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VIII. Kapitel. Ich-Problem und Genialität

Die Charakterologie und der Glaube an das Ich. Das Ich-Ereignis: Jean Paul, Novalis, Schelling. Ich-Ereignis und Weltanschauung. Selbstbewußtsein und Anmaßung. Die Ansicht des Genies höher zu werten als die der anderen Menschen. Endgültige Feststellungen über den Begriff des Genies. Die geniale Persönlichkeit als der vollbewußte Mikrokosmus Natürlich-synthetische und sinnerfüllende Tätigkeit des Genies. Bedeutung und Symbolik. Definition des Genies im Verhältnis zum gewöhnlichen Menschen. Universalität als Freiheit. Sittlichkeit oder Unsittlichkeit des Genies? Pflichten gegen sich und gegen andere. Was Pflicht gegen andere ist. Kritik der Sympathiemoral und der sozialen Ethik. Verständnis des Nebenmenschen als einzige Forderung der Sittlichkeit wie der Erkenntnis. Ich und Du. Individualismus und Universalismus. Sittlichkeit nur unter Monaden. Der genialste Mensch als der sittlichste Mensch. Warum der Mensch ζῷον πολιτιϰόν ist. Bewußtsein und Moralität. Der »große Verbrecher«. Genialität als Pflicht und Gehorsam. Genie und Verbrechen. Genie und Irrsinn. Der Mensch als Schöpfer seiner selbst.

 

»Im Anfang war diese Welt
allein der Atman, in Gestalt eines
Menschen. Der blickte um sich:
da sah er nichts anderes als sich
selbst. Da rief er zu Anfang aus:
›Das bin ich!‹ Daraus entstand der
Name Ich. – Daher auch heutzutage,
wenn einer angerufen wird,
so sagt er zuerst: ›Das bin ich‹ und
dann erst nennt er den anderen
Namen, welchen er trägt.«

(Bṛihadâraṇyaka-Upanishad.)

 

Viele Prinzipienstreitigkeiten in der Psychologie beruhen auf den individuellen charakterologischen Differenzen zwischen den Dissentierenden. Der Charakterologie könnte damit, wie bereits erwähnt, eine wichtige Rolle zufallen: während der eine dies, der andere jenes in sich vorzufinden behauptet, hätte sie zu lehren, warum die Selbstbeobachtung des einen anders ausfällt als die des zweiten; oder wenigstens zu zeigen, durch was alles die in Rede stehenden Personen noch sich unterscheiden. In der Tat sehe ich keinen anderen Weg, gerade in den umstrittensten psychologischen Dingen ins Reine zu kommen. Die Psychologie ist eine Erfahrungswissenschaft, und darum geht nicht wie in den überindividuellen Normwissenschaften der Logik und Ethik das Allgemeine dem Besonderen in ihr vorher, sondern es muß umgekehrt vom individuellen Einzelmenschen ausgegangen werden. Es gibt keine empirische Allgemeinpsychologie; und es war ein Fehler, eine solche ohne gleichzeitigen Betrieb differentieller Psychologie in Angriff zu nehmen.

Schuld an dem Jammer ist die Doppelstellung der Psychologie zwischen Philosophie und Empfindungsanalyse. Von welcher der beiden die Psychologen kamen, stets traten sie mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit der Ergebnisse auf. Aber vielleicht sind nicht einmal so fundamentale Fragen, wie diese, ob es einen tätigen Akt der Wahrnehmung, eine Spontaneität des Bewußtseins schon in der Empfindung gebe oder nicht, ohne charakterologische Unterscheidungen gänzlich ins Reine zu bringen.

Einen kleinen Teil solcher Amphibolien durch Charakterologie aufzulösen, ist, in Hinsicht auf die Psychologie der Geschlechter, eine Hauptaufgabe dieser Arbeit. Die verschiedenen Behandlungen des Ich-Problems hingegen resultieren nicht sowohl aus den psychologischen Differenzen der Geschlechter, sondern zunächst, wenn auch nicht ausschließlich Vgl. über sich verstehende und sich nicht verstehende Menschen, S. 182., aus den individuellen Unterschieden in der Begabung.

Gerade die Entscheidung zwischen Hume und Kant ist auch charakterologisch möglich, insofern etwa, als ich zwischen zwei Menschen entscheiden kann, von denen dem einen die Werke des Makart und Gounod, dem anderen die Rembrandts und Beethovens das Höchste sind. Ich werde solche Menschen nämlich zunächst unterscheiden nach ihrer Begabung. Und so ist es auch in diesem Falle statthaft, ja notwendig, die Urteile über das Ich, wenn sie von zwei sehr verschieden hochveranlagten Menschen ausgehen, nicht ganz gleich zu werten. Es gibt keinen wahrhaft bedeutenden Menschen, der nicht von der Existenz des Ich überzeugt wäre; ein Mensch, der das Ich leugnet, kann nie ein bedeutender Mensch sein. Womit aber nicht gesagt ist, daß jedermann, der das Ich anerkennt, schon ein Genie sei.

Diese These wird sich im Laufe des nun Folgenden als eine Behauptung von zwingender Notwendigkeit herausstellen, und auch für die in ihr gelegene Höherwertung der Urteile des Genius eine Begründung gesucht und gefunden werden.

Es gibt nämlich keinen bedeutenden Menschen und kann keinen geben, für den nicht im Laufe seines Lebens, im allgemeinen, je bedeutender er ist, desto früher (vgl. Kap. 5), ein Moment käme, in welchem er die völlige Sicherheit gewinnt, ein Ich im höheren Sinne zu besitzen. Wie damit zusammenhängt, daß hervorragende Menschen schon sehr früh (z. B. im Alter von vier Jahren) lieben können, wird später klar werden (S. 314 f.). Man vergleiche folgende Äußerungen dreier sehr verschiedener Menschen und überaus genialer Naturen.

Jean Paul erzählt in seiner autobiographischen Skizze »Wahrheit aus meinem Leben«:

»Nie vergess' ich die noch keinem Menschen erzählte Erscheinung in mir, wo ich bei der Geburt meines Selbstbewußtseins stand, von der ich Ort und Zeit anzugeben weiß. An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht: ich bin ein Ich! wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehen blieb – da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig. Täuschungen des Erinnerns sind hier schwerlich gedenkbar, da kein fremdes Erzählen sich in eine bloß im verhangenen Allerheiligsten des Menschen vorgefallene Begebenheit, deren Neuheit allein so alltäglichen Nebenumständen das Bleiben gegeben, mit Zusätzen mengen konnte.«

Und offenbar meint ganz das nämliche Erlebnis Novalis, der in seinen »Fragmenten vermischten Inhalts« bemerkt:

»Darthun läßt sich dieses Factum nicht, jeder muß es selbst erfahren. Es ist ein Factum höherer Art, das nur der höhere Mensch antreffen wird; die Menschen aber sollen streben, es in sich zu veranlassen. Philosophieren ist eine Selbstbesprechung obiger Art, eine eigentliche Selbstoffenbarung, Erregung des wirklichen Ich durch das idealische Ich. Philosophieren ist der Grund aller anderen Offenbarungen; der Entschluß zu philosophieren ist eine Aufforderung an das wirkliche Ich, daß es sich besinnen, erwachen und Geyst sein solle.«

