebenso billig und leicht zugänglich sein, wie es etwa Zermatt oder Luzern heutzutage einem Westeuropäer aus dem Mittelstande ist.

Schon deshalb wird es nirgends so überfüllt sein wie gegenwärtig an diesen beiden Orten. Wenn jeder hingehen und überall leicht hinkommen kann, wo er nur will, ohne daß er Schwierigkeiten mit der Sprache, dem Gelde, dem Zoll oder dem Gesetz zu befürchten braucht, sollte da auch fernerhin alles ein paar bestimmten Plätzen zulaufen? Solche Überfüllungen zeigen nur, welcher Grad von Unzugänglichkeit, Unsicherheit und Kostspieligkeit gegenwärtig noch fast allgemein herrscht und einen unbequemen Zustand des Übergangs darstellt in diesen ersten Anfängen des Reisezeitalters der Menschheit.

Der Utopier wird ohne Zweifel auf viele Arten reisen können. Es ist unwahrscheinlich, daß es in Utopien noch rauchspeiende Eisenbahnen gibt, sie sind ja schon auf der Erde gerichtet und von jenem Veralten bedroht, das sie den Ruskins von morgen teuer machen wird. Aber ein dünnes Spinngewebe unauffälliger Straßen wird den Boden bedecken, die Bergesmassen durchbohren und die Meere untertunneln. Sie mögen zweischienig oder einschienig oder sonstwie angelegt sein – wir sind keine Ingenieure und können dies nicht entscheiden – aber auf ihnen reist der Utopier mit einer Geschwindigkeit von zwei- bis dreihundert Meilen oder mehr in der Stunde von einem Hauptpunkt zum andern rund um die Welt. Man stelle sich diese Hauptverbindungen ungefähr in der Art der Durchgangszüge vor, glattlaufend und geräumig, offen von einem Ende zum andern, mit Wagen, in denen man sitzen und lesen, andern, wo man Erfrischungen einnehmen kann, solchen, in welche die Tagesneuigkeiten von den neben der Strecke laufenden Drähten hineintelegraphiert werden, wieder andern, wo man für sich sein und schlafen kann, wenn man dazu aufgelegt ist, Wagen für Bäder und für die Bücherei, kurz, ein Zug mit aller Behaglichkeit eines Klubs. Einen Unterschied der Klassen kann es in einem solchen Zug nicht geben; denn in einer gebildeten Welt stoßen sich verschiedene Menschenklassen nicht aneinander, und zum Nutzen von allen insgesamt würden die Reisen so billig als möglich und für jeden wohl erschwinglich sein, ausgenommen die fast verbrecherisch Armen.

Solch große Verkehrswege wird der Utopier benutzen, wenn er weit und schnell zu reisen wünscht; sie führen ihn über die ganze Landfläche des Planeten hin. In sie münden von überall her unzählige kleinere Systeme, die ich mir als saubere elektrische Kleinbahnen ausmale; diese ziehen über das Land ein feinmaschiges Netz, das im Bereich der Städte enger und dichter, mit abnehmender Bevölkerung dünner wird. Neben diesen leichtern Eisenbahnen herlaufend und noch tiefer ins Land eindringend, finden wir die glatten Landstraßen wie die, der wir uns nähern, auf denen freie Fahrzeuge wie Automobile, Räder, und so weiter, laufen. Ich zweifle, ob wir auf dieser schönen, glatten, sauberen Straße Pferde zu sehen bekommen, ja, ob es auf den Landstraßen Utopiens viele Pferde gibt, und ob man auf diesem Planeten überhaupt Zugpferde benutzt. Wozu auch? Auf Rasen oder sandigem Grund oder auf eigens vorgesehenen Strecken mag das Reiten als Leibesübung oder Vergnügen betrieben werden, und was die andern Lasttiere angeht, so wird wohl das Maultier auf entlegenen Gebirgspfaden ein malerisches Überbleibsel bilden; der Wüstenbewohner wird für das Kamel noch Verwendung haben, und im Prunkzug des Orients mag der Elefant immer noch seine Rolle spielen. Aber die Hauptlast des geringeren Verkehrs, vielleicht die ganze, wird mechanischen Kräften zufallen. Sogar in diesem noch entlegenen Teil der Straße können wir dies schon beobachten an den flinken, zierlichen Automobilen und den Rädern, die vorübereilen; auch Fußgänger sind unterwegs in diesen angenehmen Berggegenden. Radfahrstraßen gibt es in Fülle in Utopien; oft laufen sie neben den großen Landstraßen her, noch öfter schlagen sie eigene, angenehmere Bahnen ein mitten durch die Wälder, Felder und Wiesen. Fußpfade und kleinere Wege finden wir in großer Zahl und Abwechslung: heitere Wege führen über die duftigen Nadeln der Fichtenwälder im Gebirge, primelbesäte Pfade durch das knospende Dickicht des Vorlandes, Pfade an eilenden Bächen hin, durch weite Korngefilde und vor allem durch das blumige Gartengebiet, in dem die Häuser der Stadt verstreut liegen. Und überall auf Straßen und Pfaden, zu Land und zu Wasser, durchziehen die glücklichen Utopier in ihren Ferien die Welt.

