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X. Kapitel. Mutterschaft und Prostitution

Spezielle weibliche Charakterologie. Mutter und Dirne. Anlage zur Prostitution angeboren, aber nicht allein entscheidend. Einfluß des Mannes. Versehen. Verhältnis beider Typen zum Kinde. Die Frau polygam. Ehe und Treue. Sitte und Recht. Analogien zwischen Mutterschaft und Sexualität. Mutter und Gattungszweck. Die »alma« mater. Die Mutterliebe ethisch indifferent. Die Dirne außerhalb des Gattungszweckes. Die Prostituierte und die sozial anerkannte Moral. Die Prostituierte, der Verbrecher und Eroberer. Nochmals der »Willensmensch« und sein Verhältnis zum Genie. Hetäre und Imperator. Motiv der Dirne. Koitus Selbstzweck. Koketterie. Die Empfindungen des Weibes beim Koitus im Verhältnis zu seinem sonstigen Leben. Mutterrecht und Vaterschaft. Versehen und Infektionslehre. Die Dirne als Feindin. Bejahung und Verneinung. Lebensfreundlichkeit und Lebensfeindlichkeit. Keine Prostitution bei den Tieren. Rätsel im Ursprung.

 

Der Haupteinwand, welcher gegen die bisherige Darstellung wird erhoben werden, bezieht sich auf die Allgemeingültigkeit des Gesagten für alle Frauen. Bei einigen, bei vielen möge das zutreffen; aber es gebe doch auch andere ...

Es lag ursprünglich nicht in meiner Absicht, auf spezielle Formen der Weiblichkeit einzugehen. Die Frauen lassen sich nach mehreren Gesichtspunkten einteilen, und gewiß muß man sich hüten, das, was von einem extremen Typus gilt, der zwar überall nachweisbar ist, aber oft durch das Vorwalten gerade des entgegengesetzten Typus bis zur Unmerklichkeit zurückgedrängt wird, von der Allgemeinheit der Frauen in gleicher Weise zu behaupten. Es sind mehrere Einteilungen der Frauen möglich, und es gibt verschiedene Frauencharaktere; wenn auch das Wort Charakter hier nur im empirischen Verstande angewendet werden darf. Alle Charaktereigenschaften des Mannes finden merkwürdige, zu Amphibolien oft genug Anlaß bietende Analoga beim Weibe (einen interessanten Vergleich dieser Art zieht später dieses Kapitel): doch ist beim Manne der Charakter stets auch in die Sphäre des Intelligiblen getaucht, und dort mächtig verankert; hieraus wird denn die früher (S. 99) gerügte Vermischung der Seelenlehre mit der Charakterologie, und die Gemeinsamkeit im Schicksale beider, wieder eher begreiflich. Die charakterologischen Unterschiede unter den Frauen senden ihre Wurzeln nie so tief in den Urboden hinab, daß sie in die Entwicklung einer Individualität einzugehen vermöchten; und es gibt vielleicht gar keine weibliche Eigenschaft, die nicht im Laufe des Lebens, unter dem Einfluß des männlichen Willens, in der Frau modifiziert, zurückgedrängt, ja vernichtet werden könnte.

Was es unter ganz gleich männlichen oder ganz gleich weiblichen Individuen noch für Unterschiede geben möge, diese Frage hatte ich bisher mit Bedacht aus dem Spiele gelassen. Keineswegs, weil mit der Zurückführung psychologischer Differenzen auf das Prinzip der sexuellen Zwischenformen mehr gewonnen gewesen war als ein Leitfaden unter tausenden auf diesem verschlungensten aller Gebiete: sondern aus dem einfachen Grunde, weil jede Kreuzung mit einem anderen Prinzipe, jede Erweiterung der linearen Betrachtungen ins Flächenhafte störend gewirkt hätte bei diesem ersten Versuche einer gründlichen charakterologischen Orientierung, der weiter kommen wollte als bis zur Ermittlung von Temperamenten oder Sinnestypen.

Die spezielle weibliche Charakterologie soll einer besonderen Darstellung vorbehalten bleiben; aber schon diese Schrift ist nicht ohne Hinblick auf individuelle Differenzen unter den Frauen abgefaßt, und ich glaube so den Fehler falscher Verallgemeinerung vermieden und bisher nur solches behauptet zu haben, was unterschiedslos von allen gleich weiblichen Frauen in gleicher Weise und gleicher Stärke gilt. Nur auf W ganz allgemein ist es bisher angekommen. Da man aber meinen Darlegungen vornehmlich einen Typus unter den Frauen entgegenhalten wird, ergibt sich die Notwendigkeit, bereits hier ein Gegensatzpaar aus der Fülle herauszugreifen.

Allem Schlechten und Garstigen, das ich den Frauen nachgesagt habe, wird das Weib als Mutter entgegengehalten werden. Dieses erfordert also eine Besprechung. Seine Ergründung kann aber niemand in Angriff nehmen, ohne zugleich den Gegenpol der Mutter, welcher die für das Weib diametral konträre Möglichkeit verwirklicht zeigt, heranzuziehen; weil nur hiedurch der Muttertypus eine deutliche Abgrenzung erfährt, nur so die Eigenschaften der Mutter von allem Fremden scharf sich abheben können.

Jener der Mutter polar entgegengesetzte Typus ist die Dirne. Die Notwendigkeit gerade dieser Gegenüberstellung läßt sich ebensowenig deduzieren, wie daß Mann und Weib einander entgegengesetzt sind; wie man dies nur sieht und nicht beweist, so muß man auch jenes erschaut haben, oder es in der Wirklichkeit wiederzufinden trachten, um sich zu überzeugen, ob diese dem Schema sich bequem einordnet. Auf jene Restriktionen, die vorzunehmen sind, komme ich noch zu sprechen; einstweilen seien die Frauen betrachtet als stets von zwei Typen, einmal mehr vom einen, ein andermal mehr vom anderen etwas in sich tragend: diese Typen sind die Mutter und die Dirne.

Man würde diese Dichotomie mißverstehen, wenn man sie von einer populären Entgegensetzung nicht unterschiede. Man hat oft gesagt, das Weib sei sowohl Mutter als Geliebte. Den Sinn und Nutzen dieser Distinktion kann ich freilich nicht recht einsehen. Soll mit der Qualität der Geliebten das Stadium bezeichnet werden, welches der Mutterschaft notwendig vorhergeht? Dann kann es keinerlei dauernde charakterologische Eigentümlichkeit bezeichnen. Und was sagt denn der Begriff »Geliebte« über die Frau selbst aus, als daß sie geliebt wird? Fügt er ihr denn eine wesentliche oder nicht vielmehr eine ganz äußerliche Bestimmung zu? Geliebt werden mag sowohl die Mutter als die Dirne. Höchstens könnte man mit der »Geliebten« eine Gruppe von Frauen haben umschreiben wollen, die ungefähr in der Mitte zwischen den hier bezeichneten Polen sich aufhielte, eine Zwischenform von Mutter und Dirne; oder man hält es einer ausdrücklichen Feststellung für bedürftig, daß eine Mutter zum Vater ihrer Kinder in einem anderen Verhältnis stehe als zu ihren Kindern selbst, und Geliebte eben sei, insofern sie sich lieben läßt, d. h. dem Liebenden sich hingibt. Aber damit ist nichts gewonnen, weil dies beide, Mutter wie Prostituierte, gegebenenfalls in formal gleicher Weise tun können. Der Begriff der Geliebten sagt gar nichts über die Qualitäten des Wesens aus, das geliebt wird; wie natürlich, denn er soll nur das erste zeitliche Stadium im Leben einer und derselben Frau andeuten, an welches sich später als zweites die Mutterschaft schließt. Da also der Zustand der Geliebten doch nur ein akzidentelles Merkmal ihrer Person ist, wird jene Gegenüberstellung überdies ganz unlogisch, indem die Mutterschaft auch etwas Innerliches ist und nicht bloß die Tatsache anzeigt, daß eine Frau geboren hat. Worin dieses tiefere Wesen der Mutterschaft besteht, wird eben Aufgabe der jetzigen Untersuchung.

Daß Mutterschaft und Prostitution einander polar entgegengesetzt sind, ergibt sich mit großer Wahrscheinlichkeit allein schon aus der größeren Kinderzahl der guten Hausmütter, indes die Kokotte immer nur wenige Kinder hat, und die Gassendirne in der Mehrzahl der Fälle überhaupt steril ist. Es ist wohl zu beachten, daß nicht das käufliche Mädchen allein dem Dirnentypus angehört, sondern sehr viele unter den sogenannten anständigen Mädchen und verheirateten Frauen, ja selbst solche, die gar nie die Ehe brechen, nicht, weil die Gelegenheit nicht günstig genug ist, sondern weil sie selbst es nicht bis dahin kommen lassen. Man stoße sich also nicht an der Verwendung des Begriffes der Dirne, der ja erst noch zu analysieren ist, in einem viel weiteren Umfange als einem, der bloß auf feile Weiber sich erstreckt. Die Gassendirne unterscheidet sich von der angeseheneren Kokotte und der vornehmeren Hetäre bloß durch die absolute Unfähigkeit zu einer größeren Differenziertheit und durch ihren völligen Mangel an Gedächtnis, der ihr Leben zu einem Stunden- und Minutenleben, ohne den geringsten Zusammenhang von einem Tage zum andern, werden läßt. Überdies könnte der Dirnentypus auch dann zum Ausdruck kommen, wenn bloß ein Mann und ein Weib auf der Welt wären, denn er äußert sich bereits in dem spezifisch verschiedenen Verhalten zum einzelnen Manne.