Sche1ling bespricht im achten seiner »Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kritizismus«, einem wenig gekannten Jugendwerk, dasselbe Phänomen mit folgenden tiefen und schönen Worten: »Uns allen ... wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außenher hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen. Diese Anschauung ist die innerste, eigenste Erfahrung, von welcher alles, alles abhängt, was wir von einer übersinnlichen Welt wissen und glauben. Diese Anschauung zuerst überzeugt uns, daß irgend etwas im eigentlichen Sinne ist, während alles übrige nur erscheint, worauf wir jenes Wort übertragen. Sie unterscheidet sich von jeder sinnlichen Anschauung dadurch, daß sie nur durch Freiheit hervorgebracht und jedem anderen fremd und unbekannt ist, dessen Freiheit, von der hervordringenden Macht der Objekte überwältigt, kaum zur Hervorbringung des Bewußtseins hinreicht. Doch gibt es auch für diejenigen, die diese Freiheit der Selbstanschauung nicht besitzen, wenigstens Annäherung zu ihr, mittelbare Erfahrungen, durch welche sie ihr Dasein ahnen läßt. Es gibt einen gewissen Tiefsinn, dessen man sich selbst nicht bewußt ist, den man vergebens sich zu entwickeln strebt. Jakobi hat ihn beschrieben ... Diese intellektuale Anschauung tritt dann ein, wo wir für uns selbst aufhören, Objekt zu sein, wo, in sich selbst zurückgezogen, das anschauende Selbst mit dem angeschauten identisch ist. In diesem Moment der Anschauung schwindet für uns Zeit und Dauer dahin: nicht wir sind in der Zeit, sondern die Zeit – oder vielmehr nicht sie, sondern die reine absolute Ewigkeit ist in uns. Nicht wir sind in der Anschauung der objektiven Welt, sondern sie ist in unserer Anschauung verloren.«

Es wird der Immanente, der Positivist, vielleicht nur lächeln über den betrogenen Betrüger, den Philosophen, der solche Erlebnisse zu haben vorgibt. Nun, dagegen läßt sich nicht leicht etwas tun. Ist auch überflüssig. Doch bin ich keineswegs der Meinung, daß jenes »Faktum hoher Art« sich bei allen genialen Menschen in jener mystischen Form eines Eins-Werdens von Subjekt und Objekt, eines einheitlichen Erlebens abspiele, wie Schelling dies beschreibt. Ob es ungeteilte Erlebnisse gibt, in denen der Dualismus schon während des Lebens überwunden wird, wie dies von Plotin und den indischen Mahatmas bezeugt ist, oder ob dies nur höchste Intensifikationen des Erlebens sind, prinzipiell aber gleichartig mit allem anderen – dies soll uns hier nicht beschäftigen, das Zusammenfallen von Subjekt und Objekt, von Zeit und Ewigkeit, das Schauen Gottes durch den lebenden Menschen weder als möglich behauptet noch als unmöglich in Abrede gestellt werden. Erkenntnistheoretisch ist mit einem Erleben des eigenen Ich nichts anzufangen, und noch niemand hat es je für eine systematische Philosophie zu verwerten gesucht. Ich will daher jenes Faktum »höherer Art«, das sich beim einen Menschen so, beim anderen anders vollzieht, nicht Erlebnis des eigenen Ich nennen, sondern nur als das Ich -Ereignis bezeichnen.

Das Ich-Ereignis kennt jeder bedeutende Mensch. Ob er nun in der Liebe zu einem Weibe erst sein Ich finde und sich seines Selbst bewußt werde Dieser Fall wird später noch einer Untersuchung bedürfen (S. 313 ff.). – denn der bedeutende Mensch liebt intensiver als der unbedeutende – oder ob er durch ein Schuldbewußtsein, wieder vermöge eines Kontrastes, zum Gefühle seines höheren echten Wesens gelange, dem er in der bereuten Handlung untreu wurde – denn auch das Schuldbewußtsein ist im bedeutenden Menschen heftiger und differenzierter als im unbedeutenden; ob ihn das Ich-Ereignis zum Eins-Werden mit dem All, zum Schauen aller Dinge in Gott führe, oder ihm vielmehr den furchtbaren Dualismus zwischen Natur und Geist im Weltall offenbare, und in ihm das Erlösungsbedürfnis, das Bedürfnis nach dem inneren Wunder, wachrufe: immer und ewig ist mit dem Ich-Ereignis zugleich der Kern einer Weltanschauung, ganz von selbst, ohne Zutun des denkenden Menschen, bereits gegeben. Weltanschauung ist nicht die große Synthese, die am jüngsten Tage der Wissenschaft von irgend einem besonders fleißigen Mann, der durch alle Fächer der Reihe nach sich hindurchgearbeitet hat, vor dem Schreibtisch inmitten einer großen Bibliothek vollzogen wird, Weltanschauung ist etwas Erlebtes, und sie kann als Ganzes klar und unzweideutig sein, wenn auch im einzelnen noch so vieles vorderhand in Dunkelheit und Widerspruch verharrt. Das Ich-Ereignis aber ist Wurzel aller Weltanschauung, d. h. aller Anschauung der Welt als ganzer, und zwar für den Künstler nicht minder als für den Philosophen. Und so radikal sonst die Weltanschauungen voneinander differieren, eines wohnt ihnen allen, soweit sie den Namen einer Weltanschauung verdienen Wozu also der Darwinismus und die monistischen Systeme, in deren Zentrum der »Entwicklungsgedanke« steht, nicht gehören. Die Gattungs- und Begattungsherrlichkeit unserer Zeit konnte sich nicht deutlicher offenbaren als dadurch, daß man die Deszendenzlehre mit dem Worte Weltanschauung in Verbindung brachte und dem Pessimismus entgegensetzte., gemeinsam inne; es ist eben das, was durchs Ich-Ereignis vermittelt wird, der Glaube, den jeder bedeutende Mensch besitzt: die Überzeugung von der Existenz eines Ich oder einer Seele, die im Weltall einsam ist, dem ganzen Weltall gegenübersteht, die ganze Welt anschaut.

Vom Ich-Ereignis an gerechnet wird der bedeutende Mensch im allgemeinen – Unterbrechungen, vom fürchterlichsten der Gefühle, vom Gefühle des Gestorbenseins, ausgefüllt, mögen wohl häufig vorkommen – mit Seele leben.

Aus diesem Grunde, und nicht allein aus hochgestimmtem Hinblick auf eben Geschaffenes schreibt es, wie ich an dieser Stelle beifügen will, sich her, daß bedeutende Menschen immer, in jedem Sinne, auch das größte Selbstbewußtsein haben werden. Nichts ist so gefehlt, als von der »Bescheidenheit« großer Männer zu reden, die gar nicht gewußt hätten, was in ihnen stecke. Es gibt keinen bedeutenden Menschen, der nicht wüßte, wie sehr er sich von den anderen unterscheidet (mit Ausnahme der Depressionsperioden, welchen gegenüber sogar der in besseren Zeiten gefaßte Vorsatz, von nun ab etwas von sich zu halten, fruchtlos bleiben mag), keinen, der sich nicht für einen bedeutenden Menschen hielte, sobald er einmal etwas geschaffen hat – allerdings auch keinen, dessen Eitelkeit oder Ruhmsucht so gering wäre, daß er sich nicht noch stets überschätzte. Schopenhauer hat sich für viel größer gehalten als Kant. Wenn Nietzsche seinen Zarathustra für das tiefste Buch der Welt erklärt, so spielt außerdem wohl noch die Enttäuschung durch die schweigenden Zeitungsschreiber und das Bedürfnis, diese zu reizen, mit – allerdings auch keine sehr vornehmen Motive.