Die Bevölkerung Utopiens wird eine Wanderbevölkerung sein in einem bei uns unbekannten Grade, nicht nur eine Reise- sondern eine Wanderbevölkerung. Die alten Utopier waren alle an einen Ort gebannt, so festgebannt wie ein Gemeindevorsteher, aber es ist offenkundig, daß sogar das Leben ganz gewöhnlicher Leute heutzutage sich über Gebiete erstreckt, die früher ein Königreich gebildet und den Athener der »Gesetze« mit ungläubigem Staunen erfüllt hätten. Abgesehen etwa von dem, was bei den reichsten Römern der Kaiserzeit üblich war, gab es nie entfernt Ähnliches wie das Abschweifen des modernen Menschen von seiner Wohnstätte. Es macht uns nichts aus, wenn wir achtzig bis neunzig Meilen an unser Geschäft oder Sonntags in einer Stunde fünfzig Meilen weit an einen Erholungsplatz fahren, und es ist zur festen Sitte geworden, jeden Sommer in die weite Ferne zu reisen. Nur die Schwerfälligkeit der Verkehrsverbindungen hemmt uns noch, und jede Erleichterung in dieser Beziehung erweitert für uns nicht nur den Bereich der Möglichkeit, sondern den der Gewohnheit. Aber noch mehr: wir wechseln auch unsere Wohnplätze immer häufiger und leichter und müßten einem Thomas More als Nomadenvolk gelten. Die alte Seßhaftigkeit war notwendig, nicht freiwillig; sie war nur eine Entwicklungsphase der Zivilisation, ein Kunstgriff des Einwurzelns, den der Mensch für einige Zeit seinen neugefundenen Freunden ablernte, dem Halm, der Rebe und dem Herd. Der ungezähmte Geist der Jugend hat sich für immer dem Wandern und dem Meere zugekehrt. Die Seele des Menschen hat noch nie und nirgends freiwillig an der Scholle gehangen. Sogar Bellock, der das Glück eines Bauernbesitzes predigt, ist so viel klüger als seine Lehre, daß er in einer kleinen Jacht die Meere durchsegelt oder zu Fuß von Belgien nach Rom wandert. Wir gewinnen unsere Freiheit zurück, eine erneuerte und erweiterte Freiheit, und nichts kann uns zu einer lebenslänglichen Dienstbarkeit gegen irgendeine Scholle zwingen oder anlocken. Die Menschen lassen sich in unserm Modernen Utopien schließlich nur um der Liebe und der Familie willen nieder, aber zunächst wollen sie einmal gründlich die Welt besehen.

Sobald die Füße des Menschen von den Fesseln des Orts befreit werden, müssen auch die Lebensfaktoren auf alle mögliche Weise anders verteilt werden können. Auf unserer armen Zufallserde müssen, wo man gerade etwas anbauen, Mineralien gewinnen, Kräfte ausbeuten kann, die menschlichen Niederlassungen sich zusammendrängen ohne Rücksicht auf die Freuden und Annehmlichkeiten des Lebens. In Utopien aber werden weite Strecken öden, ungesunden, unfruchtbaren oder gefährlichen Landes ohne jede Heimstätte sein; es wird Minen- und Hüttenreviere geben, schwarz vom Rauch der Hochöfen, zerfetzt und verödet durch Minen, mit einer Art von gespenstisch-ungastlicher Größe industrieller Verwüstung: dahin werden die Menschen auf eine Schicht zur Arbeit kommen und dann wieder in die Menschlichkeit zurückkehren, indem sie im schnellgleitenden Zug sich waschen und umziehen. Und zum Ersatz wird es schöne Erdflecke geben, die eigens für Kinder bewahrt und gepflegt werden; hier wird der Besuch durch Kinder die Steuer ermäßigen, während er an weniger gesunden Orten eigens besteuert wird. Die unteren Pässe und Vorberge gerade der Alpen, zum Beispiel, werden von Wohnstätten für den Anbau der großen Ackerflächen Oberitaliens wimmeln.

So werden wir, sobald wir den kleinen See im Schoße des Lucendro und noch ehe wir die Straße erreichen, die ersten zerstreuten Alpenhütten und Heimstätten finden, in denen dies Wandervolk als in ihren höheren Sommerhäusern wohnt. Sowie beim Nahen des Sommers der Schnee sich auf die höchsten Alpen zurückzieht, steigt eine Flut von Haushaltungen mit ihren Schulen, Lehrern, Ärzten und ähnlichen dazu gehörenden Berufsarten an diesen Bergen herauf und ebbt wieder zurück, wenn im September der erste Schnee fällt. Es gehört wesentlich zu dem modernen Ideal des Lebens, daß die Zeit der Erziehung und des Wachstums so sehr als möglich verlängert und die Geschlechtsreife entsprechend verzögert werde, und die Staatsmänner Utopiens werden es klug zu ordnen wissen, daß durch gesetzliche Vorschriften und Besteuerung die Zahl jener Kinder fortwährend abnimmt, die unter aufregenden Verhältnissen frühreif werden. Diese hohen Berge werden in dem klaren, köstlichen Sommer von Jugend wimmeln. Die Haushaltungen werden sich heraufwagen bis an solch hochgelegene Orte, wo noch im Juli der Schnee kaum weg ist, und das Urseren Tal unten wird eine einzige, verstreute Sommerstadt bilden.