Schon die Tatsache der geringeren Fruchtbarkeit würde mich der Pflicht einer Auseinandersetzung mit der allgemeinen Ansicht entheben, welche ein, notwendigerweise tief in der angebornen Natur eines Wesens gegründetes Phänomen, wie die Prostitution, ableiten will aus sozialen Mißständen, aus der Erwerbslosigkeit vieler Frauen, und daraufhin spezielle Anklagen gegen die heutige Gesellschaft erhebt, deren männliche Machthaber in ihrem ökonomischen Egoismus den unverheirateten Frauen die Möglichkeit eines rechtschaffenen Lebens so erschwerten; oder auf das Junggesellentum rekurriert, das ebenfalls angeblich nur materielle Gründe habe, und zu seiner notwendigen Ergänzung nach der Prostitution verlange. Oder soll doch angeführt werden: daß die Prostitution nicht bloß bei ärmlichen Gassendirnen zu suchen ist; daß wohlhabende Mädchen zuweilen sich aller Vorteile ihres Rufes begeben, und ein offenes Flanieren auf der Straße versteckten Liebschaften vorziehen – denn zur richtigen Prostitution gehört die Gasse –; daß viele Stellen in Geschäftsläden, in der Buchhaltung, im Post-, Telegraphen- und Telephondienste, wo immer eine rein schablonenmäßige Tätigkeit beansprucht wird, mit Vorliebe an Frauen vergeben werden, weil W viel weniger differenziert und eben darum bedürfnisloser ist als M, der Kapitalismus aber lange vor der Wissenschaft das weggehabt hat, daß man die Frauen ihrer niedrigeren Lebenshaltung wegen auch schlechter bezahlen dürfe. Übrigens findet selbst die junge Dirne, weil sie teueren Mietzins zu zahlen, eine nicht gewöhnliche Kleidung zu tragen und den Souteneur auszuhalten hat, meist nur sehr schwer ihr Auskommen. Wie tief der Hang zu ihrer Lebensweise in ihnen wurzelt, das bezeugt die häufige Erscheinung, daß Prostituierte, wenn sie geehelicht werden, wieder zu ihrem früheren Gewerbe zurückkehren. Die Prostituierten sind ferner vermöge unbekannter, aber offenbar in einer angebornen Konstitution liegender Ursachen gegen manche Infektionen oft immun, denen »rechtschaffene Frauen« meist unterliegen. Schließlich hat die Prostitution immer bestanden und ist mit den Errungenschaften der kapitalistischen Ära keineswegs relativ gewachsen, ja, sie gehörte sogar zu den religiösen Institutionen gewisser Völker des Altertums, z. B. der Phönizier.

Die. Prostitution kann also keineswegs als etwas betrachtet werden, wohin erst der Mann die Frau gedrängt hat. Oft genug wird sicherlich ein Mann die Schuld tragen, wenn ein Mädchen ihren Dienst verlassen mußte und sich brotlos fand. Daß aber in solchem Falle zu etwas gegriffen werden kann, wie es die Prostitution ist, muß in der Natur des menschlichen. Weibes selbst liegen. Was nicht ist, kann auch nicht werden. Dem echten Manne, den materiell noch öfter ein widriges Schicksal trifft, und welcher Armut intensiver empfindet als das Weib, ist gleichwohl die Prostitution fremd, und männliche Prostituierte (unter Kellnern, Friseurgehilfen etc.) sind immer vorgerückte sexuelle Zwischenformen. Demnach ist die Eignung und der Hang zum Dirnentum ebenso wie die Anlage zur Mutterschaft in einem Weibe organisch, von der Geburt an vorhanden.

Damit soll aber nicht gesagt sein, jedes Weib, das zur Dirne werde, sei mit ausschließlich innerer Notwendigkeit dazu geworden. Es stecken vielleicht in den meisten Frauen beide Möglichkeiten, sowohl die Mutter als die Dirne; nur die Jungfrau – man entschuldige; ich weiß, es ist rücksichtslos gegen die Männer – nur die Jungfrau, die gibt es nicht. Worauf es in solchen Schwebefällen ankommt, das kann nur der Mann sein, der ein Weib zur Mutter zu machen auf jeden Fall durch seine Person imstande ist; nicht erst durch den Koitus, sondern durch ein einmaliges Anblicken. Schopenhauer hat bemerkt, der Mensch müsse sein Dasein streng genommen von dem Augenblicke datieren, da sein Vater und seine Mutter sich ineinander verliebt hätten. Das ist nicht richtig. Die Geburt eines Menschen müßte, im idealen Falle, in den Augenblick verlegt werden, wo eine Frau ihn, den Vater ihres Kindes, zum ersten Male erblickt oder auch nur seine Stimme hört. Die biologische und medizinische Wissenschaft, die Züchtungslehre und die Gynäkologie verhalten sich freilich, seit über sechzig Jahren, unter dem Einflusse von Johannes Müller, Th.  Bischoff und Ch.  Darwin, der Frage des »Versehens« oder »Verschauens« gegenüber beinahe durchaus ablehnend. Es wird im weiteren eine Theorie des Versehens zu entwickeln versucht werden; hier möchte ich nur soviel bemerken, daß die Sache denn doch vielleicht nicht so steht, daß es kein Versehen geben dürfe, weil es mit der Ansicht sich nicht vertrage, daß bloß Samenzelle und Ei das neue Individuum bilden helfen; sondern es gibt ein Versehen, und die Wissenschaft soll trachten, es zu erklären, statt es als schlechterdings unmöglich in Abrede zu stellen, und zu tun, als ob sie in erfahrungswissenschaftlichen Dingen je über so viel Erfahrung verfügen könnte, um eine solche Behauptung aufstellen zu dürfen. In einer apriorischen Disziplin, wie der Mathematik, darf ich es getrost ausgeschlossen nennen, daß auf dem Planeten Jupiter 2 x 2 = 5 sei; die Biologie kennt nur Sätze von »komparativer Allgemeinheit« ( Kant). Wenn ich hier für das Versehen eintreten und in seiner Leugnung eine Beschränktheit erblicken muß, will ich doch keineswegs behauptet haben, daß alle sogenannten Mißbildungen oder auch nur ein sehr großer Teil derselben in ihm ihren Grund haben. Es kommt vorläufig nur auf die Möglichkeit einer Beeinflussung der Nachkommenschaft ohne den Koitus mit der Mutter an. Und da möchte ich zu sagen wagen Im Hinblick auf die Erörterungen des 8. Kapitels über das größere Ansehen, welches dem tieferen Blick des bedeutenden Geistes gebührt vor dem jeweiligen Stande der Wissenschaft. (S. 215): so wie sicherlich, wenn Schopenhauer und Goethe in der Farbenlehre einer Meinung sind, sie schon darum a priori gegen alle Physiker der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft recht haben dürften, ebenso wird etwas, das für Ibsen (»Frau vom Meer«) und Goethe (»Wahlverwandtschaften«) Wahrheit ist, noch nicht falsch durch das Gutachten sämtlicher medizinischer Fakultäten der Welt.

Der Mann übrigens, von dem eine so starke Wirkung auf die Frau erwartet werden könnte, daß ihr Kind auch dann ihm ähnlich würde, wenn es nicht aus seinem Samen sich entwickelt hat, dieser Mann müßte die Frau sexuell in äußerst vollkommener Weise ergänzen. Wenn demnach solche Fälle nur sehr selten sind, so liegt dies an der Unwahrscheinlichkeit eines Zusammentreffens so vollständiger Komplemente, und darf keinen Einwand gegen die prinzipielle Möglichkeit solcher Tatsachen bilden, wie sie Goethe und Ibsen dargestellt haben.

Ob aber eine Frau jenen Mann trifft, der sie durch seine bloße Gegenwart zur Mutter seines Kindes macht, das ist Zufallssache. Insofern ist für viele Mütter und Prostituierte wohl die Denkbarkeit zuzugeben, daß sich ihre Lose umgekehrt hätten gestalten können. Aber anderseits gibt es nicht nur zahllose Beispiele, in welchen auch ohne diesen Mann die Frau im Mutter-Typus verbleibt, sondern es kommen ebenso zweifellos Fälle vor, wo dieser eine Mann auftritt, und doch auch sein Erscheinen die schließliche, endgültige Wendung zur Prostitution nicht zu hindern vermag.

Es bleibt demnach nichts übrig, als zwei angeborne, entgegengesetzte Veranlagungen anzunehmen, die sich auf die verschiedenen Frauen in verschiedenem Verhältnis verteilen: die absolute Mutter und die absolute Dirne. Zwischen beiden liegt die Wirklichkeit: es gibt sicherlich kein Weib ohne alle Dirneninstinkte (viele werden das leugnen und fragen, woran denn das Dirnenhafte in vielen Frauen erkennbar sei, die nichts weniger als Kokotten zu sein scheinen; ich verweise diesbezüglich einstweilen nur auf den Grad der Bereitschaft und Willigkeit, sich von irgend welchem Fremden unzüchtig berühren und diesen an sich anstreifen zu lassen; legt man diesen Maßstab an, so wird man finden, daß es keine absolute Mutter gibt). Ebensowenig aber existiert ein Weib, das aller mütterlichen Regungen bar wäre; obgleich ich gestehen muß, außerordentliche Annäherungen an die absolute Dirne viel öfter gefunden zu haben als solche Grade von Mütterlichkeit, hinter denen alles Dirnenhafte zurücktritt.

Das Wesen der Mutterschaft besteht, wie schon die erste und oberflächlichste Analyse des Begriffes ergibt, darin, daß die Erreichung des Kindes der Hauptzweck des Lebens der Mutter ist, indessen bei der absoluten Dirne dieser Zweck für die Begattung gänzlich in Wegfall gekommen scheint. Eine eingehendere Untersuchung wird also vor allem zwei Dinge in Betracht ziehen und sehen müssen, wie sich Dirne und Mutter zu beiden verhalten: die Beziehung einer jeden zum Kinde, und ihre Beziehung zum Koitus.

Zunächst scheiden sich beide, Mutter und Dirne, durch der ersteren Verhältnis zum Kinde. Der absoluten Dirne liegt nur am Manne, der absoluten Mutter kann nur am Kinde gelegen sein. Prüfstein ist am sichersten das Verhältnis zur Tochter: nur wenn sie diese gar nie beneidet wegen größerer Jugend oder Schönheit, ihr nie die Bewunderung im geringsten mißgönnt, die sie bei den Männern findet, sondern sich vollständig mit ihr identifiziert und des Verehrers ihrer Tochter sich so freut, als wäre er ihr eigener Anbeter, nur dann ist sie Mutter zu nennen.

Die absolute Mutter, der es allein auf das Kind ankommt, wird Mutter durch jeden Mann. Man wird finden, daß Frauen, die in ihrer Kindheit eifriger als die anderen mit Puppen spielten, bereits als Mädchen Kinder sehr liebten und gern warteten, dem Manne gegenüber wenig wählerisch sind, sondern bereitwillig den ersten besten Gatten nehmen, der sie halbwegs zu versorgen imstande und ihren Eltern und Verwandten genehm ist. Wenn ein solches Mädchen aber, gleichgültig durch wen, Mutter geworden ist, so bekümmert es sich, im Idealfalle, um keinen anderen Mann mehr. Der absoluten Dirne hingegen sind, schon als Kind, Kinder ein Greuel; später benützt sie das Kind höchstens als Mittel, um durch Vortäuschung eines, auf Rührung des Mannes berechneten, Idylles zwischen Mutter und Kind diesen an sich zu locken. Sie ist das Weib, das allen Männern zu gefallen das Bedürfnis hat, und da es keine absolute Mutter gibt, wird man in jeder Frau mindestens noch die Spur dieser allgemeinen Gefallsucht entdecken können, welche nie auch nur auf einen Mann der Welt verzichtet.