Aber eines ist allerdings richtig an der Lehre von der Bescheidenheit bedeutender Menschen: bedeutende Menschen sind nie anmaßend. Anmaßung und Selbstbewußtsein sind wohl die zwei entgegengesetztesten Dinge, die es geben kann, und sollten nicht, wie es meistens geschieht, eins für das andere gesetzt werden. Ein Mensch hat immer so viel Arroganz, als ihm Selbstbewußtsein fehlt. Anmaßung ist sicherlich nur ein Mittel, durch künstliche Erniedrigung des Nebenmenschen das Selbstbewußtsein gewaltsam zu steigern, ja so erst zum Bewußtsein eines Selbst zu kommen. Natürlich gilt das von der unbewußten, sozusagen physiologischen Arroganz; zu beabsichtigter Grobheit verächtlichen Subjekten gegenüber mag wohl auch ein hochstehender Mensch der eigenen Würde halber hie und da sich verhalten müssen.

Die feste, vollkommene, des Beweises für ihre Person nicht eigentlich bedürftige Überzeugung, daß sie eine Seele besitzen, ist also allen genialen Menschen gemeinsam. Man sollte die lächerliche Besorgnis doch endlich ablegen, welche hinter jedem, der von der Seele als einer hyperempirischen Realität redet, gleich den werbenden Theologen wittert. Der Glaube an die Seele ist alles eher denn ein Aberglaube, und kein bloßes Verführungsmittel aller Geistlichkeit. Auch die Künstler sprechen von ihrer Seele, ohne Philosophie und Theologie studiert zu haben, selbst die atheistischesten, wie Shelley, und glauben, zu wissen, was sie damit meinen. Oder denkt man, daß »Seele« für sie ein bloßes, leeres, schönes Wort sei, welches sie anderen nachsprechen, ohne zu fühlen? Daß der große Künstler Bezeichnungen anwende, ohne über ein Bezeichnetes, in diesem Falle von denkbar höchster Realität, sich klar zu sein? Der immanente Empirist, der Nur-Physiolog muß aber all das für nichtssagendes Geschwätz halten, oder Lucrez für den einzigen großen Dichter. So viel Mißbrauch sicherlich mit dem Worte getrieben wird: wenn bedeutende Künstler von ihrer Seele zeugen, so wissen sie wohl, was sie tun. Es gibt für sie wie für die großen Philosophen ein gewisses Grenzgefühl der höchsten Wirklichkeit; Hume hat dieses Gefühl sicherlich nicht gekannt.

Der Wissenschaftler nämlich steht, wie schon hervorgehoben wurde, und nun bald bewiesen werden soll, unter dem Philosophen und unter dem Künstler. Diese verdienen das Prädikat des Genies, der bloße Wissenschaftler niemals. Es heißt jedoch dem Genius vor der Wissenschaft noch einen weiteren, bisher noch immer unbegründeten Vorzug einräumen, wenn, wie dies hier geschehen ist, seiner Anschauung über ein bestimmtes Problem, bloß weil es seine Anschauung ist, mehr Gewicht beigelegt wird als der Ansicht des Wissenschaftlers. Besteht zu dieser Bevorzugung ein Recht? Kann der Genius Dinge erkunden, die dem Mann der Wissenschaft als solchem versagt sind, kann er in eine Tiefe blicken, welche jener vielleicht nicht einmal bemerkt?

Genialität schließt, wie sich zeigte, ihrer Idee nach Universalität ein. Für den ganz und gar genialen Menschen, der eine notwendige Fiktion ist, gäbe es gar nichts, wozu er nicht ein gleich lebendiges, unendlich inniges, schicksalsvolles Verhältnis hätte. Genialität war universale Apperzeption, und hiemit vollkommenes Gedächtnis, absolute Zeitlosigkeit. Man muß aber, um etwas apperzipieren zu können, ein ihm Verwandtes bereits in sich haben. Man bemerkt, versteht und ergreift nur das, womit man irgend eine Ähnlichkeit hat (S. 134 f.). Der Genius war zuletzt, aller Kompliziertheit wie zum Trotze, der Mensch mit dem intensivsten, lebendigsten, bewußtesten, kontinuierlichsten, einheitlichsten Ich. Das Ich jedoch ist das punktuelle Zentrum, die Einheit der Apperzeption, die »Synthesis« alles Mannigfaltigen.

Das Ich des Genies muß demnach selbst die universale Apperzeption sein, der Punkt schon den unendlichen Raum in sich schließen: der bedeutende Mensch hat die ganze Welt in sich, der Genius ist der lebendige Mikrokosmus. Er ist nicht eine sehr zusammengesetzte Mosaik, keine aus einer, doch immer endlichen, Vielzahl von Elementen aufgebaute chemische Verbindung, und nicht das war der Sinn der Darlegungen des vierten Kapitels über sein innigeres Verwandtsein mit mehr Menschen und Dingen: sondern er ist alles. Wie im Ich und durch das Ich alle psychischen Erscheinungen zusammenhängen, wie dieser Zusammenhang unmittelbar erlebt und ins Seelenleben nicht mühsam erst hineingetragen wird durch eine Wissenschaft (die bei allen äußeren Dingen freilich hiezu verhalten ist) Darum gibt es innerhalb des Einzelmenschen keinen Begriff des Zufalls, ja es kann der Gedanke an einen solchen gar nicht auftauchen. Daß ein erwärmter Stab durch die Zufuhr thermischer Energie sich ausdehnt und nicht infolge eines gleichzeitig am Himmel sichtbaren Kometen, nehme ich an vermöge langer Erfahrung und Induktion, aber auch nur auf Grund dieser; die richtige Beziehung ist hier nicht sofort in einem Erlebnis schon gelegen. Wenn ich dagegen über mein eigenes Betragen in einer bestimmten Gesellschaft mich ärgere, so weiß ich, gesetzt auch, es geschehe zum ersten Male, und es schöben sich noch so viel andere gleichzeitige psychische Ereignisse dazwischen, unmittelbar den Grund meiner Unzufriedenheit, und bin seiner sofort vollständig sicher, oder kann es wenigstens, wenn ich mich nicht darüber hinwegzutäuschen versuche, schon beim ersten Male werden., wie hier das Ganze durchaus vor den Teilen besteht; so blickt der Genius, in dem das Ich wie das All, als das All lebt, auch in die Natur und ins Getriebe aller Wesen als ein Ganzes, er schaut hier die Verbindungen und konstruiert nicht einen Bau aus Bruchstücken. Darum kann ein bedeutender Mensch zunächst schon bloßer empirischer Psychologe nicht sein, für den es nur Einzelheiten gibt, die er im Schweiße seines Angesichtes, durch Assoziationen, Leitungsbahnen usw. zu verkitten trachtet; ebensowenig aber bloßer Physiker, dem die Welt aus Atomen und Molekülen zusammengesetzt ist.