Man stelle sich nun eine der mehr städtischen Landstraßen vor, auf denen die leichteren Bahnen zweiter Ordnung laufen, wie zum Beispiel die im Urseren Tal, das wir gleich erreichen werden. Ich denke sie mir so, wie sie bei Nacht erscheint: als ein gegen hundert Meter breites Band, dessen Fußpfad auf beiden Seiten von hohen Bäumen beschattet und von gelben Glühlampen sanft beleuchtet wird, während in der Mitte die Bahnspur hinführt, auf der von Zeit zu Zeit ein nächtlicher Zug, hell beleuchtet und fröhlich, aber fast geräuschlos vorübergleitet. Radfahrer fliegen mit ihren Lichtern wie Leuchtkäfer dahin, und hin und wieder jagt ein summendes Automobil von oder nach dem Rhein-, dem Rhoneland, der Schweiz oder Italien. Und auf beiden Seiten blitzen die Lichter der kleinen Landhäuser, die sich von hier an über die Berghänge hinziehen.

Ich stelle mir das alles bei Nacht vor, weil wir es so zum erstenmal sehen werden.

Wir kommen aus unserem Bergtal auf die kleinere Straße, die über die einsame Felsenwildnis des Gotthardpasses hinabführt, wir steigen die neun Meilen langen Windungen hinab und kommen im Zwielicht zu den Häusergruppen und offenen Hochlandsgärten von Realp, Hospental und Andermatt. Die größere Straße führt zwischen Realp und Andermatt hin und die Schöllenenschlucht hinunter. Bis wir sie erreichen, ginge uns das Verständnis unseres Abenteuers ein wenig besser auf. Wenn wir einmal die zwei bekannten Gruppen von Alpenhütten und Hotels durch eine große, zerstreute Häusermenge verdrängt sähen – außer dem Licht aus den Fenstern könnten wir kaum etwas wahrnehmen –, dann wüßten wir, daß irgendeine sonderbare Veränderung des Ortes oder der Zeit mit uns vorgegangen wäre, und jetzt erreichen wir an undeutlich sichtbaren Gebäuden vorbei unter Staunen und vielleicht einer gewissen Furcht jenen Teil, der Hospental entsprechen müßte. Wir gelangen auf die große Hauptstraße – eine Straße gleich einer städtischen Allee – und blicken hinauf und hinab, ungewiß, ob wir das Tal hin zur Furka oder über Andermatt durch die Schlucht gehen sollten, die nach Göschenen führt.

Leute gehen im Zwielicht an uns vorbei, und es werden immer mehr. Sie schreiten rüstig und tragen eine anmutige, uns ungewohnte Kleidung. Mehr können wir nicht unterscheiden.

»Guten Abend!« sagen sie zu uns mit heller, schöner Stimme. Ihre umdämmerten Gesichter wenden sich uns in flüchtiger Prüfung zu.

Wir entgegnen aus unserer Verblüffung heraus: »Guten Abend!« – Denn nach den Vereinbarungen zu Beginn dieses Buches nehmen wir teil an ihrer Sprache.

IV

Wäre dies ein Roman, so würde ich ausführlich erzählen, wie sehr uns das Glück half, eine utopische Goldmünze zu finden, wie wir uns schließlich in einen utopischen Gasthof wagten und ihn durchweg von der größten Behaglichkeit fanden. Wir sitzen als die scheuesten und vorsichtigsten Gäste da, doch von den uns vorgesetzten Speisen, der Einrichtung des Hauses und unserer gesamten Bewirtung werden wir besser erst nachher sprechen. Wir wissen ja, daß wir in einer Welt der Wanderschaften sind, die an Reisende sehr gewöhnt ist. Unsere Gebirgsanzüge sind nicht fremdartig genug, um eine scharfe Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, obwohl sie nach utopischen Begriffen jedenfalls schlecht gemacht und schäbig erscheinen. Man behandelt uns, wie wir es im besten Fall verlangen können, als bescheidene, etwas abgerissene Leute. Wir sehen uns um nach einem Fingerzeig und Vorbild für unser Benehmen, und kommen auch wirklich zurecht. Nach unserer eigentümlichen, aber nicht schlechten Mahlzeit, wobei wir keine Fleischspeisen zu sehen bekommen, gehen wir hinaus, um uns in der frischen Luft gemächlich zu besprechen, und dabei entdecken wir den sonderbaren Sternenhimmel über uns. Da geht es uns voll und klar auf, daß unsere Phantasie sich verwirklicht hat. Wir geben endgültig jeden Gedanken einer Täuschung auf, alles, was wir bei unserm Abstieg von dem Bergpaß Ungewöhnliches bemerkt haben, schließt sich zu einer runden Überzeugung zusammen: Ja, wirklich, wir sind in Utopien!

Wir gehen unter den Bäumen an der Hauptstraße hin und beobachten die im Dunkel Vorbeigehenden, als wären es Traumgestalten. Wir sprechen wenig miteinander. Wir biegen seitwärts in einen kleinen Fußweg und kommen an eine Brücke über die wilde Reuß, die sich der Teufelsbrücke in der Schlucht da unten zustürzt. Weit hinten über dem Furkakamm verkündet ein bleicher Schimmer den Aufgang des Mondes.

Ein Liebespaar geht flüsternd an uns vorbei, und wir folgen ihm mit den Augen. Dies Utopien hat sicherlich die erste und nächste Freiheit, die der Liebe bewahrt. Und dann schlägt die süße Stimme einer Glocke irgendwo aus der Höhe, Oberalp zu, zweiundzwanzigmal.

Ich breche das Schweigen. »Das könnte zehn Uhr bedeuten,« sage ich.

Mein Gefährte lehnt sich über die Brücke und blickt in den dunkeln Strom da unten. Ich sehe, wie der scharfe Mondrand, einer Nadel glühenden Silbers gleich, über den Bergkamm kriecht, und plötzlich wird der Fluß lebendig von Blitzen zuckenden Lichts.