Hier nimmt man übrigens eine formale Ähnlichkeit zwischen der absoluten Mutter und der absoluten Kokotte wahr. Beide sind eigentlich in bezug auf die Individualität des sexuellen Komplementes anspruchslos. Die eine nimmt jeden beliebigen Mann, der ihr zum Kinde dienlich ist, und bedarf keines weiteren Mannes, sobald sie das Kind hat: nur aus diesem Grunde ist sie »monogam« zu nennen. Die andere gibt sich jedem beliebigen Mann, der ihr zum erotischen Genusse verhilft: dieser ist für sie Selbstzweck. Hier berühren sich also die beiden Extreme, wir mögen somit hoffen, einen Durchblick auf das Wesen des Weibes überhaupt von da aus gewinnen zu können.

In der Tat muß ich die allgemeine Ansicht, welche ich lange geteilt habe, völlig verfehlt nennen, die Ansicht, daß das Weib monogam und der Mann polygam sei. Das Umgekehrte ist der Fall. Man darf sich nicht dadurch beirren lassen, daß die Frauen oft lange den Mann abwarten und, wenn möglich, wählen, der ihnen am meisten Wert zu schenken in der Lage ist – den Herrlichsten, Berühmtesten, den »Ersten unter Allen«. Dieses Bedürfnis scheidet das Weib vom Tiere, welches Wert überhaupt nicht, weder vor sich selbst, durch sich selbst (wie der Mann), noch vor einem anderen, durch einen anderen (wie das Weib) zu gewinnen trachtet. Aber nur von Dummköpfen konnte es im rühmenden Sinne hervorgehoben werden, da es doch am sichersten zeigt, wie die Frau alles Eigenwertes entbehrt. Dieses Bedürfnis nun verlangt allerdings nach Befriedigung; es liegt aber in ihm durchaus nicht der sittliche Gedanke der Monogamie. Der Mann ist in der Lage, Wert zu spenden, Wert zu übertragen an die Frau, er kann schenken, er will auch schenken; nie könnte er seinen Wert, wie das Weib, als Beschenkter finden. Die Frau sucht also zwar sich möglichst viel Wert zu verschaffen, indem sie ihre Erwählung durch jenen einen Mann betreibt, der ihr den meisten Wert geben kann; der Ehe aber liegen, beim Manne, ganz andere Motive zugrunde. Sie ist jedenfalls ursprünglich als die Vollendung der idealen Liebe, als eine Erfüllung gedacht, auch wenn es sehr fraglich ist, ob sie so viel je wirklich leisten kann. Sie ist ferner durchdrungen von dem ganz und gar männlichen Gedanken der Treue (die Kontinuität, ein intelligibles Ich, voraussetzt). Man wird zwar oft das Weib treuer nennen hören als den Mann; die Treue des Mannes ist nämlich für ihn ein Zwang, den er sich, allerdings im freien Willen und mit vollem Bewußtsein, auferlegt hat. Er wird an diese Selbstbindung oft sich nicht kehren, aber dies stets als sein Unrecht betrachten oder irgendwie fühlen. Wenn er die Ehe bricht, so hat er sein intelligibles Wesen nicht zu Worte kommen lassen. Für die Frau ist der Ehebruch ein kitzelndes Spiel, in welchem der Gedanke der Sittlichkeit gar nicht, sondern nur die Motive der Sicherheit und des Rufes mitsprechen. Es gibt kein Weib, das in Gedanken ihrem Manne nie untreu geworden wäre, ohne daß es aber darum dies auch schon sich vorwürfe. Denn das Weib geht die Ehe zitternd und voll unbewußter Begier ein und bricht sie, da es kein der Zeitlichkeit entrücktes Ich hat, so erwartungsvoll, so gedankenlos, wie es sie geschlossen hat. Jenes Motiv, das einem Vertrage Treue wahren heißt, kann nur beim Manne sich finden; für die bindende Kraft eines gegebenen Wortes fehlt der Frau das Verständnis. Was man als Beispiele weiblicher Treue anführt, beweist hiegegen wenig. Sie ist entweder die lange Nachwirkung eines intensiven Verhältnisses sexueller Folgsamkeit ( Penelope) oder dieses Hörigkeitsverhältnis selbst, hündisch, nachlaufend, voll instinktiver zäher Anhänglichkeit, vergleichbar der körperlichen Nähe als Bedingung alles weiblichen Mitleidens ( Das Käthchen von Heilbronn).

Die Ein-Ehe hat also der Mann geschaffen. Sie hat ihren Ursprung im Gedanken der männlichen Individualität, die im Wandel der Zeiten unverändert fortdauert; und demnach zu ihrer vollen Ergänzung stets nur eines und desselben Wesens bedürfen kann. Insoweit liegt in dem Plane der Ein-Ehe unleugbar etwas Höheres und findet die Aufnahme derselben unter die Sakramente der katholischen Kirche eine gewisse Rechtfertigung. Dennoch soll hiemit in der Frage »Ehe oder freie Liebe« nicht Partei ergriffen sein. Auf dem Boden irgend welcher Abweichungen vom strengsten Sittengesetz – und eine solche Abweichung liegt in jeder empirischen Ehe – sind völlig befriedigende Problemlösungen nie mehr möglich: zugleich mit der Ehe ist der Ehe bruch auf die Welt gekommen.

Trotzdem kann die Ehe nur vom Manne eingesetzt sein. Es gibt kein Rechtsinstitut weiblichen Ursprungs, alles Recht rührt vom Manne, und nur viele Sitte vom Weibe her (schon darum wäre es ganz verfehlt, das Recht aus der Sitte, oder umgekehrt die Sitte aus dem Recht hervorgehen zu lassen. Beide sind ganz heterogene Dinge). Ordnung in wirre sexuelle Verhältnisse zu bringen, dazu kann, wie nach Ordnung, nach Regel, nach Gesetz überhaupt (im praktischen wie theoretischen), nur der Mann – donna è mobile – das Bedürfnis und die Kraft besessen haben. Und es scheint ja wirklich für viele Völker eine Zeit gegeben zu haben, da die Frauen auf die soziale Gestaltung großen Einfluß nehmen durften; aber damals gab es nichts weniger als Ehe: die Zeit des Matriarchats ist die Zeit der Vielmännerei. –

Das ungleiche Verhältnis der Mutter und der Dirne zum Kinde ist reich an weiteren Aufschlüssen. Ein Weib, das vorwiegend Dirne ist, wird auch in seinem Sohne zunächst dessen Mannheit wahrnehmen und stets in einem sexuellen Verhältnis zu ihm stehen. Da aber kein Weib ganz mütterlich ist, läßt es sich nicht verkennen, daß ein letzter Rest sexueller Wirkung von jedem Sohne auf seine Mutter ausgeht. Darum bezeichnete ich früher das Verhältnis zur Tochter als den zuverlässigsten Maßstab der Mutterliebe. Sicherlich steht anderseits auch jeder Sohn zu seiner Mutter in einer, wenn auch vor den Blicken beider noch so verschleierten, sexuellen Beziehung. In der ersten Zeit der Pubertät kommt dies bei den meisten Männern, bei manchen selbst noch später hin und wieder, aus seiner Zurückdrängung im wachen Bewußtsein, durch sexuelle Phantasien während des Schlafes, deren Objekt die Mutter bildet, zum Vorschein (»Ödipus-Traum«). Daß aber auch im eigentlichsten Verhältnis der echten Mutter zum Kinde noch ein tiefes, sexuelles Verschmolzenheitselement steckt, darauf scheinen die Wollustgefühle hinzudeuten, welche die Frau bei der Laktation so unzweifelhaft empfindet, wie die anatomische Tatsache feststeht, daß sich unter der weiblichen Brustwarze erektiles Gewebe befindet und von den Physiologen ermittelt ist, daß durch Reizung von diesem Punkte aus Zusammenziehungen der Gebärmuttermuskulatur ausgelöst werden können. Sowohl die Passivität, welche für das Weib aus dem aktiven Saugen des Kindes resultiert Die kindliche Rücksichtslosigkeit in der Bewegung, das Hinwollen nach allem, wonach ein augenblickliches Gelüste drängt, das eigensinnigblinde Verlangen und Ergreifen bringt für das Weib genug von jener Passivität mit sich, die es im Sexuellen (nach dem engeren Begriffe) überall kundtut., als auch der Zustand inniger körperlicher Berührung während der Spende der Muttermilch stellen eine sehr vollkommene Analogie zum Verhalten des Weibes im Koitus her; sie lassen es begreiflich erscheinen, daß die monatlichen Blutungen auch während der Laktation pausieren, und geben der unklaren, aber tiefen Eifersucht des Mannes schon auf den Säugling ein gewisses Recht. Das Nähren des Kindes ist aber eine durchaus mütterliche Beschäftigung; je mehr eine Frau Dirne ist, desto weniger wird sie ihr Kind selbst stillen wollen, desto schlechter wird sie es können. Es läßt sich also nicht leugnen, daß das Verhältnis Mutter–Kind an sich bereits ein dem Verhältnis Weib–Mann verwandtes ist.