Aus der Idee des Ganzen heraus, in welcher der Genius fortwährend lebt, erkennt er den Sinn der Teile. Er wertet darum alles, alles in sich, alles außerhalb seiner, wertet es nach dieser Idee; und nur darum ist es für ihn nicht Funktion der Zeit, sondern repräsentiert ihm stets einen großen und ewigen Gedanken. So ist der geniale Mensch zugleich der tiefe Mensch, und nur er tief, nur der Tiefe genial. Darum gilt denn auch wirklich seine Meinung mehr als die der anderen. Weil er aus dem Ganzen seines das Universum enthaltenden Ich schafft, während die anderen Menschen nie ganz zum Bewußtsein dieses ihres wahren Selbst kommen, werden ihm die Dinge sinnvoll, bedeuten sie ihm alle etwas, sieht er in ihnen stets Symbole. Für ihn ist der Atem mehr als ein Gasaustausch durch die feinsten Wandungen der Blutkapillaren, das Blau des Himmels mehr als teilweise polarisiertes, an den Trübungen der Atmosphäre diffus reflektiertes Sonnenlicht, die Schlangen mehr als fußlose Reptilien ohne Schultergürtel und Extremitäten. Wenn man selbst alle wissenschaftlichen Entdeckungen, die je gemacht wurden, zusammentäte und von einem einzigen Menschen gefunden sein ließe; wenn alles, was Archimedes und Lagrange, Johannes Müller und Karl Ernst von Baer, Newton und Laplace, Konrad Sprengel und Cuvier, Thukydides und Niebuhr, Friedrich August Wolf und Franz Bopp, was noch so viele andere für die Wissenschaft Hervorragendstes geleistet haben, selbst wenn all dies ein einziger Mensch im Laufe eines kurzen Menschenlebens geleistet hätte, er verdiente darum doch nicht das Prädikat des Genius.

Denn damit ist noch nirgends in Tiefen gedrungen. Der Wissenschaftler nimmt die Erscheinungen, wie sie sinnfällig sind, der bedeutende Mensch oder Genius für das, was sie bedeuten. Ihm sind Meer und Gebirge, Licht und Finsternis, Frühling und Herbst, Zypresse und Palme, Taube und Schwan Symbole, er ahnt nicht nur, er erkennt in ihnen ein Tieferes. Nicht auf Luftdruckverschiebungen geht der Walkürenritt, und nicht auf Oxydationsprozesse bezieht sich der Feuerzauber. Und dies alles ist jenem nur möglich, weil die äußere Welt in ihm reich und stark zusammenhängt wie die innere, ja das Außenleben nur wie ein Spezialfall seines Innenlebens sich ausnimmt, Welt und Ich in ihm eins geworden sind, und er nicht Stück für Stück der Erfahrung nach Gesetz und Regel erst aneinanderheften muß. Auch die größte Polyhistorie dagegen addiert nur Fächer zu Fächern und bildet noch keine Gesamtheit. Deshalb also tritt der große Wissenschaftler hinter den großen Künstler, hinter den großen Philosophen.

Der Unendlichkeit des Weltalls entspricht beim Genius eine wahre Unendlichkeit in der eigenen Brust, er hält Chaos und Kosmos, alle Besonderheit und alle Totalität, alle Vielheit und alle Einheit in seinem Innern. Ist mit diesen Bestimmungen auch mehr über die Genialität als über das Wesen des genialen Schaffens ausgesagt, bleiben der Zustand der künstlerischen Ekstase, der philosophischen Konzeption, der religiösen Erleuchtung gleich rätselhaft wie zuvor, sind also damit gewiß nur die Bedingungen, nicht der Vorgang eines wahrhaft bedeutenden Produzierens klarer geworden, so sei dennoch hier als endgültige Definition des Genies diese gegeben:

Genial ist ein Mensch dann zu nennen, wenn er in bewußtem Zusammenhange mit dem Weltganzen lebt. Erst das Geniale ist somit das eigentlich Göttliche im Menschen.

Die große Idee von der Seele des Menschen als dem Mikrokosmus, die tiefste Schöpfung der Philosophen der Renaissance – wiewohl ihre ersten Spuren schon bei Plato und Aristoteles sich finden – scheint dem neueren Denken seit Leibnizens Tode ganz abhanden gekommen. Sie wurde hier bis jetzt als bloß für das Genie gültig, von jenen Meistern aber vom Menschen überhaupt als das eigentliche Wesen desselben behauptet.

Doch ist die Inkongruenz nur scheinbar. Alle Menschen sind genial, und kein Mensch ist genial. Genialität ist eine Idee, welcher dieser näherkommt, während jener in großer Ferne von ihr bleibt, welcher der eine rasch sich naht, der andere vielleicht erst am Ende seines Lebens.

Der Mensch, dem wir bereits den Besitz der Genialität zuschreiben, ist nur der, welcher bereits angefangen hat zu sehen, und den anderen die Augen öffnet. Daß sie sodann mit seinem Auge sehen können, beweist, wie sie nur vor dem Tore standen. Auch der mittelmäßige Mensch kann, selbst als solcher, mittelbar zu allem in Beziehung treten; seine Idee des Ganzen ist aber nur ahnungsvoll, es gelingt ihm nicht, sich mit ihr zu identifizieren. Aber er ist darum nicht ohne Möglichkeit, diese Identifikation anderen nachzuleben und so ein Gesamtbild zu gewinnen. Durch Weltanschauung kann er dem Universum, durch Bildung allem einzelnsten sich verbinden; nichts ist ihm gänzlich fremd, und an alle Dinge der Welt knüpft auch ihn ein Band der Sympathie. Nicht so das Tier oder die Pflanze. Sie sind begrenzt, sie kennen nicht alle, sondern nur ein Element, sie bevölkern nicht die ganze Erde, und wo sie eine allgemeine Verbreitung gefunden haben, ist es im Dienste des Menschen, der ihnen eine überall gleichmäßige Funktion angewiesen hat. Sie mögen eine Beziehung zur Sonne oder zum Monde haben, aber sicherlich fehlt ihnen »der gestirnte Himmel« und »das moralische Gesetz«. Dieses aber stammt von der Seele des Menschen her, in der alle Totalität geborgen ist, die alles betrachten kann, weil sie selbst alles ist: der gestirnte Himmel und das moralische Gesetz, auch sie sind im Grunde eines und dasselbe. Der Universalismus des kategorischen Imperativs ist der Universalismus des Universums, die Unendlichkeit des Weltalls nur das Sinnbild der Unendlichkeit des sittlichen Wollens.

So hat dies, den Mikrokosmus im Menschen, schon Empedokles, der gewaltige Magus von Agrigent, gelehrt:

Γαίῃ μὲν γὰρ γαῖαν ὀπώπαμεν, ὕδατι δ'ὕδωρ,
Αἰϑέρι δ'αἰϑέρα δῖον, ἀτὰρ πυρὶ πῦρ ἀίδηλον
Στοργῇ δὲ στοργήν, νεῖϰος δέ τε νείϰεἳ λυγρῷ

Und Plotin: Οὐ γὰρ ἂν πώποτε εἶδεν ὀφϑαλμὸς ἥλιον ἡλιοειδὴς μὴ γεγενημένος, dem es Goethe in den berühmten Versen nachgedichtet hat:

»Wär' nicht das Auge sonnenhaft,
Die Sonne könnt' es nie erblicken;
Läg' nicht in uns des Gottes eig'ne Kraft,
Wie könnt' uns Göttliches entzücken?«

Der Mensch ist das einzige Wesen, er ist dasjenige Wesen in der Natur, das zu allen Dingen in derselben ein Verhältnis hat.