Er spricht und ich erstaune zu hören, wohin seine Gedanken im stillen gewandert sind.

»Wir beide waren ein junges Liebespaar wie dieses,« sagt er und zeigt mit dem Kopf nach den verschwindenden Utopiern. »Ich liebte sie zuerst, und ich glaube nicht, daß ich je gedacht habe, ich könne eine andere lieben als sie.«

Es ist etwas eigentümlich Menschliches, obwohl es auf Ehre nicht in meinen Plan paßt, daß jetzt, wo ich endlich im Zwielicht inmitten eines utopischen Stadtwesens stehe, wo mein ganzes Sein in staunender Betrachtung aufgehen sollte, dieser Mensch da neben mir stehen und meine Aufmerksamkeit beharrlich auf sich zerren muß, auf sein beschränktes, wichtiges Ich. Es geht mir immer so, daß sich zwischen große Eindrücke etwas Kleinliches, Belangloses unruhig eindrängt. Als ich zum erstenmal das Matterhorn sah, jene Königin unter den Alpenspitzen, störte mich die Erzählung eines Menschen, der Sardinen nicht vertragen konnte, in der Bewunderung, ich kann nicht sagen wie – immer taten ihm die Sardinen dies an und das. Meine ersten Wanderungen durch die braunen Straßen von Pompeji, ein Erlebnis, dem ich mit seltsamer Spannung entgegengesehen hatte, wurden mir verdorben durch den denkbar einfältigsten Vortrag über Droschkentarife in den europäischen Hauptstädten. Und jetzt redet und schwatzt mir während meiner ersten Nacht in Utopien dieser Mensch von seiner armseligen kleinen Liebesgeschichte.

Sie gestaltet sich zu einer überaus gewöhnlichen und schwächlichen Tragödie, zu einer jener Geschichten widerstandsloser Unterwerfung unter den Zufall und die Sitte, die für Schriftsteller wie Hardy oder George Gissing ein Thema abgeben könnten. Ich höre erst nur halb zu – und beobachte die schwarzen Gestalten, die auf dem mondbeleuchteten Wege hin und her gehen. Und doch weiß ich – wie er diese Überzeugung meinem Geiste einflößt, kann ich nicht verfolgen –, weiß ich, die Frau, die er liebt, ist schön.

Sie wuchsen als Knabe und Mädchen zusammen auf und trafen sich später wieder als Studiengenossen in einer Welt von angenehm rücksichtsvoller Lebensart. Er nahm jedenfalls den äußern Schein des Lebens mit einem vertrauensseligen guten Glauben hin, war infolge einer gewissen Unterdrückung schüchtern und arglos und nicht von der Geistesart, die leicht weltliche Erfolge erringt, aber er muß ihr nachgeträumt und sie sehr geliebt haben. Was sie für ihn empfand, habe ich nie erfahren können, es scheint aber ganz jene farblose Freundschaft gewesen zu sein, zu der wir unsere Mädchen erziehen. Da erhoben sich plötzlich Schwierigkeiten. Der Mann, der ihr Gatte wurde, näherte sich ihr mit einer ausgesprochenen Leidenschaft. Er war etwa ein Jahr älter als sie beide und von der Art und Gewohnheit, gesteckte Ziele auch zu erreichen. Er blickte schon auf Erfolge zurück und hatte Aussicht auf Reichtum. Soviel ich aus den Worten meines Botanikers entnahm, ging sein Verlangen nach ihrer Schönheit.

Wie nun mein Botaniker so redete, war es mir, als sähe ich das ganze kleine Drama noch deutlicher als nach seiner Schilderung: die Handelnden alle in lächerlichem Kleinstadtkostüm, Begegnungen Sonntags nach der Kirche (die Herren in Zylinder, Gehrock und mit straff aufgerolltem Schirm), dann und wann Abendgesellschaften, anständige Durchschnittsromanlektüre zu Hause, gezierte Sentimentalität der Ansichten, die Mütter liebenswürdig im Umgang, die Väter respektabel, Tanten, die »Angehörigen« – seine »Angehörigen« und ihre »Angehörigen« – Klavierspiel und Gesang, und in dieser Umrahmung unsern Freund »recht tüchtig« in der Botanik, in der er »sein Examen machen« will, und das Mädchen mit seiner zufälligen Schönheit; so stellte ich mir die geregelte und geordnete Umgebung vor, in die nun das Schicksal mit elementarer Kraft eingriff.

Der auftretende Fremde erlangte, was er wollte. Das Mädchen fand durch Überlegung, daß sie den Botaniker noch nie geliebt, nur Freundschaft für ihn empfunden habe – sie wußte freilich nur wenig von dem Sinn dieser schönen Worte – sie trennten sich ein wenig unvermittelt und unter Tränen, und der junge Mann war nicht einmal auf den Gedanken gekommen, es könne auch anders kommen, als daß sie in ein konventionelles Leben eintrete in irgendeinem der zahllosen Frognals, aus denen nach seiner Einbildung das Zellengewebe der Welt besteht.

Und es kam anders.

Er hatte ihr Bild und ihr Gedächtnis teuer gehalten, und wenn er je von der strengsten Treue abwich, so schien es nur zu sein, damit seine Erfahrungen und Enttäuschungen ihn um so deutlicher lehrten, was sie ihm bedeutet hätte ... Dann, acht Jahre später, trafen sie sich wieder.