Die Mütterlichkeit ist ferner gleich allgemein wie die Sexualität, und den verschiedenen Wesen gegenüber so abgestuft wie diese. Wenn eine Frau mütterlich ist, muß ihre Mütterlichkeit nicht nur dem leiblichen Kinde gegenüber sich offenbaren, sondern auch schon vorher und jedem Menschen gegenüber zum Ausdruck kommen; wenngleich das Interesse für das eigene Kind später alles andere absorbiert und die Mutter im Falle eines Konfliktes durchaus engherzig, blind und ungerecht macht. Am interessantesten ist hier das Verhältnis des mütterlichen Mädchens zum Geliebten. Mütterliche Frauen nämlich sind schon als Mädchen dem Manne gegenüber, den sie lieben, selbst gegen jenen Mann, der später Vater ihres Kindes wird, Mütter; er ist selbst schon in gewissem Sinne ihr Kind. In diesem Mutter und liebender Frau Gemeinsamen Das die größten Dichter erkannt haben. Man denke an die Identifikation der Aase und Solveig am Schlusse von Ibsens »Peer Gynt« und an die Verknüpfung der Herzeleide mit der Kundry in der Verführung des Wagnerschen Parsifal. offenbart sich uns das tiefste Wesen dieses Weibestypus: es ist der fortlaufende Wurzelstock der Gattung, den die Mütter bilden, das nie endende, mit dem Boden verwachsene Rhizom, von dem sich der einzelne Mann als Individuum abhebt und dem gegenüber er seiner Vergänglichkeit inne wird. Dieser Gedanke ist es. mehr oder weniger bewußt, welcher den Mann selbst das mütterliche Einzelwesen, auch schon als Mädchen, in einer gewissen Ewigkeit erblicken läßt »Ewig war ich, ewig in süß sehnender Wonne, doch ewig zu Deinem Heil« ( Brünnhilde zu Siegfried)., der das schwangere Weib zu einer großen Idee macht ( Zola). Die ungeheure Sicherheit der Gattung, aber freilich sonst nichts, liegt in dem Schweigen dieser Geschöpfe, vor dem sich der Mann für Augenblicke sogar klein fühlen kann. Ein gewisser Friede, eine große Ruhe mag in solchen Minuten über ihn kommen, ein Schweigen aller höheren und tieferen Sehnsucht, und er mag so für Momente wirklich wähnen, den tiefsten Zusammenhang mit der Welt durch das Weib gefunden zu haben. Wird er doch beim geliebten Weib dann ebenfalls zum Kinde ( Siegfried bei Brünnhilde, dritter Akt); zum Kinde, das die Mutter lächelnd betrachtet, für das sie unendlich viel weiß, dem sie Pflege angedeihen läßt, das sie zähmt und im Zaum hält. Aber nur auf Sekunden (Siegfried reißt sich von Brünnhilde). Denn was den Mann ausmacht, ist ja nur, was ihn von der Gattung loslöst, indem es ihn über sie erhebt. Darum ist die Vaterschaft durchaus nicht die Befriedigung seines tiefsten Gemütsbedürfnisses, darum ist ihm der Gedanke, in der Gattung auf-, in ihr unterzugehen, entsetzlich; und das fürchterlichste Kapitel in dem trostärmsten unter den großen Büchern der menschlichen Literatur, in der »Welt als Wille und Vorstellung«, das »Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich«, wo diese Unendlichkeit des Gattungswillens als die einzig wirkliche Fortdauer hingestellt ist.

Die Sicherheit der Gattung ist es, welche die Mutter mutig und unerschrocken macht im Gegensatz zur stets feigen und furchtsamen Prostituierten. Es ist nicht der Mut der Individualität, der moralische Mut, der aus der Werthaltung der Wahrheit und der Unbeugsamkeit des innerlich Freien folgt, sondern der Lebenswille der Gattung, welche durch die Einzelperson der Mutter das Kind und selbst den Mann schützt. Wie vom Begriffspaare Mut und Feigheit, so ist auch vom Gegensatze Hoffnung – Furcht die Hoffnung der Mutter, die Furcht der Dirne zugefallen. Die absolute Mutter ist sozusagen stets und in jeder Beziehung »in der Hoffnung«; da sie in der Gattung unsterblich ist, kennt sie auch keine Furcht vor dem Tode, vor dem die Dirne eine entsetzliche Angst hat, ohne im geringsten ein individuelles Unsterblichkeitsbedürfnis zu hegen – ein Beweis mehr, wie falsch es ist, das Begehren nach persönlicher Fortdauer bloß auf die Furcht vor dem körperlichen Tode und das Wissen um diesen zurückzuführen.

Die Mutter fühlt sich dem Manne stets überlegen, sie weiß sich als seinen Anker; indes sie selbst in der geschlossenen Kette der Generationen wohl gesichert, gleichsam den Hafen vorstellt, aus dem jedes Schiff neu ausläuft, steuert der Mann weit draußen allein auf hoher See. Die Mutter ist, im höchsten Alter noch, immer bereit, das Kind zu empfangen und zu bergen; bereits in der Konzeption des Kindes lag psychisch, wie sich zeigen wird, für die Mutter dieses Moment, in der Schwangerschaft tritt das andere des Schutzes und der Nahrung ganz deutlich zutage. Dieses Überlegenheitsverhältnis kommt auch vor dem Geliebten zum Vorschein: die Mutter hat Verständnis für das Naive und Kindliche, für die Einfalt im Manne, die Hetäre für seine Feinheiten und sein Raffinement. Die Mutter hat das Bedürfnis, ihr Kind zu lehren, ihm alles zu geben, sei dieses Kind auch der Geliebte; die Hetäre brennt darauf, daß ihr der Mann imponiere, sie will ihm selbst erst alles verdanken. Die Mutter als Vertreterin des Genus, das sich in jedem seiner Angehörigen auswirkt, ist freundlich gegen alle Mitglieder der Gattung ( selbst jede Tochter ist in diesem Sinne noch die Mutter ihres Vaters); erst wenn die Interessen der engeren Kinder auf dem Spiele stehen, wird sie, aber dann auch in einem außerordentlichen Grade, exklusiv; die Dirne ist nie so liebreich und nie so engherzig, wie die Mutter es sein kann.

Die Mutter steht ganz unter dem Gattungszweck; die Prostituierte steht außerhalb desselben. Ja, die Gattung hat eigentlich nur diesen einen Anwalt, diese eine Priesterin, die Mutter; der Wille des Genus kommt nur in ihr rein zum Ausdruck, während bereits die Erscheinung der Dirne den Beweis dafür liefert, daß Schopenhauers Lehre, es handle sich in aller Sexualität nur um die Zusammensetzung der künftigen Generation, unmöglich allgemein zutreffen kann. Daß es der Mutter nur auf das Leben ihrer Gattung ankommt, wird auch daraus ersichtlich, daß mütterliche Frauen es sind, die gegen Tiere am meisten Härte beweisen. Man muß beobachtet haben, mit welcher unerschütterlichen Ruhe, wie durchdrungen von der Verdienstlichkeit ihres Amtes die gute Hausfrau und Mutter ein Huhn nach dem anderen schlachtet. Denn die Kehrseite der Mutterschaft ist die Stiefmutterschaft; jede Mutter ihrer Kinder ist Stiefmutter aller anderen Geschöpfe.

Noch auffallender als diese Bestätigung fällt für den Zusammenhang der Mutter mit der Erhaltung der Gattung ihr eigentümlich inniges Verhältnis zu allem ins Gewicht, was irgendwie zur Nahrung dient. Sie kann es nicht ertragen, daß irgend etwas, das hätte gegessen werden können, sei es auch ein noch so geringfügiger Rest, zugrunde gehe. Ganz anders die Dirne, die nach Willkür, ohne rechten Grund jetzt große Quantitäten an Vorräten zum Essen und Trinken beschafft, um sie dann haufenweise »stehen« zu lassen. Die Mutter ist überhaupt geizig und kleinlich, die Prostituierte verschwenderisch, launisch. Denn die Erhaltung der Gattung ist der Zweck, für den die Mutter lebt; so sorgt sie sich eifrig darum, daß die von ihr Bemutterten sich satt essen, und durch nichts ist sie so zu erfreuen, wie durch einen gesegneten Appetit. Damit hängt ihr Verhältnis zum Brote, zu allem, was Wirtschaft heißt, zusammen. Ceres ist eine gute Mutter, eine Tatsache, die in ihrem griechischen Namen Demeter deutlich zum Ausdruck kommt. So pflegt die Mutter die Physis, nicht aber die Psyche des Kindes. Man vergleiche in Ibsens »Peer Gynt«, 2. Akt, das Gespräch zwischen dem Vater der Solveig und Aase (einer der bestgezeichneten »Mütter« der schönen Literatur) auf der Suche nach ihrem Sohn:
Aase: »... Wir finden ihn!«
Der Mann: »Retten die Seel'!«
Aase: »Und den Leib!«
Das Verhältnis zwischen Mutter und Kind bleibt von seiten der Mutter immer ein körperliches: vom Küssen und Herzen des Kleinen bis zu der umgebenden und einwickelnden Sorge für den Erwachsenen. Auch das aller Vernunft bare Entzücken über jedwede Lebensäußerung des kleinen Säuglings ist nicht anders zu verstehen, als aus dieser einzigen Aufgabe der Erhaltung und Hut des irdischen Daseins.

Daraus ergibt sich aber auch, warum die Mutterliebe nicht wahrhaft sittlich hochgeschätzt werden kann. Es frage sich jeder aufrichtig, ob er glaubt, daß ihn seine Mutter nicht ebenso lieben würde, wenn er ganz anders wäre, als er ist, ob ihre Neigung geringer würde, wenn er nicht er, sondern ein ganz anderer Mensch wäre! Hier liegt der springende Punkt, und hier sollen diejenigen Rede stehen, welche von der moralischen Hochachtung des Weibes um der Mutterliebe willen nicht lassen wollen. Die Individualität des Kindes ist der Mutterliebe ganz gleichgültig, ihr genügt die bloße Tatsache der Kindschaft: und dies ist eben das Unsittliche an ihr. In jeder Liebe von Mann und Weib, auch in jeder Liebe innerhalb des gleichen Geschlechtes, kommt es sonst immer auf ein bestimmtes Wesen mit ganz besonderen körperlichen und psychischen Eigenschaften an; nur die Mutterliebe erstreckt sich wahllos auf alles, was die Mutter je in ihrem Schoß getragen hat. Es ist ein grausames Geständnis, das man sich macht, grausam gegen Mutter und Kind, das gerade hierin sich offenbart, wie vollkommen unethisch die Mutterliebe eigentlich ist, jene Liebe, die ganz gleich fortwährt, ob der Sohn ein Heiliger oder ein Verbrecher, ein König oder ein Bettler werde, ein Engel bleibe oder zum Scheusal entarte. Nicht minder gemein freilich ist der Anspruch, den so oft die Kinder auf die Liebe ihrer Mutter zu haben glauben, bloß weil sie deren Kinder sind (besonders gilt dies von den Töchtern; indessen sind auch die Söhne in diesem Punkte meist fahrlässig). Die Mutterliebe ist darum unmoralisch, weil sie kein Verhältnis zum fremden Ich ist, sondern ein Verwachsensein von Anfang an darstellt; sie ist, wie alle Unsittlichkeit gegen andere, eine Grenzüberschreitung. Es gibt ein ethisches Verhältnis nur von Individualität zu Individualität. Die Mutterliebe schaltet die Individualität aus, indem sie wahllos und zudringlich ist. Das Verhältnis der Mutter zum Kinde ist in alle Ewigkeit ein System von reflexartigen Verbindungen zwischen diesem und jener. Schreit oder weint das Kleine, während die Mutter im Nebenzimmer sitzt, plötzlich auf, so wird die Mutter wie gestochen emporfahren und zu ihm hineineilen (eine gute Gelegenheit, um sofort zu erkennen, was eine Frau mehr ist, Mutter oder Dirne); und auch später teilt sich jeder Wunsch, jede Klage des Erwachsenen der Mutter augenblicklich mit, wird auf sie gleichsam fortgeleitet, pflanzt sich auf sie über, und wird unbesehen, unaufgehalten ihr Wunsch, ihre Klage. Eine nie unterbrochene Leitung zwischen der Mutter und allem, was je durch eine Nabelschnur mit ihr verbunden war: das ist das Wesen der Mutterschaft, und ich kann darum in die allgemeine Bewunderung der Mutterliebe nicht einstimmen, sondern muß gerade das an ihr verwerflich finden, was an ihr so oft gepriesen wird: ihre Wahllosigkeit. Ich glaube übrigens, daß von vielen hervorragenderen Denkern und Künstlern dies wohl erkannt und nur verschwiegen worden ist; die früher so verbreitete maßlose Überschätzung Rafaels ist gewichen, und sonst stehen die Sänger der Mutterliebe eben doch nicht höher als Fischart oder als Richepin. Die Mutterliebe ist instinktiv und triebhaft: auch die Tiere kennen sie, nicht weniger als die Menschen. Damit allein wäre aber schon bewiesen, daß diese Art der Liebe keine echte Liebe, daß dieser Altruismus keine wahre Sittlichkeit sein kann; denn alle Moral stammt von jenem intelligiblen Charakter, dessen die gänzlich unfreien tierischen Geschöpfe entraten. Dem ethischen Imperative kann nur von einem vernünftigen Wesen gehorcht werden; es gibt keine triebhafte, sondern nur bewußte Sittlichkeit.