In wem dieses Verhältnis nicht bloß zu einzelnen, vielen oder wenigen, sondern zu allen Dingen Klarheit und intensivste Bewußtheit erlangt, wer über alles selbständig gedacht hat, den nennt man ein Genie; in wem es nur der Möglichkeit nach vorhanden, in wem wohl für alles irgend ein Interesse wachzurufen ist, aber nur zu wenigem ein lebhafteres von selbst besteht, den nennt man einfach einen Menschen. Leibnizens wohl selten recht verstandene Lehre, daß auch die niedere Monade ein Spiegel der Welt sei, ohne aber sich dieser ihrer Tätigkeit bewußt zu werden, drückt nur dieselbe Tatsache aus. Der geniale Mensch lebt im Zustande allgemeiner Bewußtheit, die Bewußtheit des Allgemeinen ist; auch im gewöhnlichen Menschen ist das Weltganze, aber nicht bis zu schöpferischem Bewußtsein gebracht. Der eine lebt in bewußtem tätigen, der andere in unbewußtem virtuellen Zusammenhang mit dem All; der geniale Mensch ist der aktuelle, der ungeniale der potentielle Mikrokosmus. Erst der geniale Mensch ist ganz Mensch; was als Mensch-Sein, als Menschheit (im Kantischen Sinne) in jedem Menschen, δυνάμει, der Möglichkeit nach ist, das lebt im genialen Menschen, ὲνεργείᾳ, in voller Entfaltung.

Der Mensch ist das All und darum nicht, wie ein bloßer Teil desselben, abhängig vom anderen Teile, nicht an einer bestimmten Stelle eingeschaltet in die Naturgesetzlichkeit, sondern selbst der Inbegriff aller Gesetze, und eben darum frei, wie das Weltganze als das All selbst nicht noch bedingt, sondern unabhängig ist. Der bedeutende Mensch nun, der nichts vergißt, weil er sich nicht vergißt, weil Vergessen funktionelle Beeinflussung durch die Zeit, daher unfrei und unethisch ist; der nicht von der Welle einer geschichtlichen Bewegung, als ihr Kind, emporgeworfen, nicht von der nächsten wieder verschlungen wird, weil alles, alle Vergangenheit und alle Zukunft, in der Ewigkeit seines geistigen Blickes bereits sich birgt; dessen Unsterblichkeitsbewußtsein am stärksten ist, weil ihn auch der Gedanke an den Tod nicht feige macht; der in das leidenschaftlichste Verhältnis zu den Symbolen oder Werten tritt, indem er nicht nur alles in sich, sondern auch alles außer sich einschätzt und damit deutet: er ist zugleich der freieste und der weiseste, er ist der sittlichste Mensch und nur darum leidet gerade er am schwersten unter allem, was auch in ihm noch unbewußt, noch Chaos, noch Fatum ist. –

Wie steht es nun mit der Sittlichkeit großer Menschen den anderen Menschen gegenüber? Ist dies doch die einzige Form, in welcher, nach der populären Meinung, die Unsittlichkeit nicht anders als in Verbindung mit dem Strafgesetzbuch zu denken weiß, Moralität sich offenbaren kann! Und haben nicht gerade hier die berühmten Männer die bedenklichsten Charaktereigenschaften verraten? Mußten sie nicht oft schnöden Undanks, grausamer Härte, schlimmer Verführertücken sich zeihen lassen?

Weil Künstler und Denker, je größer sie sind, desto rücksichtsloser sich selbst die Treue wahren und hiebei die Erwartungen manch eines täuschen, mit dem sie vorübergehende Gemeinschaft geistiger Interessen verknüpfte, und die, ihrem höheren Fluge zu folgen später nicht mehr imstande, den Adler selbst an die Erde binden wollen (Lavater und Goethe) – darum hat man sie als unmoralisch verschrien. Das Schicksal der Friederike aus Sesenheim ist Goethe, obwohl ihn das keineswegs entschuldigt, sicherlich viel nähergegangen als dieser, und wenn er auch glücklicherweise so unendlich viel verschwiegen hat, daß die Modernen, die ihn als den leichtlebigen Olympier ganz zu besitzen glauben, tatsächlich nur jene Flocken von ihm in den Händen halten, die Faustens unsterbliches Teil umgeben – man darf gewiß sein, daß er selbst am genauesten prüfte, wieviel Schuld ihn traf, und diese in ihrem ganzen Ausmaß bereut hat. Und wenn scheelsüchtige Nörgler, die Schopenhauers Erlösungslehre und den Sinn des Nirwana nie erfaßt haben, es diesem Philosophen zum Vorwurf machen, daß er auf seinem Rechte auf sein Eigentum, bis zum Äußersten, bestanden hat, so verdient dies, als ein hündisches Gekläffe, gar keine Antwort.

Daß der bedeutende Mensch gegen sich selbst am sittlichsten ist, steht also wohl fest: er wird nicht eine fremde Anschauung sich aufzwingen lassen und hiedurch sein Ich unterdrücken; er wird die Meinung des anderen – das fremde Ich und dessen Ansicht bleiben für ihn etwas vom Eigenen gänzlich Unterschiedenes nicht passiv akzeptieren, und ist er einmal rezeptiv gewesen, so wird ihm der Gedanke hieran schmerzvoll und fürchterlich sein. Eine bewußte Lüge, die er einmal getan hat, wird er sein ganzes Leben lang mitschleppen, und nicht in »dionysischer« Weise leichthin abschütteln können. Am stärksten aber werden geniale Menschen leiden, wenn sie sich selbst erst hinterdrein auf eine Lüge kommen, um die sie gar nicht wußten, als sie sie anderen gegenüber sprachen, oder mit der sie sich selbst belogen haben. Die anderen Menschen, die nicht dieses Bedürfnis nach Wahrheit haben wie er, bleiben eben darum immer viel tiefer in Lüge und Irrtum verstrickt, und dies ist der Grund, warum sie die eigentliche Meinung und die Heftigkeit des Kampfes großer Persönlichkeiten gegen die » Lebens1üge« so wenig verstehen.

Der hochstehende Mensch, das ist jener, in dem das zeitlose Ich die Macht gewonnen hat, sucht seinen Wert vor seinem intelligiblen Ich, vor seinem moralischen und intellektuellen Gewissen zu steigern. Auch seine Eitelkeit ist zunächst die vor sich selbst: es entsteht in ihm das Bedürfnis, sich selbst zu imponieren (mit seinem Denken, Handeln und Schaffen). Diese Eitelkeit ist die eigentliche Eitelkeit des Genies, das seinen Wert und seinen Lohn in sich selbst hat, und dem es nicht auf die Meinung anderer von ihm darum ankommt, damit es selbst auf diesem Umweg von sich eine höhere gewinne. Sie ist jedoch keineswegs etwas Löbliches, und asketisch angelegte Naturen ( Pascal) werden auch unter dieser Eitelkeit schwer leiden können, ohne doch je über sie hinauszukommen. Zur inneren Eitelkeit wird sich Eitelkeit vor anderen stets gesellen; aber die beiden liegen miteinander im Kampfe.

Wird nun nicht durch diese starke Betonung der Pflicht gegen sich selbst die Pflichterfüllung den anderen Menschen gegenüber beeinträchtigt? Stehen die beiden nicht in einem solchen Wechselverhältnis, daß, wer sich selbst die Treue wahrt, sie notwendig anderen brechen muß?