Bei diesem Teil seiner Geschichte haben wir auf meine Veranlassung die Brücke bereits verlassen und wandeln dem utopischen Gasthaus zu. Dem utopischen Gasthaus! Seine Stimme hebt und senkt sich, bisweilen faßt er meinen Arm. Meine Aufmerksamkeit schwankt hin und her. »Gute Nacht!« rufen uns zwei süße utopische Stimmen in ihrer Weltsprache zu, und ich antworte: »Gute Nacht!«

»Sehn Sie,« fährt er beharrlich fort, »ich habe sie noch vor einer Woche gesehen. Es war in Luzern, als ich Ihre Ankunft aus England erwartete. Ich habe sie im ganzen drei- oder viermal gesprochen. Und ihr Gesicht – diese Veränderung! Es will mir nicht aus dem Kopf, Tag und Nacht. Wie elend sie vergeudet ist ...«

Vor uns leuchten durch die hohen Fichtenstämme die Lichter unseres utopischen Gasthofes. Er redet etwas von schlechter Behandlung. »Ihr Mann ist eitel, prahlerisch, unehrlich bis hart an die Grenzen des Gesetzes, und ein Trinker. Es kommt zu Auftritten und Beschimpfungen ...«

»Sie erzählte Ihnen ...?«

»Nicht viel, aber sonst jemand. Er bringt andere Frauen, um sie zu kränken, fast in ihre Nähe.«

»Und das geht so weiter?« unterbreche ich.

»Ja. Gerade jetzt.«

»Muß es so weitergehen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Dame in Not,« sagte ich. »Ritter zur Hand. Weshalb nicht diesem scheußlichen Zank ein Ende machen und sie entführen?« (Man erinnere sich an den heroischen Schwung des Armes, der dem Mann der »Stimme« eigen ist.) Ich vergesse im Augenblick tatsächlich, daß wir in Utopien sind.

»Sie meinen?«

»Nehmen Sie ihm die Dame weg! Was soll all Ihre Aufregung, wenn Sie das nicht fertig bringen?«

Schreckensbleich starrte er mich an.

»Sie meinen, mit ihr durchgehen?«

»Der Fall scheint ganz dazu angelegt zu sein.«

Er schweigt eine Weile, und wir gehen unter den Bäumen weiter. Ein utopischer Tramwagen eilt vorüber, und im gleitenden Lichtschein sehe ich das Gesicht des armen, hilflosen Wichts, ein spitzes, kummervolles Gesicht.

»Das liest sich recht schön in einem Roman,« sagte er. »Aber wie könnte ich danach mein Laboratorium wieder übernehmen? Gemischte Klassen, wissen Sie, mit jungen Damen; wie könnte ich das, nach so etwas? Wo und wie könnten wir leben? Wir könnten in London Wohnung nehmen, aber wer wollte uns besuchen? ... Übrigens, Sie kennen sie ja nicht. Sie ist nicht die Frau dazu ... Glauben Sie nicht, ich sei furchtsam oder konventionell. Glauben Sie auch nicht, es fehle mir an Gefühl ... o, Gefühl! Sie wissen nicht, was es heißt, in einem solchen Falle zu fühlen ...«

Er hält inne und bricht dann giftig aus: »Ah! es gibt Augenblicke, wo ich ihn mit eigenen Händen erwürgen könnte.«

Dies ist Unsinn.

Er fuchtelt ohnmächtig mit seinen mageren Botanisierhänden.

»Mein lieber Freund!« sage ich und verstumme.

Einen Augenblick lang vergesse ich ganz, daß wir in Utopien sind.

V

Kehren wir nach Utopien zurück. Wir sprachen vom Reisen.

Außer Straßen, Eisenbahnen und Trambahnen für den Verkehr zu Lande werden die modernen Utopier noch viele andere Verkehrsmittel besitzen. Auf den Flüssen finden wir eine große Mannigfaltigkeit der Fahrzeuge, auf den Kanälen verschiedene Arten von Schleppschiffahrt, auf Seen und Lagunen alle mögliche Beförderung, und in der Nähe des Landes kommen und gehen die Vergnügungsboote; die schnellen, großen Passagierschiffe, mächtig und fest, mit dreißig Knoten oder mehr in der Stunde, ziehen lange Kielwasser, indem sie über die ewig bewegte Riesenfläche des Meeres dahinschwinden.

Man wird in Utopien eben zu fliegen beginnen. Wir verdanken Santos Dumont viel; die Welt neigt heute viel mehr zu dem Glauben, daß dies Wunder kommt, und zwar bald kommt, als vor fünf Jahren. Aber wenn wir nicht annehmen, die Wissenschaft sei in Utopien der unseren weit voraus – und obgleich wir im Eingang unseres Unternehmens diese Annahme nicht ausgeschlossen haben, so wäre sie uns doch unbequem und stimmte nicht ganz zu den sonstigen Voraussetzungen – so müssen auch sie noch an denselben vorbereitenden Versuchen stehen wie wir. In Utopien wird man aber die Forschung planmäßig führen, während wir sie – überhaupt nicht führen. Wir lassen den Zufall walten. Narren unternehmen die Erfindung und kluge Leute beuten sie aus – so behandeln wir die Frage, und wir dürfen dem Himmel danken, daß er uns eine anscheinend reiche Zahl finanziell unvermögender, aber hinreichend erfinderischer Narren geschenkt hat.