Ihre Stellung außerhalb des Gattungszweckes, der Umstand, daß sie nicht bloß als Aufenthaltsort und Behälter, gleichsam nur zum ewigen Durchpassieren für neue Wesen dient und sich nicht darin verzehrt, diesen Nahrung zu geben, stellt die Hetäre in gewisser Beziehung über die Mutter; soweit dort von ethisch höherem Standort überhaupt die Rede sein kann, wo es sich um zwei Weiber handelt. Die Mutter, die ganz in Pflege und Kleidung von Mann und Kind, in Besorgung oder Aufsicht von Küche und Haus, Garten und Feld aufgeht, steht fast immer intellektuell sehr tief. Die geistig höchstentwickelten Frauen, alles, was dem Manne irgendwie Muse wird, gehört in die Kategorie der Prostituierten: zu diesem, dem Aspasien-Typus, sind die Frauen der Romantik zu rechnen, vor allem die hervorragendste unter ihnen, Karoline Michaelis -Böhmer-Forster-Schlegel-Schelling.

Es hängt damit zusammen, daß nur solche Männer sexuell von der Mutter sich angezogen fühlen, die kein Bedürfnis nach geistiger Produktivität haben. Wessen Vaterschaft sich auf leibliche Kinder beschränkt, von dem ist es ja auch zu erwarten, daß er die fruchtbare Frau, die Mutter, erwählen wird vor der anderen. Bedeutende Menschen haben stets nur Prostituierte geliebt Ich rede natürlich, die ganze Zeit über, nicht bloß vom käuflichen Gassenmädchen.; ihre Wahl fällt auf das sterile Weib, wie sie selbst, wenn überhaupt eine Nachkommenschaft, so stets eine lebensunfähige, bald aussterbende hervorbringen – was vielleicht einen tiefen ethischen Grund hat. Die irdische Vaterschaft nämlich ist ebenso geringwertig wie die Mutterschaft; sie ist unsittlich, wie sich später zeigen wird (Kapitel 14); und sie ist unlogisch, denn sie stellt in jeder Beziehung eine Illusion vor: wie weit er Vater seines Kindes ist, dessen ist kein Mensch je gewiß. Und auch ihre Dauer ist am Ende immer kurz und vergänglich: jedes Geschlecht und jede Rasse der Menschheit ist schließlich zugrunde gegangen und erloschen.

Die so verbreitete, so ausschließliche und geradezu ehrfürchtige Wertschätzung der mütterlichen Frau, die man dann gern noch für den alleinigen und einzig echten Typus des Weibes auszugeben pflegt, ist nach alledem völlig unberechtigt; obwohl von fast allen Männern zähe an ihr festgehalten, ja gewöhnlich noch behauptet wird, daß jede Frau erst als Mutter ihre Vollendung finde. Ich gestehe, daß mir die Prostituierte, nicht als Person, sondern als Phänomen weit mehr imponiert.

Die allgemeine Höherstellung der Mutter hat verschiedene Gründe. Vor allem scheint sie, da ihr am Manne an sich nichts oder nur so viel liegt, als er Kind ist, eher geeignet, dem Virginitätsideal zu entsprechen, das, wie sich zeigen wird, stets erst der Mann aus einem gewissen Bedürfnis an die Frau heranbringt; welcher Keuschheit ursprünglich fremd ist, der nach Kindern begehrenden Mutter ganz ebenso wie der männersüchtigen Dirne.

Jenen Schein großer Sittlichkeit vergilt ihr der Mann durch die, an und für sich ganz unbegründete, moralische und soziale Erhebung über die Prostituierte. Diese ist das Weib, das sich den Wertungen des Mannes und dem von ihm bei der Frau gesuchten Keuschheitsideale nie gefügt, sondern stets, in verborgenem Sträuben als Weltdame, in passivem leisen Widerstande als Halbweltlerin, in offener Demonstration als Gassendirne, widersetzt hat. Hieraus allein erklärt sich die Sonderposition, die Stellung außer aller sozialen Achtung, ja nahezu außer Recht und Gesetz, welche die Prostituierte heute fast überall einnimmt. Die Mutter hatte es leicht, sich dem sittlichen Willen des Mannes zu unterwerfen, da es ihr nur auf das Kind, auf das Leben der Gattung ankam.

Ganz anders die Dirne. Sie lebt wenigstens ihr eigenes Leben ganz und gar Hiemit dürfte es zusammenhängen, daß die Prostituierte körperlich, was manchem seltsam scheinen wird, mehr als die Mutter auf Reinheit achtet., wenn sie auch dafür – im extremen Falle – mit dem Ausschluß aus der Gesellschaft bestraft wird. Sie ist zwar nicht mutig wie die Mutter, vielmehr feige durch und durch, aber sie besitzt auch das stete Korrelat der Feigheit, die Frechheit, und so hat sie wenigstens die Unverschämtheit ihrer Schamlosigkeit. Von Natur zur Vielmännerei veranlagt, und immer mehr Männer anziehend als bloß den einen Gründer einer Familie, ihren Trieben Lauf lassend und sie wie im Trotze befriedigend, fühlt sie sich als Herrscherin, und die tiefste Selbstverständlichkeit ist ihr, daß sie Macht habe. Die Mutter ist leicht zu kränken oder zu empören, die Prostituierte kann niemand verletzen, niemand beleidigen; denn die Mutter hat als Hüterin des Genus, der Familie eine gewisse Ehre, die Prostituierte hat auf alles soziale Ansehen verzichtet, und das ist ihr Stolz, darum wirft sie den Nacken zurück. Den Gedanken aber, daß sie keine Macht habe, vermöchte sie nicht zu fassen (»La maîtresse«). Sie erwartet es und kann es gar nicht anders glauben, als daß alle Menschen sich mit ihr befassen, nur an sie denken, für sie leben. Und tatsächlich ist sie es auch – sie, das Weib als Dame –, welche die meiste Macht unter den Menschen besitzt, den größten, ja den alleinigen Einfluß ausübt in allem Menschenleben, das nicht durch männliche Verbände (vom Turnverein bis zum Staat) geregelt ist.

Sie bildet hier das Analogon zum großen Eroberer auf politischem Gebiet. Wie dieser, wie Alexander und Napoleon, wird die ganz große, ganz bezaubernde Dirne vielleicht nur alle tausend Jahre einmal geboren, aber dann feiert sie auch, wie dieser, ihren Siegeszug durch die ganze Welt.

Jeder solche Mann steht immer in einer gewissen Verwandtschaft zur Prostituierten (jeder Politiker ist irgendwie Volkstribun, und im Tribunat steckt ein Element der Prostitution); wie er ist die Prostituierte, im Gefühle ihrer Macht, vor dem Manne nie im geringsten verlegen, während es jeder Mann gerade ihr und ihm gegenüber immer ist. Wie der große Tribun glaubt sie jeden Menschen, mit dem sie spricht, zu beglücken – man beobachte ein solches Weib, wenn es einen Polizeimann um eine Auskunft bittet, wenn es in ein Geschäft tritt; gleichgültig ob Männer oder Frauen darin angestellt sind, gleichgültig wie klein der Einkauf ist, den sie macht: immer glaubt sie Gaben auszuteilen nach allen Seiten hin. Man wird in jedem gebornen Politiker dieselben Elemente entdecken. Und die Menschen, alle Menschen haben beiden gegenüber – man denke, sogar der selbstbewußte Goethe in seinem Verhalten gegen Napoleon zu Erfurt – tatsächlich und unwiderstehlich das Gefühl, beschenkt worden zu sein ( Pandora-Mythus; Geburt der Venus: die aus dem Meere aufsteigt und bereits darbietend um sich blickt).

Hiemit bin ich, wie ich im fünften Kapitel S. 171 f. versprochen habe, nochmals zu den »Männern der Tat« auf einen Augenblick zurückgekehrt. Selbst ein so tiefer Mensch wie Carlyle hat sie hochgewertet, ja »the hero as king« zuletzt, zuhöchst unter allen Heroen gesetzt. Es wurde schon an jener Stelle gezeigt, warum dies nicht zutreffen kann. Ich darf jetzt weiter darauf hinweisen, wie alle großen Politiker Lüge und Betrug zu brauchen nicht scheuen, auch die größten nicht, Caesar, Cromwell, Napoleon; wie Alexander der Große sogar zum Mörder wurde und sich seine Schuld von einem Sophisten nachträglich bereitwillig ausreden ließ. Verlogenheit aber ist unvereinbar mit Genialität; Napoleon hat auf St. Helena von Lüge gesättigte, von Sentimentalität triefende Memoiren geschrieben, und sein letztes Wort war noch die altruistische Pose, daß er stets nur Frankreich geliebt habe. Napoleon, die größte Erscheinung unter allen, zeigt auch am deutlichsten, daß die »großen Willensmenschen« Verbrecher, und demnach keine Genies sind. Ihn kann man nicht anders verstehen als aus der ungeheuren Intensität, mit der er sich selbst floh: nur so ist alle Eroberung, im großen wie im kleinen, zu erklären. Über sich selbst mochte Napoleon nie nachdenken, nicht eine Stunde durfte er ohne große äußere Dinge bleiben, die ihn ganz ausfüllen sollten: darum mußte er die Welt erobern. Da er große Anlagen hatte, größere als jeder Imperator vor ihm, brauchte er mehr, um alle Gegenstimmen in sich zum Schweigen zu bringen. Übertäubung seines besseren Selbst, das war das gewaltige Motiv seines Ehrgeizes. Der höhere, der bedeutende Mensch mag zwar das gemeine Bedürfnis nach Bewunderung oder nach dem Ruhme teilen, aber nicht den Ehrgeiz als das Bestreben, alle Dinge in der Welt mit sich als empirischer Person zu verknüpfen, sie von sich abhängig zu machen, um auf den eigenen Namen alle Dinge der Welt zu einer unendlichen Pyramide zu häufen. Darum verläßt aber auch allmählich den Imperator der sichere Sinn für das Wirkliche (darum wird er epileptisch): weil er dem Objekte alle Freiheit nimmt Vgl. Kap. 9, S. 239 f. und sich in eine verbrecherische Verbindung mit den Dingen setzt, weil sie ihm nur Mittel und Sockel und Steigbügel werden für seine kleine Person und ihre egoistischen, habsüchtigen Zwecke. Der große Mensch hat Grenzen, denn er ist die Monade der Monaden, und – dies ist eben jene letzte Tatsache – gleichzeitig der bewußte Mikrokosmus, pantogen, er hat die ganze Welt in sich, er sieht, im vollständigsten Falle, bei der ersten Erfahrung, die er macht, klar ihre Zusammenhänge im All, und er bedarf darum zwar der Erlebnisse, aber keiner Induktion; der große Tribun und die große Hetäre sind die absolut grenzenlosen Menschen, welche die ganze Welt zur Dekoration und Erhöhung ihres empirischen Ich gebrauchen. Darum sind beide jeder Liebe, Neigung und Freundschaft unfähig, lieblos, liebeleer.