Keineswegs. Wie die Wahrheit nur eine ist, so gibt es auch nur ein Bedürfnis nach Wahrheit – Carlyles »Sincerity« – das man sowohl sich selbst als auch der Welt gegenüber hat oder nicht hat, aber nie getrennt, nie eines von beiden, nicht Weltbeobachtung ohne Selbstbeobachtung, und nicht Selbstbeobachtung ohne Weltbeobachtung: so gibt es überhaupt nur eine einzige Pflicht, nur einerlei Sittlichkeit. Man handelt moralisch oder unmoralisch überhaupt, und wer sich selbst gegenüber sittlich ist, der ist es auch den anderen gegenüber.

Über nichts sind indessen falsche Vorstellungen so verbreitet wie darüber, was sittliche Pflicht gegen den Nebenmenschen ist, und wodurch ihr wirklich genügt wird.

Wenn ich von jenen theoretischen Systemen der Ethik einstweilen absehe, welche Förderung der menschlichen Gesellschaft als das Prinzip betrachten, das allem Handeln zugrunde zu legen sei, und die immerhin weniger auf die konkreten Gefühle während der Handlung und auf das empirische im Impulse, als auf das Walten eines generellen sittlichen Gesichtspunktes gehen und insofern doch hoch über aller Sympathiemoral stehen: so bleibt nur die populäre Meinung übrig, welche die Sittlichkeit eines Menschen größtenteils nach dem Grade seiner Mitleidigkeit, seiner »Güte« bestimmt. Von philosophischer Seite haben im Mitgefühle Hutcheson, Hume und Smith das Wesen und die Quelle alles ethischen Verhaltens erblickt; eine außerordentliche Vertiefung hat dann diese Lehre in Schopenhauers Mitleidsmoral erhalten. Die Schopenhauersche »Preisschrift über die Grundlage der Moral« verrät indes gleich in ihrem Motto »Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer« den Grundfehler aller Sympathieethik: als welche sie nämlich stets verkennt, daß die Ethik keine sachlich-beschreibende, sondern eine das Handeln normierende Wissenschaft ist. Wer sich über die Versuche lustig macht, genau zu erhorchen, was die innere Stimme im Menschen wirklich spricht, mit Sicherheit zu ergründen, was der Mensch soll, der verzichtet auf jede Ethik, die ihrem Begriffe nach eben eine Lehre von den Forderungen ist, welche der Mensch an sich und an alle anderen stellt; und nicht von dem erzählt, was er, diesen Forderungen Raum gebend oder sie übertönend, tatsächlich vollbringt. Nicht was geschieht, sondern was geschehen soll, ist Objekt der Moralwissenschaft, alles andere gehört in die Psychologie.

Alle Versuche, die Ethik in Psychologie aufzulösen, übersehen, daß jede psychische Regung im Menschen vom Menschen selbst gewertet wird, und das Maß zur Bewertung irgend welchen Geschehens nicht selbst Geschehnis sein kann. Dieser Maßstab kann nur eine Idee oder ein Wert sein, der nie völlig verwirklicht und aus keiner Erfahrung abzuleiten ist, weil er bestehen bliebe, wenn auch alle Erfahrung ihm zuwiderliefe. Sittliches Handeln kann also nur Handeln nach einer Idee sein. Es ist hienach nur zwischen solchen Morallehren zu wählen, welche Ideen, Maximen des Handelns aufstellen, und da kommt immer nur zweierlei in Betracht: der ethische Sozialismus oder die »Sozialethik«, die von Bentham und den Mi11 begründet, und später von eifrigen Importeuren auch auf den Kontinent und sogar nach Deutschland und Norwegen gebracht wurde, und der ethische Individualismus, wie ihn das Christentum und der deutsche Idealismus lehren.

Der zweite Fehler aller Ethik des Mitgefühls ist eben der, daß sie Moral begründen, ableiten will, Moral, die ihrem Begriffe nach den letzten Grund des menschlichen Handelns bilden soll, und darum nicht selbst noch erklärbar, deduzierbar sein darf, die Zweck an sich selbst ist und nicht mit irgend etwas außer ihr, wie Mittel und Zweck, in Verbindung gebracht werden darf. Sofern aber dieser Anspruch der Sympathiemoral mit dem Prinzipe jeder bloß deskriptiven und danach notwendig relativistischen Ethik übereinkommt, sind beide Fehler im Grunde eins, und muß diesem Unterfangen immer entgegengehalten werden, daß niemand, liefe er auch das ganze Gebiet aller Ursachen und Wirkungen ab, irgendwo den Gedanken eines höchsten Zweckes in ihm entdecken würde, der allein für alle moralischen Handlungen wesentlich ist. Der Zweckgedanke kann nicht aus Grund und Folge erklärt werden, das Verhältnis von Grund und Folge schließt ihn vielmehr aus. Der Zweck tritt auf mit dem Anspruch, das Handeln zu schaffen, an ihm wird der Erfolg und Ausgang aller Tat gemessen, und auch dann noch immer ungenügend gefunden, wenn selbst alle Faktoren, die sie bestimmten, wohl bekannt sind und noch so schwer ihr Gewicht im Bewußtsein geltend machen. Neben dem Reich der Ursachen gibt es ein Reich der Zwecke, und dieses Reich ist das Reich des Menschen. Vollendete Wissenschaft vom Sein ist eine Gesamtheit der Ursachen, die bis zur obersten Ursache aufsteigen will, vollendete Wissenschaft vom Sollen ein Ganzes der Zwecke, das in einem letzten höchsten Zwecke kulminiert.

Wer also das Mitleid ethisch positiv wertet, hat etwas, das gar nicht Handlung war, sondern nur Gefühl, nicht eine Tat, sondern nur ein Affekt (der seiner Natur nach nicht unter den Zweck-Gesichtspunkt fällt), moralisch beurteilt. Das Mitleid mag ein ethisches Phänomen, eine Äußerungsweise von etwas Ethischem sein, es ist aber so wenig ein ethischer Akt wie das Schamgefühl oder der Stolz; man hat zwischen ethischem Akt und ethischem Phänomen wohl zu unterscheiden. Unter dem ersteren darf nichts verstanden werden als bewußte Bejahung der Idee durch die Handlung: ethische Phänomene sind unbeabsichtigte, unwillkürliche Anzeichen einer andauernden Richtung des Gemütes auf die Idee. Nur in den Motivenkampf greift die Idee immer wieder ein und sucht ihn zu beeinflussen und zu entscheiden; in den empirischen Mischungen ethischer mit unethischen Gefühlen, des Mitleids mit der Schadenfreude, des Selbstgefühles mit dem Übermut, liegt noch nichts von einem Entschlusse. Das Mitleid ist vielleicht der sicherste Anzeiger der Gesinnung, aber kein Zweck irgend eines Handelns. Nur Wissen des Zweckes, Bewußtsein des Wertes gegenüber allem Unwerte konstituiert die Sittlichkeit; hierin hat Sokrates gegenüber allen Philosophen, die nach ihm gekommen sind (nur P1ato und Kant haben ihm sich angeschlossen), recht. Ein alogisches Gefühl, wie das Mitleid immer ist, hat keinen Anspruch auf Achtung, sondern erweckt höchstens Sympathie.

Die Frage ist demnach erst zu beantworten, inwiefern ein Mensch sich sittlich verhalten könne gegen andere Menschen.