In Utopien wird eine große Menge vorzüglicher Männer, auserlesener Freiwilliger, an diesem neuen Fortschritt im Kampf des Menschen mit den Elementen arbeiten. Das Haus Salomonis, wie es Bacon im Geiste sah In der Neuen Atlantis., ist dann verwirklicht und widerhallt von diesem Getriebe. Jede Universität in der Welt wird sich dringend bemühen, das Problem in der einen oder andern Weise zuerst zu lösen. Berichte über das Ergebnis der Versuche werden so schnell und so ausführlich um die Welt laufen wie die telegraphischen Rennberichte in unserer Zeit des Sportes. All das wird gleichsam hinter dem Zwischenaktsvorhang unseres ersten Erlebnisses vor sich gehen, hinter jenem ersten Bild des zur Stadt umgebildeten Urseren Tales. Die Literatur über den Gegenstand wird sich mit der leichten Schnelle eines durch die Luft schießenden Adlers aufschwingen und entfalten, während wir durchs Vorland hinabsteigen. Im Zwielicht verborgen, von unsern Gedanken bis in diesem Augenblick noch nicht vermutet, werden tausend Menschen an tausend beleuchteten Schreibtischen, wird eine geschäftige Presse eigens für diesen Zweck beständig sichten, prüfen, die Ergebnisse zusammendrängen und der weiteren Untersuchung den Boden bereiten. Alle, die das Problem des öffentlichen Verkehrs näher angeht, werden den aeronautischen Forschungen mit scharfer, unternehmungslustiger Teilnahme folgen, ebenso der Physiologe und der Soziologe. Die utopische Methode wird im Vergleich zu dem blinden Tasten auf unserer Erde wie eines Adlers Stoß erscheinen. Bevor noch unsere kurze utopische Reise zu Ende ist, werden wir etwas davon zu sehen bekommen, wie schnell diese emsige Tätigkeit, die bei unserer Ankunft in der Entwicklung steht, zu Erfolgen reift. Morgen vielleicht oder übermorgen wird ein geräuschloses Etwas aus der Ferne über die Berge her in Sicht kommen, wird sich wenden und erheben und unsern erstaunten Blicken wieder entschwinden ...

VI

Aber mein Freund und seine große Not lenken meinen Geist wieder ab von diesen Fragen der Fortbewegung und von den Freiheiten, die sich daraus ergeben. Unwillkürlich lege ich mir seinen Fall zurecht. Er liebt, er ist ein konventioneller Anglikanischer Liebhaber, und man könnte meinen, sein Herz wäre in der reinlichen, aber beschränkten Schulstube der Frau Wood ausgebildet worden ...

Bei den Utopiern wird man wohl mit kräftigeren Schwingen fliegen, und nicht nur die äußere Bewegung wird leicht und frei sein, man wird sich höher erheben und steiler niederstoßen, als er es sich vorstellen kann in seinem Käfig. Wie weit werden sie gehen, bis an welche Grenzen? Welche Mißklänge zu unsern Vorurteilen werden wir hier vernehmen, er sowohl als ich?

Meine Gedanken fließen frei und leicht wie nach einem erfolgreichen Tage. Sie schweifen, während wir schweigend unserm Gasthof zuwandern, von einer Überlegung zur andern im Bereich der grundlegenden Dinge des persönlichen Lebens und aller Verwicklung der Begierden und Leidenschaften. Meine forschenden Fragen wenden sich den schwierigsten aller Kompromisse zu: wie nämlich durch die Ehegesetze die Freiheit plötzlich entstehender Neigungen in Schranken gehalten wird? wie man wohl die Gerechtigkeit in Einklang bringen könne mit dem Schutze zukünftiger Güter, die durch solch heftige Leidenschaften in Gefahr kommen? Wohin neigt sich hier die Wage der Freiheiten? Ich lasse alles Utopisieren eine Zeitlang ganz beiseite und stelle die Frage, deren Beantwortung auch Schopenhauer schließlich vollständig mißglückt ist: warum unser Wille zuweilen so heftig auf quälende, zwecklose und verderbliche Dinge gerichtet ist?

Von diesem aussichtslosen Blick in die Tiefen kehre ich zurück zu der allgemeinen Frage über die Freiheiten unter jenen neuen Verhältnissen. Den Fall meines Botanikers habe ich weit beiseite gelassen und beschäftige mich mit der Frage: wie weit wird sich eine moderne Utopie um die persönliche Moral kümmern?

Wie vor langer Zeit schon Plato nachwies, lassen sich die Grundsätze für eine Staatsaufsicht über die persönliche Sittlichkeit am besten erörtern an dem Fall der Betrunkenheit, da dieser unter der ganzen Problemreihe den Fall darstellt, der am wenigsten Zusammenhang und Verwicklung zeigt. Wenn aber Plato die Frage so behandelte: wem ist der Wein gestattet und wem nicht? so kann dies angehen für einen kleinen Staat, in dem jeder den andern tatsächlich beaufsichtigen kann; für moderne Verhältnisse muß es aber außer Betracht bleiben, weil wir hier ein außerordentlich viel höheres Maß persönlicher Abschließung haben und so weit und so viel wandern, wie es der Akademiker sich nie hätte vorstellen können. Nehmen wir sein Prinzip an und rechnen wir die Freiheit des Weingenusses unter die ausgesprochenen Vorrechte des reifen Alters, so bleibt doch alles, was ein moderner Mensch unter der Alkoholfrage verstände, noch unberührt.