Man denke an das tiefe Märchen von dem König, der die Sterne erobern wollte! Es enthüllt strahlend und grell die Idee des Imperators. Der wahre Genius gibt sich selbst seine Ehre, und am allerwenigsten setzt er sich in jenes Wechselverhältnis gegenseitiger Abhängigkeit zum Pöbel, wie dies jeder Tribun tut. Denn im großen Politiker steckt nicht nur ein Spekulant und Milliardär, sondern auch ein Bänkelsänger; er ist nicht nur großer Schachspieler, sondern auch großer Schauspieler; er ist nicht nur ein Despot, sondern auch ein Gunstbuhler; er prostituiert nicht nur, er ist auch eine große Prostituierte. Es gibt keinen Politiker, keinen Feldherrn, der nicht »hinabstiege«. Seine Hinabstiege sind ja berühmt, sie sind seine Sexualakte! Auch zum richtigen Tribun gehört die Gasse. Das Ergänzungsverhältnis zum Pöbel ist geradezu konstitutiv für den Politiker. Er kann überhaupt nur Pöbel brauchen; mit den anderen, den Individualitäten, räumt er auf, wenn er unklug ist, oder heuchelt sie zu schätzen, um sie unschädlich zu machen, wenn er so gerieben ist wie Napoleon. Seine Abhängigkeit vom Pöbel hat dieser denn auch am feinsten gespürt. Ein Politiker kann durchaus nicht alles Beliebige unternehmen, auch wenn er ein Napoleon ist, und selbst wenn er, was er aber als Napoleon nicht wird, Ideale realisieren wollte: er würde gar bald von dem Pöbel, seinem wahren Herrn, eines Besseren belehrt werden. Alle »Willensersparnis« hat nur für den formalen Akt der Initiative Geltung; frei ist das Wollen des Machtgierigen nicht.

Auf diese Gegenseitigkeit, diese Relation zu den Massen fühlt sich jeder Imperator hingewiesen, darum sind alle ausnahmslos ganz instinktiv für die Konstituante, für die Volks- oder Heeresversammlung, für das allgemeinste Wahlrecht ( Bismarck 1866). Nicht Marc Aurel und Diokletian, sondern Kleon, Antonius, Themistokles, Mirabeau, das sind die Gestalten, in denen der echte Politiker erscheint. Ambitio heißt eigentlich Herumgehen. Das tut der Tribun wie die Prostituierte. Napoleon hat in Paris nach Emerson »inkognito in den Straßen auf die Hurras und Lobsprüche des Pöbels gelauscht«. Von Wallenstein heißt es bei Schiller ganz ähnlich.

Von jeher hat das Phänomen des großen Mannes der Tat, als ein ganz Einzigartiges, vor allem die Künstler (aber auch philosophische Schriftsteller) mächtig angezogen. Die überraschende Konformität, welche hier entrollt wurde, wird es vielleicht erleichtern, der Erscheinung begrifflich, durch die Analyse, näherzukommen. Antonius (Caesar) und Kleopatra – die beiden sind einander gar nicht unähnlich. Den meisten Menschen wird die Parallele wohl zuerst ganz fiktiv erscheinen, und doch däucht mich das Bestehen einer engen Analogie über allen Zweifel erhaben, so heterogen beide den ersten Anblick berühren mögen. Wie der »große Mann der Tat« auf ein Innenleben verzichtet, um sich gänzlich in der Welt, hier paßt das Wort, auszuleben, und zugrunde zu gehen wie alles Ausgelebte, statt zu bestehen wie alles Eingelebte, wie er seinen ganzen Wert mit kolossaler Wucht hinter sich wirft und sich ihn weghält, so schmeißt die große Prostituierte der Gesellschaft den Wert ins Antlitz, den sie als Mutter von ihr beziehen könnte, nicht freilich um in sich zu gehen und ein beschauliches Leben zu führen, sondern um ihrem sinnlichen Triebe nun erst vollen Lauf zu lassen. Beide, die große Prostituierte und der große Tribun, sind wie Brandfackeln, die entzündet weithin leuchten, Leichen über Leichen auf ihrem Wege lassen und untergehen, wie Meteore, für menschliche Weisheit sinnlos, zwecklos, ohne ein Bleibendes zu hinterlassen, ohne alle Ewigkeit – indessen die Mutter und der Genius in der Stille die Zukunft wirken. Beide, Dirne und Tribun, werden darum als »Gottesgeißeln«, als antimoralische Phänomene empfunden.

Hingegen erscheint es neuerdings gerechtfertigt, daß seinerzeit vom Begriffe des Genies der »große Willensmensch« ausgeschlossen wurde. Der Genius, und zwar nicht etwa bloß der philosophische, sondern auch der künstlerische, ist immer ausgezeichnet durch das Vorwalten der begrifflichen oder darstellenden Erkenntnis über alles Praktische.

Das Motiv, welches die Dirne treibt, bedarf indessen noch einer Untersuchung. Das Wesen der Mutter war relativ leicht zu erkennen: sie ist in eminenter Weise das Werkzeug zur Erhaltung der Gattung. Viel rätselhafter und schwieriger ist die Erklärung der Prostitution. Für jeden, der über diese lange nachgedacht hat, sind sicherlich Augenblicke gekommen, wo er an ihrer Aufhellung völlig verzweifelt hat. Worauf es hier aber gewiß vor allem ankommt, ist das verschiedene Verhältnis beider, der Mutter und der Dirne, zum Koitus. Die Gefahr ist hoffentlich gering, daß jemand die Beschäftigung hiemit, wie überhaupt mit dem Thema der Prostitution, für des Philosophen unwürdig erachten könnte. Es ist der Geist der Behandlung, der vielen Gegenständen Würde erteilen muß. Dem Bildhauer, dem Maler ist es oft genug Problem geworden, was die Leda, was die Danae empfindet; und die Künstler, welche die Dirne zum Vorwurf gewählt haben – mir sind überdies Zolas »Confession de Claude«, Hortense, Renée und Nana, Tolstois »Auferstehung«, Ibsens Hedda Gabler und Rita, schließlich die Sonja, eines der größten Geister, des Dostojewskij bekannt geworden –, wollten nie wirklich singulare Fälle, sondern stets Allgemeines darstellen. Vom Allgemeinen aber muß auch eine Theorie möglich sein.

Für die Mutter ist der Koitus Mittel zum Zweck; die Dirne nimmt insofern eine Sonderstellung zu ihm ein, als ihr der Koitus Selbstzweck wird. Daß im Naturganzen dem Koitus noch eine andere Rolle zugefallen ist außer der Fortpflanzung, hierauf sehen wir uns allerdings auch dadurch hingewiesen, daß bei vielen Lebewesen die letztere ohne den ersteren erreicht wird ( Parthenogenesis). Aber anderseits sehen wir bei den Tieren noch überall die Begattung dem Ziele der Hervorbringung einer Nachkommenschaft dienen, und nirgends ist uns der Gedanke nahegelegt, daß die Kopulation ausschließlich der Lust wegen gesucht werde, indem sie vielmehr nur zu gewissen Zeiten, den Brunstperioden, vor sich geht; so daß man die Lust geradezu als das Mittel betrachtet hat, welches die Natur anwende, um ihren Zweck der Erhaltung der Gattung zu erreichen.

Wenn der Koitus der Dirne Selbstzweck ist, so heißt dies nicht, daß für die Mutter der Koitus nichts bedeute. Es gibt zwar eine Kategorie »sexuell-anästhetischer« Frauen, die man als »frigid« bezeichnet, obwohl solche Fälle viel seltener glaubwürdig sind, als man denkt, indem sicherlich an der ganzen Kälte oft nur der Mann die Schuld trägt, der durch seine Person nicht vermochte, das Gegenteil herbeizuführen; die übrigen Fälle aber sind nicht dem Muttertypus zuzurechnen. Frigidität kann sowohl bei der Mutter als bei der Dirne auftreten; sie wird später unter den hysterischen Phänomenen eine Erklärung finden. Ebensowenig darf man die Prostituierte für sexuell unempfindlich halten, weil die Straßendirnen (d. i. jenes Kontingent, das im ganzen und großen nur von der bäuerischen Bevölkerung, den Dienstmädchen usw. zur Prostitution gestellt wird) hier oft hochgespannte Erwartungen durch Mangel an Lebendigkeit enttäuscht haben mögen. Weil das käufliche Mädchen auch die Liebesbezeigungen solcher sich gefallen lassen muß, die ihm sexuell nichts bieten, darf man es nicht etwa als zu seinem Wesen gehörig betrachten, beim Koitus überhaupt kalt zu bleiben. Dieser Schein entsteht nur, weil gerade sie die höchsten Ansprüche an das sinnliche Vergnügen stellt; und für alle Entbehrungen, die sie in dieser Hinsicht sonst erduldet, wird sie die Gemeinschaft mit dem Zuhälter aufs ausgiebigste entschädigen müssen.