Nicht durch unerbetene Hilfe, die in die fremde Einsamkeit dringt und die Grenzen durchbricht, welche der Nebenmensch um sich zieht, sondern durch die Ehrerbietung, mit der man diese Grenzen wahrt; nicht durch Mitleid, nur durch Achtung. Achtung, dies hat Kant zuerst ausgesprochen, bringen wir keinem Wesen auf der Welt entgegen als dem Menschen. Es ist seine ungeheure Entdeckung, daß kein Mensch sich selbst, sein intelligibles Ich, die Menschheit (das ist nicht die menschliche Gesellschaft von 1500 Millionen, sondern die Idee der Menschenseele) in seiner Person oder in der Person des anderen als Mittel zum Zweck gebrauchen kann. »In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will, und worüber man etwas vermag, auch bloß als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch, und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf, ist Zweck an sich selbst

Womit aber erweise ich einem Menschen Verachtung, und wie bezeige ich ihm meine Achtung? Das erste, indem ich ihn ignoriere, das zweite, indem ich mich mit ihm beschäftige. Wie benütze ich ihn als Mittel zum Zweck, und wie ehre ich in ihm etwas, das Selbstzweck ist? Das eine, indem ich ihn nur als Glied in der Kette der Umstände betrachte, mit denen meine Handlungen zu rechnen haben, das andere, indem ich ihn zu erkennen suche. Erst so, indem man sich für ihn, ohne es ihm gerade zu zeigen, interessiert, an ihn denkt, sein Handeln zu begreifen, sein Schicksal mitzufühlen, ihn selbst zu verstehen sucht, erst dadurch, nur dadurch kann man seinen Mitmenschen ehren. Nur wer, durchs eigene Ungemach nicht selbstsüchtig geworden, allen kleinlichen Hader mit dem Mitmenschen vergessend, den Zorn gegen ihn unterdrückend, ihn zu verstehen trachtet, der ist wahrhaft uneigennützig gegen seinen Nächsten; und er handelt sittlich, denn er siegt gerade dann über den stärksten Feind, der das Verständnis des Nebenmenschen am längsten erschwert: über die Eigenliebe.

Wie verhält sich nun in dieser Hinsicht der hervorragende Mensch?

Er, der die meisten Menschen versteht, weil er am universellsten veranlagt ist, der zum Weltganzen in der innigsten Beziehung lebt, es am leidenschaftlichsten objektiv zu erkennen trachtet, er wird auch wie kein zweiter an seinem Nebenmenschen sittlich handeln. In der Tat, niemand denkt so viel und so intensiv wie er über die anderen Menschen (ja über viele auch, wenn er sie nur ein einziges Mal flüchtig erblickt hat), und niemand sucht so lebhaft wie er zur Klarheit über sie zu kommen, wenn er sie noch nicht mit genügender Deutlichkeit und Intensität in sich hat. Wie er selbst eine kontinuierlich von seinem Ich erfüllte Vergangenheit hinter sich hat, so wird er auch darüber sich Gedanken machen, welches das Schicksal der anderen in der Zeit gewesen ist, ehe da er sie noch kennenlernte. Er folgt dem stärksten Zuge des inneren Wesens, wenn er über sie denkt, denn er sucht ja in ihnen nur über sich zur Klarheit, zur Wahrheit zu gelangen. Hier zeigt sich eben, daß die Menschen alle Glieder einer intelligiblen Welt sind, in der es keinen beschränkten Egoismus oder Altruismus gibt. Nur so ist es zu erklären, daß große Männer, wie zu den Menschen neben ihnen, so auch zu allen Persönlichkeiten der Geschichte, die zeitlich vor ihnen gelebt haben, in ein lebendigeres, verständnisvolleres Verhältnis treten, nur dies der Grund, warum der große Künstler auch die geschichtliche Individualität so viel besser und intensiver erfaßt als der bloß wissenschaftliche Historiker. Es gibt keinen großen Mann, der nicht zu Napoleon, zu Plato, zu Mohammed in einem persönlichen Verhältnisse stünde. So nämlich erweist er auch denen seine Achtung und wahre Pietät, die vor ihm gelebt haben. Und wenn so mancher, der mit Künstlern verkehrt hat, sich peinlich berührt fühlte, als er sich später in einer ihrer Schöpfungen wiedererkannte; wenn deshalb so oft über den Dichter die Beschwerde laut wird, daß ihm alles zum Modell werde, so ist das unangenehme Gefühl in solcher Situation nur zu begreiflich; aber der Künstler, der mit der Kleinlichkeit der Menschen nicht rechnet, hat darum kein Verbrechen begangen: er hat, in seiner Weise der unreflektierten Darstellung und Neuerzeugung der Welt, an ihm den schöpferischen Akt des Verständnisses vollzogen; und es gibt kein Verhältnis zwischen Menschen, das reiner wäre als dieses.

Damit dürfte denn auch das sehr wahre, schon einmal erwähnte Wort Pascals an Verständlichkeit gewonnen haben: »A mesure qu'on a plus d'esprit, on trouve qu'il y a plus d'hommes originaux. Les gens du commun ne trouvent pas de différence entre les hommes.« – Es hängt mit all dem ferner zusammen, daß ein Mensch, je höher er stehen, desto größere Anforderungen bezüglich des Verstehens fremder Äußerungen an sich stellen wird; während der Unbegabte bald etwas zu verstehen glaubt, oft gar nicht einmal fühlt, daß hier etwas ist, das er nicht versteht, den fremden Geist kaum empfindet, der aus einem Kunstwerk, aus einer Philosophie zu ihm spricht; und so höchstens ein Verhältnis zu den Sachen gewinnt, aber nicht zum Nachdenken über den Schöpfer selbst sich aufschwingt. Der bedeutende Mensch, der die höchste Stufe der Bewußtheit erklimmt, identifiziert nicht leicht etwas, das er liest, mit sich und seiner Meinung, während bei geringerer Helligkeit des Geistes sehr verschiedene Dinge ineinander verschwimmen und sich gleich ausnehmen können.

Der geniale Mensch ist derjenige, dem sein Ich zum Bewußtsein gelangt ist. Darum kommt ihm auch das Anderssein der anderen am ehesten zur Abhebung, darum empfindet er im anderen Menschen auch dann dessen Ich, wenn dieses noch gar nicht stark genug war, um jenem selbst zum Bewußtsein zu kommen. Aber nur wer fühlt, daß der andere Mensch auch ein Ich, eine Monade, ein eigenes Zentrum der Welt ist, mit besonderer Gefühlsweise und Denkart, und besonderer Vergangenheit, der wird von selbst davor gefeit sein, den Mitmenschen bloß als Mittel zum Zweck zu benützen, er wird der Kantischen Ethik gemäß auch im Mitmenschen die Persönlichkeit (als Teil der intelligiblen Welt) spüren, ahnen und darum ehren, und nicht bloß an ihm sich ärgern. Psychologische Grundbedingung alles praktischen Altruismus ist daher theoretischer Individualismus.

Hier liegt also die Brücke, welche vom moralischen Verhalten sich selbst gegenüber zum moralischen Verhalten dem anderen gegenüber führt, jene Vermittlung, deren Mangel in der Kantschen Philosophie von Schopenhauer mit Unrecht als ein Fehler derselben angesehen, und ihr wie ein notwendiges, in ihren wesentlichen Prinzipien begründetes Unvermögen ausgelegt wurde.