Diese Frage wird in Utopien so behandelt werden, daß nur das Verhältnis ihrer Faktoren ganz anders aufgefaßt wird, als bei uns. Das zu erstrebende Endziel bleibt: die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sitte, die Zurückführung der Gelegenheiten, die immer wieder diese üble und verderbliche Gewohnheit erzeugen, auf die geringste mögliche Zahl, und der vollständige Schutz der Minderjährigen. Da aber die modernen Utopier ihre Soziologie vollkommen ausgebildet haben, so werden sie der Psychologie der niedern Beamten einige Aufmerksamkeit geschenkt haben, einer Sache, die von den sozialen Reformern der Erde gar zu sehr vernachlässigt worden ist. Man wird nicht in die Hände eines einfachen Polizisten mittelbar oder unmittelbar eine Macht legen, die dem Publikum selbst in den Händen eines Richters gefährlich wäre. Und man wird den ungeheuern Fehler vermieden haben, die Beaufsichtigung des Alkoholhandels zu einer Quelle öffentlicher Einnahmen zu machen. Man dringt nicht in Privaträume ein, beschränkt aber den öffentlichen Alkoholgenuß unbedingt auf besondere konzessionierte Orte und die Abgabe der Getränke auf die unverkennbar Erwachsenen. Die Verführung der Jugend wird ein schweres Vergehen bilden. Bei einem so wanderlustigen Volk müßten die Gasthaus- und Schankkonzessionen derselben Aufsicht unterstehen wie die Eisenbahnen und Landstraßen. Gasthäuser sind für den Fremden da, nicht für den Einheimischen, und etwas so Sinnloses wie unsere Konzession nach dem örtlichen Bedürfnis gibt es dort nicht.

Die Utopier werden dieses Gewerbe sicherlich unter Aufsicht stellen und ebenso gewiß persönliche Ausschweifungen bestrafen. Öffentliche Trunkenheit (im Unterschied von der bloßen gehobenen Stimmung nach einem maßvollen Genuß edlen Weines) wird ein Vergehen gegen die öffentliche Sitte bilden, das sehr kräftig gefaßt wird. Natürlich wird sie bei Verbrechen einen erschwerenden, keinen mildernden Umstand bilden.

Ich zweifle aber, ob der Staat darüber hinausgehen wird. Ob ein Erwachsener Wein, Bier oder Spirituosen genießen soll, das geht, scheint mir, einzig seinen Arzt und sein eigenes Gewissen an. Vermutlich werden wir auf unsern Entdeckungsreisen keinen Betrunkenen, wahrscheinlich aber viele treffen, die von ihrer Freiheit als Erwachsene nie einen Gebrauch machen. Man wird in Utopien die Voraussetzungen des äußeren Glücksgefühls besser verstehen, es wird sich dort lohnen, behaglich zu sein, und der verständige Bürger wird dafür aufmerksam Sorge tragen. Die Hälfte, ja mehr als die Hälfte aller Trunkenheit auf Erden ist ein Versuch, düstere Tage und ein hoffnungslos getrübtes, freudeloses Leben aufzuheitern, aber in Utopien leiden sie unter all dem nicht. Gewiß werden die Utopier mäßig sein und äußerst vernünftig sowohl im Essen als im Trinken. Aber ich glaube nicht, daß Wein und Bier oder guter alter Whisky, gelegentlich auch ein anregender Likör bei ihnen ganz fehlen. Ich kann das nicht glauben. Mein Botaniker, der gar keinen Alkohol trinkt, ist andrer Meinung. Wir sind hier verschiedener Ansicht und überlassen die Frage dem ernsten Leser. Ich hege die größte Achtung vor allen Abstinenzlern, vor den Hassern und Verfolgern der Schankwirte, ihr Eifer für die Reform weckt ein Echo in mir, und von solchen Leuten erwarte ich einen großen Teil der dringend notwendigen Besserung unserer Erde; aber trotz alledem ...

Burgunder, zum Beispiel, eine Flasche milden, lieblichen Burgunders, gießt Sonnenschein über die Mahlzeit, wenn vier Stunden angestrengter Arbeit uns über die Zeit des besten Appetits hinausgeführt haben. Oder Bier, ein schäumendes Glas Bier als Vorspiel, wenn man zehn Meilen strammen Marsches in Regen und Schmutz hinter sich hat, und darauf gutes Brot, gute Butter und reifen, lockeren Käse mit Sellerie – und wieder Bier, Bier in nicht allzusehr begrenzter Menge. Oder was wäre Sündhaftes daran, wenn man drei-, vier- oder auch fünfmal im Jahre, zur Zeit, da die Walnüsse reifen, ein Glas rotbraunen Portweins trinkt? Wenn man keinen Portwein trinkt, wozu sind dann die Walnüsse da? Solche Genüsse halte ich für den Lohn langer Abstinenz, sie rechtfertigen den breiten, unbefleckten Rand, der sonst ein nie benützter, zweckloser Teil des Gaumens wäre, den doch Gott uns gab! Ich schreibe über diese Dinge als ein fleischlicher Mensch, ein offen und wissentlich fleischlicher Mensch und diesmal besonders bewußt, daß ich irren kann. Ich kenne mich selbst als ein grob ausgefallenes Geschöpf, das mehr zu sitzender Weltverbesserung neigt als zu lebhaftem Handeln und kein Zehntel so tatkräftig ist als der stumpfsinnigste Zeitungsjunge der Großstadt. Aber ich habe meine festen Gewohnheiten, wenn sie auch in der Einförmigkeit meines Lebens nicht hervortreten, und ich muß immer wieder fragen: weshalb sollten wir das Talent zu jenen genußfrohen Empfindungen ganz begraben? Unter keinen Umständen kann ich mir vorstellen, daß die Utopier ihre schöne Lebensordnung auf alkoholfreiem Bier und Limonade begründen. Diese schrecklichen Temperenzgetränke, verdünnte Zuckerlösungen, mit ungeheuern Mengen von Kohlensäure vermischt, wie Soda, Selters, Limonade und Feuerlösch-Granaten – man nennt solches Zeug »Mineralwasser« – blähen einen Menschen mit Wind und Einbildung auf. Wahrhaftig so ist's! Kaffee schadet dem Gehirn und den Nerven, diese Tatsache wird in ganz Amerika allgemein erkannt und verkündet; und Tee, abgesehen von einer Sorte grünen Tees, den man am besten mäßig dem Punsch zusetzt, gerbt die Eingeweide und verwandelt anständige Mägen in Ledersäcke. Lieber wollte ich mich gleich metschnikoffen Vgl. » Die Natur des Menschen« von Professor Elias Metschnikoff. und mir einen guten, sauberen Magen aus deutschem Silber machen lassen. Nein! Wenn wir in Utopien kein Bier haben sollen, so gebe man mir das einzige reinliche Temperenzgetränk, das wert ist, neben den Wein zu treten: einfaches Wasser. Am besten solches, das nicht ganz rein ist und eine Spur organischer Stoffe enthält, denn so schmeckt und perlt es.