Daß für die Dirne der Koitus Selbstzweck ist, wird auch hieraus ersichtlich, daß sie, und nur sie allein, kokett ist. Die Koketterie ist nie ohne Beziehung zum Koitus. Ihr Wesen besteht darin, daß sie die Eroberung der Frau dem Manne als geschehen vorspiegelt, um ihn durch den Kontrast mit der Realität, welche diese Erfüllung noch keineswegs zeigt, zur Verwirklichung der Eroberung anzuspornen. So ist sie eine Herausforderung des Mannes, dem sie eine und dieselbe Aufgabe in ewig wechselnder Form zeigt und ihm gleichzeitig zu verstehen gibt, daß er nicht für fähig gehalten werde, diese Aufgabe je zu lösen. Hiebei leistet das Spiel der Koketterie an sich für die Frau dies, daß es ihren Zweck, den Koitus, bereits während seines Verlaufes in gewissem Sinne erfüllt: denn durch das Begehren des Mannes, das sie hervorruft, fühlt die Dirne schon ein den Sensationen des Koitiert-Werdens Analoges und verschafft sich so den Reiz der Wollust zu jeder Zeit und von jedem Manne. Ob sie hierin bis zum äußersten Ende gehen oder sich zurückziehen werde, wenn die Bewegung einen zu beschleunigten Fortgang nimmt, hängt wohl nur davon ab, ob die Form des wirklichen Koitus, den sie zur Zeit ausübt, d. h. ob ihr gegenwärtiger Mann sie schon so befriedigt, daß sie von dem anderen nicht mehr erwartet. Und daß gerade die Straßendirne im allgemeinen nicht kokett ist, kommt vielleicht nur davon her, daß sie die Empfindungen, welche das Ziel der Koketterie sind, im stärksten Ausmaß und in der massivsten Form ohnedies unausgesetzt kostet und daher auf die feineren prickelnden Variationen leicht verzichten kann. Die Koketterie ist also ein Mittel, den aktiven sexuellen Angriff von seiten des Mannes herbeizuführen, die Intensität dieses Angriffes nach Belieben zu steigern oder abzuschwächen und seine Richtung, dem Angreifer selbst unmerkbar, dorthin zu dirigieren, wo ihn die Frau haben will; ein Mittel, entweder bloß Blicke und Worte hervorzurufen, durch welche sie sich angenehm kitzelnd betastet fühlt, oder es bis zur »Vergewaltigung« kommen zu lassen. Dem Verfasser geht es nicht besser als seinem Leser, wenn diesen die obige Analyse der Koketterie nicht sollte befriedigt haben. Was sie aufdeckte, lag doch ziemlich an der Oberfläche. Das Rätselhafte in der Koketterie scheint mir immer mehr ein eigentümlicher Akt zu sein, durch welchen die Frau sich zum Objekt des Mannes macht und sich funktionell mit ihm verknüpft. Sie ist da ganz dem anderen weiblichen Streben vergleichbar, Gegenstand des Mitleids der Nebenmenschen zu werden: in beiden Fällen macht sich das Subjekt zum Objekt, zur Empfindung des anderen und setzt diesen über sich als Richter ein. Die Koketterie ist die spezifische Verschmolzenheit der Dirne, wie die zuerst als Schwangerschaft, später als Laktation usw. auftretende Fürsorge die Verschmolzenheit der Mutter vorstellt. – Zur Erläuterung des Gesagten sei noch auf das Weib als Braut verwiesen. Die Braut ist sozusagen das Objekt-an-sich, der völlig unfreie Gegenstand der Betrachtung für alle diejenigen, welche ihr begegnen.

Die Sensationen des Koitus sind prinzipiell keine anderen Empfindungen, als wie sie das Weib sonst kennt, sie zeigen dieselben nur in höchster Intensifikation; das ganze Sein des Weibes offenbart sich im Koitus, aufs höchste potenziert. Darum kommen hier auch die Unterschiede zwischen Mutter und Dirne am stärksten zur Geltung. Die Mutter empfindet den Koitus nicht weniger, sondern anders als die Prostituierte. Das Verhalten der Mutter ist mehr annehmend, hinnehmend, die Dirne fühlt, schlürft bis aufs äußerste den Genuß. Die Mutter (und so jede Frau, wenn sie schwanger wird) empfindet das Sperma des Mannes gleichsam als Depositum: bereits im Gefühle des Koitus findet sich bei ihr das Moment des Aufnehmens und Bewahrens; denn sie ist die Hüterin des Lebens. Die Dirne hingegen will nicht wie die Mutter das Dasein überhaupt erhöht und gesteigert fühlen, wenn sie vom Koitus sich erhebt; sie will vielmehr im Koitus als Realität verschwinden, zermalmt, zernichtet, zu nichts, bewußtlos werden vor Wollust. Für die Mutter ist der Koitus der Anfang einer Reihe; die Dirne will in ihm ihr Ende, sie will vergehen in ihm. Der Schrei der Mutter ist darum ein kurzer, mit schnellem Schluß; der der Prostituierten ist langgezogen, denn alles Leben, das sie hat, will sie in diesen Moment konzentriert, zusammengedrängt wissen. Weil dies nie gelingen kann, darum wird die Prostituierte in ihrem ganzen Leben nie befriedigt, von allen Männern der Welt nicht.

Hierin liegt also ein fundamentaler Unterschied im Wesen beider. Unterschiedslos aber fühlt sich jede Frau, da das Weib nur und durchaus sexuell ist, da diese Sexualität über den ganzen Körper sich erstreckt und an einigen Punkten, physikalisch gesprochen, bloß dichter ist als an anderen, fortwährend und am ganzen Leibe, überall und immer, von was es auch sei, ausnahmslos koitiert. Das, was man gewöhnlich als Koitus bezeichnet, ist nur ein Spezialfall von höchster Intensität. Die Dirne will von allem koitiert werden – darum kokettiert sie auch, wenn sie allein ist, und selbst vor leblosen Gegenständen, vor jedem Bach, vor jedem Baum –, die Mutter wird von allen Dingen, fortwährend und am ganzen Leibe, geschwängert. Dies ist die Erklärung des Versehens. Alles, was auf eine Mutter je Eindruck gemacht hat, wirkt fort, je nach der Stärke des Eindruckes – der zur Konzeption führende Koitus ist nur das intensivste dieser Erlebnisse und überwiegt an Einfluß alle anderen – all das wird Vater ihres Kindes, es wird Anfang einer Entwicklung, deren Resultat sich später am Kinde zeigt.

Darum also ist die Vaterschaft eine armselige Täuschung; denn sie muß stets mit unendlich vielen Dingen und Menschen geteilt werden, und das natürliche, physische Recht das Mutterrecht. Weiße Frauen, die einst von einem Neger ein Kind gehabt haben, gebären später oft einem weißen Manne Nachkommen, die noch unverkennbare Merkmale der Negerrasse an sich tragen. Von Blüten, die mit einer inadäquaten Pollenart bestäubt werden, erleiden nicht nur die Keime, sondern auch das mütterliche Gewebe Änderungen, welche nur als eine Annäherung an die Formen und Farben dieses fremden Pollens aufgefaßt werden können. Und die Stute des Lord Morton ist ja berühmt geworden, die, nachdem sie einmal einem Quagga einen Bastard geboren hatte, noch lange hernach einem arabischen Hengst zwei Füllen warf, welche deutliche Merkmale des Quaggas an sich trugen.

Man hat an diesen Fällen viel gedeutelt; man hat erklärt, sie müßten viel häufiger vorkommen, wenn der Vorgang überhaupt möglich wäre. Aber damit sich diese » Infektion«, wie man ihn nennt (Weismann hat den ausgezeichneten Namen Telegonie, d. i. Zeugung in die Ferne, vorgeschlagen, Focke von Gastgeschenken, Xenien gesprochen), damit sich Fernzeugung deutlich offenbaren könne, ist eine Erfüllung sämtlicher Gesetze der Sexualanziehung, eine außergewöhnlich hohe geschlechtliche Affinität zwischen dem ersten Vater und der Mutter erforderlich. Die Wahrscheinlichkeit ist von vornherein gering, daß ein Paar sich finde, in weichem jene Affinität derart mächtig ist, daß sie die mangelnde Rassenverwandtschaft überwindet; und doch besteht nur, wenn Rassenverschiedenheit vorhanden ist, eine Aussicht auf augenfällige, allgemein überzeugende Divergenzen; indessen bei sehr naher Familienverwandtschaft die Möglichkeit fehlt, unzweideutige Abweichungen vom Vatertypus an jenem Kinde, das noch unter dem Einflüsse der früheren Zeugung stehen soll, mit Sicherheit festzustellen. Übrigens ist, daß man so heftig gegen die Keiminfektion sich gewehrt hat, nur daraus zu erklären, daß man die Erscheinungen nicht in ein System zu bringen wußte.

Nicht besser als der Infektionslehre ist es dem Versehen ergangen. Hätte man begriffen, daß auch die Fernzeugung ein Versehen ist, nur eben ein Spezialfall des letzteren von höchster Intensität, hätte man eingesehen, daß der Urogenitaltrakt nicht der einzige, sondern nur der wirksamste Weg ist, auf dem eine Frau koitiert werden kann, daß die Frau durch einen Blick, durch ein Wort sich bereits besessen fühlen kann, es wäre der Widerspruch gegen das Versehen wie gegen die Telegonie so laut nicht geworden. Ein Wesen, das überall und von allen Dingen koitiert wird, kann auch überall und von allen Dingen befruchtet werden: die Mutter ist empfänglich überhaupt. In ihr gewinnt alles Leben, denn alles macht auf sie physiologischen Eindruck und geht in ihr Kind als dessen Bildner ein. Hierin ist sie wirklich, in ihrer niederen körperlichen Sphäre, nochmals dem Genius vergleichbar.

Anders die Dirne. Wie sie selbst im Koitus zunichte werden will, so ist ihr Wirken auch sonst durchaus auf Zerstörung angelegt. Während die Mutter alles, was dem irdischen Leben und guten Fortkommen des Menschen förderlich ist, begünstigt, alles Ausschweifende aber von ihm fernhält; während sie den Fleiß des Sohnes aneifert und die Arbeitsamkeit des Gatten spornt, sucht die Hetäre die ganze Kraft und Zeit des Mannes für sich in Anspruch zu nehmen. Aber nicht nur sie selbst ist gleichsam von Anbeginn dazu bestimmt, den Mann zu mißbrauchen: auch in jedem Manne verlangt etwas nach dieser Frau, das an seiten der schlichteren, stets geschäftigen, geschmacklos gekleideten, aller geistigen Eleganz baren Mutter keine Befriedigung findet. Etwas in ihm sucht den Genuß, und beim Freudenmädchen vergißt er sich am leichtesten. Denn die Dirne vertritt das Prinzip des leichten Sinnes, sie sorgt nicht vor wie die Mutter, sie und nicht die Mutter ist die gute Tänzerin, nur sie verlangt nach Unterhaltung und großer Gesellschaft, nach dem Spaziergang und dem Vergnügungslokal, nach dem Seebad und dem Kurort, nach Theater und Konzert, nach immer neuen Toiletten und Edelsteinen; nach Geld, um es mit vollen Händen hinauszustreuen, nach Luxus statt nach Komfort, nach Lärm statt nach Ruhe; nicht nach dem Lehnstuhl inmitten von Enkeln und Enkelinnen, sondern nach dem Triumphzug auf dem Siegeswagen des schönen Körpers durch die Welt.

Die Prostituierte erscheint denn auch dem Manne unmittelbar als die Verführerin: in den Gefühlen, die sie in ihm weckt; nur sie, das unkeusche Weib par excellence, als »Zauberin«. Sie ist der weibliche »Don Juan«, sie ist jenes Wesen in der Frau, das die Ars amatoria kennt, lehrt und hütet.

Hiemit hängen aber noch interessantere und tiefer führende Dinge zusammen. Die Mutter wünscht vom Manne Anständigkeit, nicht um der Idee willen, sondern weil sie die Bejaherin des Erdenlebens ist. Gleichwie sie selbst arbeitet und nicht faul ist gleich der Dirne, gleichwie sie stets von Geschäften mit Bezug auf die Zukunft erfüllt scheint, so hat sie auch beim Manne Sinn für Tätigkeit und sucht ihn nicht von dieser zum Vergnügen hin abzuziehen. Die Dirne hingegen kitzelt am stärksten der Gedanke eines rücksichtslosen, gaunerischen, der Arbeit abgewandten Mannes. Ein Mensch, der einmal eingesperrt war, ist der Mutter ein Gegenstand des Abscheus, der Dirne eine Attraktion. Es gibt Frauen, die mit ihrem Sohne wirklich unzufrieden sind, wenn er in der Schule nicht guttut, und solche, die an ihm, wenn sie auch das Gegenteil heucheln, dann um so größeres Wohlgefallen finden. Das » Solide« reizt die Mutter, das » Unsolide« die Dirne. Jene verabscheut, diese liebt den kräftig trinkenden Mann. Und so ließe sich noch vieles andere, in der gleichen Richtung gelegene, anführen. Nur ein Einzelfall dieser allgemeinen, hoch in die wohlhabendsten Klassen hinauf reichenden Verschiedenheit ist es, daß die Gassendirne zu jenen Menschen sich am meisten hingezogen fühlt, die offene Verbrecher sind: der Zuhälter ist immer gewalttätig, kriminell veranlagt, oft Räuber oder Betrüger, wenn nicht Mörder zugleich.

Dies legt nun, so wenig das Weib selbst antimoralisch genannt werden darf – es ist immer nur amoralisch –, den Gedanken nahe, daß die Prostitution in irgend einer tiefen Beziehung zum Antimoralischen stehe, während alle Mutterschaft nie einen solchen Hinweis enthält. Nicht als ob die Prostituierte selbst das weibliche Äquivalent des männlichen Verbrechers bildete; obwohl sie so arbeitsscheu ist wie dieser, darf aus den in den vorigen Kapiteln erörterten Gründen die Existenz eines verbrecherischen Weibes nicht zugegeben werden: die Frauen stehen nicht so hoch. Aber in einer Relation zum Antimoralischen, zum Bösen wird die Prostituierte unleugbar vom Manne empfunden, selbst wenn dieser nicht in ein sexuelles Verhältnis zu ihr getreten ist; so daß man nicht sagen kann, nur die Abwehr irgend eines eigenen Wollustgedankens habe diese projizierende Form angenommen. Der Mann erlebt die Prostitution von vornherein als ein Dunkles, Nächtiges, Schauervolles, Unheimliches, ihr Eindruck lastet schwerer, qualvoller auf seiner Brust als der, welchen die Mutter auf ihn hervorbringt. Die merkwürdige Analogie der großen Hetäre zum großen Verbrecher, d. i. eben zum Eroberer; die intime Beziehung der kleinen Dirne zum moralischen Ausbunde der Menschheit, dem Zuhältertum; jenes Gefühl, das sie im Manne wachruft, die Absichten, die sie in betreff seiner hegt, am meisten endlich die Art, wie sie im Unterschiede von der Mutter den Koitus empfindet – all das vereinigt sich dazu, jene Ansicht zu bekräftigen. Wie die Mutter ein lebensfreundliches, so ist die Prostituierte ein lebensfeindliches Prinzip. Aber wie die Bejahung der Mutter nicht auf die Seele, sondern auf den Leib geht, so erstreckt sich auch die Verneinung der Dirne nicht diabolisch auf die Idee, sondern nur auf Empirisches. Sie will vernichtet werden und vernichten, sie schadet und zerstört. Physisches Leben und physischer Tod, beide im Koitus so geheimnisvoll tief zusammenhängend (vgl. das nächste Kapitel), sie verteilen sich auf das Weib als Mutter und als Prostituierte.

Eine entscheidendere Antwort als diese kann auf die Frage nach der Bedeutung von Mutterschaft und Prostitution einstweilen kaum gegeben werden. Es ist ja ein völlig dunkles, von keinem Wanderer noch betretenes Gebiet, auf dem ich mich hier befinde; der Mythus in seiner religiösen Phantasie mag es zu erleuchten sich erkühnen, dem Philosophen sind metaphysische Übergriffe allzufrüh nicht anzuraten. Dennoch bedarf noch einiges einer besseren Hervorhebung. Die antimoralische Bedeutung des Phänomens der Prostitution stimmt damit überein, daß sie ausschließlich auf den Menschen beschränkt ist. Bei den Tieren ist das Weibchen durchaus der Fortpflanzung Untertan, es gibt dort keine sterile Weiblichkeit. Ja man könnte sogar daran denken, daß sich bei den Tieren die Männchen prostituieren, wenn man an den Rad schlagenden Pfau denkt, an das Leuchten des Glühwurms, die Lockrufe der Singvögel, den balzenden Auerhahn. Aber diese Schaustellungen sekundärer Geschlechtscharaktere sind bloße exhibitionistische Akte des Männchens; wie es auch unter den Menschen vorkommt, daß läufige Männer ihre Genitalien vor Frauen entblößen als Aufforderung zum Koitus. Nur insofern sind diese tierischen Akte vorsichtig zu interpretieren, als man sich hüten muß, zu glauben, die psychische Wirkung, welche durch sie auf das Weibchen hervorgebracht wird, werde von dem Männchen im voraus in Betracht und Rechnung gezogen. Es handelt sich vielmehr um einen triebhaften Ausdruck des eigenen sexuellen Verlangens als um ein Mittel, dasselbe beim Weibe zu steigern, es ist ein Hintreten vor die Frau mit und in der sexuellen Erregung; während bei exhibitionierenden Menschen wohl stets die Vorstellung der Erregung des anderen Geschlechtes mitspielt. Auch ist das Motiv des tierischen Männchens keineswegs Eitelkeit als Wille zum Wert.

Die Prostitution ist demnach etwas beim Menschen allein Auftretendes; Tiere und Pflanzen sind ja nur gänzlich amoralisch, nicht irgendwie dem Antimoralischen verwandt, und kennen darum nur die Mutterschaft. Hier liegt also eines der tiefsten Geheimnisse aus Wesen und Ursprüngen des Menschen verborgen. Und nun ist insofern an dem früheren eine Korrektur anzubringen, als mir wenigstens, je länger ich über sie nachdenke, desto mehr die Prostitution eine Möglichkeit für alle Frauen zu sein scheint, ebenso wie die, ja bloß physische, Mutterschaft. Sie ist vielleicht etwas, wovon jedes menschliche Weib durchsetzt, etwas, womit hier die tierische Mutter tingiert ist Wer bedenkt, wie fast alle Frauen bei ihrer heutigen großen Freiheit sich auf der Gasse bewegen, wie sie durch straffes Anziehen ihrer Kleider alle Formen sichtbar werden lassen, wie sie jedes Regenwetter zu solchem Zwecke ausnützen, der wird dies nicht übertrieben finden., ja am Ende eben das, was im menschlichen Weibe jenen Eigenschaften entspricht, um die der menschliche Mann mehr ist als das tierische Männchen. Zu der bloßen Mutterschaft des Tieres ist hier, mit dem Antimoralischen im Manne zu gleicher Zeit und nicht ohne merkwürdige Beziehungen zu diesem, ein Faktor hinzugekommen, der das menschliche Weib vom tierischen gänzlich und von Grund aus unterscheidet. Welche Bedeutung das Weib gerade als Dirne für den Mann in besonderem Maße gewinnen konnte, davon soll erst gegen den Schluß der gesamten Untersuchung die Rede werden; der Ursprung, die letzte Ursache der Prostitution, bleibt gleichwohl vielleicht für immer ein tiefes Rätsel und in völliges Dunkel gehüllt.

Es lag mir bei dieser etwas breiten, aber durchaus nicht erschöpfenden, durchaus nicht alle Phänomene auch nur streifenden Betrachtung alles andere näher, als etwa ein Prostituierten-Ideal aufzustellen, wie es manche begabte Schriftsteller der jüngsten Zeit kaum verhüllt entwickelt zu haben scheinen. Aber dem anderen, dem scheinbar unsinnlichen Mädchen mußte ich den Nimbus rauben, mit dem es jeder Mann so gern umgeben möchte, durch die Erkenntnis, daß gerade dieses Geschöpf das mütterlichste ist, und die Virginität ihm, seinem Begriffe nach, ebenso fremd wie der Dirne. Und selbst die Mutterliebe konnte vor einer eindringenderen Analyse nicht als ein sittliches Verdienst sich behaupten. Die Idee der unbefleckten Empfängnis endlich, der reinen Jungfrau Goethes, Dantes, enthält die Wahrheit, daß die absolute Mutter den Koitus nie als Selbstzweck, um der Lust willen, herbeiwünschen würde. Sie darum heiligen konnte nur eine Illusion. Dagegen ist es wohl begreiflich, daß sowohl der Mutterschaft als der Prostitution, beiden als Symbolen tiefer und mächtiger Geheimnisse, religiöse Verehrung gezollt wurde.

Ist damit die Unhaltbarkeit jener Ansicht dargetan, welche einen besonderen Frauentypus doch noch verteidigen und für die Sittlichkeit des Weibes in Anspruch nehmen zu können glaubt, so soll jetzt die Erforschung der Motive in Angriff genommen werden, aus welchen der Mann die Frau immer und ewig wird verklären wollen.


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