Mein Botaniker möchte noch streiten.

Gott sei Dank, dies ist mein Buch, und die letzte Entscheidung steht bei mir. Es steht ihm frei, seine eigene Utopie zu schreiben und dafür zu sorgen, daß niemand etwas tun darf ohne die Einwilligung der Gelehrten der Republik, sei es nun im Essen, Trinken, Sichkleiden oder Wohnen, genau wie Cabet es vorschlug. Er mag seinerseits eine Utopie wie die »Nachrichten aus Nirgendwo« versuchen und dabei den Wein auslassen. Hier schneide ich ihm ganz wirksam das Wort ab. Im Eingang unseres Gasthofes wende ich mich an den höflichen, aber keineswegs kriecherischen Wirt, und in sorgsam zweideutigem Tone – denn es könnte als Beleidigung angesehen werden, und ich möchte die Möglichkeit offen lassen, daß es ein Scherz sei – stelle ich meine Probefrage ...

»Sehen Sie nun, mein lieber Abstinenzler? – er setzt Servierbrett und Glas und ...« Es folgt das nötige Experiment und ein tiefer Seufzer ... »Gewiß, eine Flasche ausgezeichneten leichten Bieres. Trinken wir in dieser gesunderen und schöneren Welt ein Pereat auf alle irdischen Ausschweifungen. Ganz besonders wollen wir noch trinken auf den Tag, da die Menschen da drüben lernen werden, zwischen qualitativen und quantitativen Fragen zu unterscheiden, mit der guten Absicht stets die gute Einsicht, mit der Rechtschaffenheit die Weisheit zu verbinden. Eins der dunkelsten Übel unserer Welt liegt sicherlich in der ungelehrigen Draufgängerei der Guten.

VII

Und nun zu Bett, um einen Schlaf zu tun, aber er kommt nicht gleich, der Schlaf. Erst muß mein Kopf, wie ein Hund in unbekanntem Quartier, sich eine Zeitlang wälzen, ehe er sich legt. Dies seltsame Geheimnis einer Welt, von der ich erst so wenig gesehen habe – einen Berghang, eine Straße im Zwielicht, das Hin und Her der Fahrzeuge und menschlichen Gestalten im Dunkel, die Lichter vieler Wohnstätten – füllt mich mit Neugier. Die Menschen und Ereignisse ziehen an mir vorüber, die Leute, denen wir begegneten, unser Wirt, dem trotz seiner ruhigen Aufmerksamkeit scharfe Neugier aus den Augen blickt, die ungewohnten Formen der Architekturen und Einrichtungen, die ungewohnten Gänge der Mahlzeit. Da draußen, um dies kleine Schlafzimmer her, liegt eine Welt, eine ganze ungeahnte Welt. Tausend Millionen Dinge liegen in dem Dunkel draußen, außerhalb dieses unseres hellbeleuchteten Gasthofs: Möglichkeiten, an die wir nie gedacht, Überlegungen, die uns entgangen sind, deshalb Überraschungen, Rätsel, Unerklärlichkeiten, eine ganze, ungeheure Welt von einer verschlungenen Entwicklung, die zu entwirren ich mein Bestes tun muß. Ich versuche, meine Erinnerungen zusammenzufassen, und es gelingt mir nicht, ich vermische wunderliche Träume mit meinen Gedanken.

Und durch dieses ganze Wirrsal meines Gedächtnisses schreitet die wunderliche Gestalt meines unvermuteten Gefährten, der von sich selbst und seiner egoistischen Liebe so eingenommen ist, daß die plötzliche Versetzung in eine andere Welt ihm nur einen Szenenwechsel für seine nagende, schmachtende Leidenschaft zu bedeuten scheint. Mir fällt ein, daß auch sie ihre Entsprechung in Utopien haben muß, und dann wird dieser Gedanke, wie alle anderen, dünn und sie verfließen zuletzt in der steigenden Flut des Schlafes ...


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