Die Probe darauf ist leicht zu machen. Nur der vertierte Verbrecher und der Irrsinnige interessieren sich gar nicht auch nur für irgend einen unter ihren Nebenmenschen, sie leben, als ob sie allein auf der Welt wären, sie fühlen die Anwesenheit des Fremden gar nicht. Es gibt also keinen praktischen Solipsismus: in wem ein Selbst ist, für den gibt es auch ein Selbst im Nebenmenschen; und nur wenn ein Mensch seinen (logischen und ethischen) Wesenskern eingebüßt hat, reagiert er auch auf den zweiten Menschen nicht mehr so, als ob dieser ein Mensch, ein Wesen mit durchaus eigener Persönlichkeit wäre. Ich und Du sind eben Wechselbegriffe.

Am stärksten gelangt der Mensch zum Bewußtsein seiner selbst, wenn er mit anderen Menschen beisammen ist. Darum ist der Mensch in Gegenwart anderer Menschen stolzer, als wenn er allein ist, und bleibt es den Stunden seiner Einsamkeit aufgespart, seinen Übermut zu dämpfen.

Endlich: wer sich tötet, der tötet gleichzeitig die ganze Welt; und wer den anderen mordet, begeht eben darum das schwerste Verbrechen, weil er in ihm sich gemordet hat. So ist denn jener Solipsismus im Praktischen ein Unding, und sollte lieber Nihilismusgenannt werden; wenn kein Du da ist, darin ist auch sicherlich nie ein Ich vorhanden, es bleibt hernach überhaupt – nichts.

Auf die psychologische Verfassung kommt es an, welche es unmöglich macht, den anderen Menschen als Mittel zum Zweck zu gebrauchen. Und da fand sich: wer seine Persönlichkeit fühlt, der fühlt sie auch in anderen. Für ihn ist das Tat-tvam-asi keine schöne Hypothese, sondern Wirklichkeit. Der höchste Individualismus ist der höchste Universalismus.

Schwer irrt also der Leugner des Subjektes, Ernst Mach, wenn er glaubt, nach dem Verzicht auf das eigene Ich sei erst ein ethisches Verhalten, »welches Mißachtung des fremden Ich und Überschätzung des eigenen ausschließt«, zu erwarten. Es hat sich eben gezeigt, wohin der Mangel eines eigenen Ich im Verhalten zum Nebenmenschen führt. Das Ich ist Grundbedingung auch aller sozialen Moral. Gegen eine bloße Verknotungsstellevon »Elementen« werde ich mich, rein psychologisch, nie ethisch verhalten können. Als Ideal kann man das aussprechen; es ist aber dem praktischen Verhalten ganz entrückt, kann ihm nie als Norm dienen, weil es die psychologische Bedingung aller Verwirklichung der sittlichen Idee eliminiert, während die moralische Forderung eben psychologisch da ist.

Gerade umgekehrt handelt es sich darum, jedem Menschen bewußt zu machen, daß er ein höheres Selbst, eine Seele besitzt, und daß auch die anderen Menschen eine Seele besitzen. (Dazu wird der größte Teil der Menschheit aber immer einen Seelenhirten benötigen.) Erst hiemit ist ein ethisches Verhältnis zum Nebenmenschen da, wirklich da.

Dieses Verhältnis aber ist im genialen Menschen in einzigster Weise verwirklicht. Niemand wird mit den Menschen, und darum an den Menschen, mit denen er lebt, so leiden wie er. Denn in bestimmtem Sinne wird sicherlich der Mensch nur »durch Mitleid wissend«. Ist Mitleid auch nicht selbst klares, abstrakt – begriffliches oder anschaulich – symbolisches Wissen, so ist es doch der stärkste Impuls, um zu allem Wissen zu gelangen. Nur durch Leiden unter den Dingen begreift sie der Genius, nur durch Leiden mit den Menschen versteht er diese. Und der Genius leidet am meisten, weil er mit allem und in allem leidet; aber am stärksten leidet er an seinem Mitleiden.

Wurde in einem früheren Kapitel das Geniale zu erweisen gesucht als jener Faktor, der den Menschen erst eigentlich über das Tier erhebt, und zugleich damit die Tatsache in Verbindung gebracht, daß nur der Mensch eine Geschichte hat (diese erkläre sich aus der allen Menschen innewohnenden und nur graduell verschiedenen Genialität), so muß hierauf nun noch einmal zurückgegriffen werden. Genialität fällt zusammen mit lebendiger Tätigkeit des intelligiblen Subjektes. Und Geschichte offenbart sich nur im Sozialen, im »objektiven Geiste«, die Individuen an sich bleiben sich ewig gleich und schreiten nicht vor wie dieser (sie sind das Ahistorische). So sehen wir hier, wie unsere Fäden zusammenlaufen, um ein überraschendes Resultat zu erzeugen. Ist nämlich – hierin glaube ich nicht zu irren – die zeitlose menschliche Persönlichkeit auch Bedingung jedes wahrhaft ethischen Verhaltens auch gegen den Nebenmenschen, Individualität Voraussetzung einer sozialen Gesinnung, so wird damit auch klar, warum das »animal metaphysicum« und das »ζῷον πολιτιϰόν«, das geniale Geschöpf und der Träger einer Geschichte eines sind, ein und dasselbe Wesen, nämlich der Mensch. Und so ist auch die alte Streitfrage erledigt, was früher da sei, Individuum oder Gemeinschaft: beide nämlich sind zugleich und miteinander da.

Hiemit betrachte ich denn in jeder Beziehung den Nachweis als geführt, daß Genialität höhere Sittlichkeit überhaupt ist. Der bedeutende Mensch ist nicht nur der sich selbst treueste, der nichts von sich vergessende, der, dem Irrtum und Lüge am verhaßtesten, am unerträglichsten sind; er ist auch der sozialste, der einsamste zugleich der zweisamste .Mensch. Das Genie ist eine höhere Daseinsform überhaupt, nicht nur intellektuell, sondern auch moralisch. Der Genius offenbart ganz eigentlich die Idee des Menschen. Er kündet, was der Mensch ist: das Subjekt, dessen Objekt das ganze Universum, und stellt das fest für ewige Zeiten.

Man lasse sich nicht irremachen. Bewußtsein, und nur Bewußtsein, ist an und für sich moralisch, alles Unbewußte unmoralisch, und alles Unmoralische unbewußt. Das »unmoralische Genie«, der »große böse Mensch« ist deshalb ein Fabeltier; von großen Menschen in bestimmten Augenblicken ihres Lebens als eine Möglichkeit ersonnen, um dann, sehr gegen den Willen der Schöpfer, für furchtsame und schwächliche Naturen einen Wauwau abzugeben, mit dem sie sich und andere Kinder schrecken. Es gibt keinen Verbrecher, der seiner Tat gewachsen wäre, der da dächte und spräche wie der Hagen der »Götterdämmerung« an Siegfrieds Leichnam: »Ja denn, ich hab' ihn erschlagen, ich, Hagen, schlug ihn zu tot!« Napoleon und Baco von Verulam, die man als Gegeninstanzen anführt, werden intellektuell bei weitem überschätzt oder falsch gedeutet. Und zu Nietzsche darf man in diesen Dingen – wenn er von den Borgias zu reden anfängt – am wenigsten Vertrauen hegen. Die Konzeption des Diabolischen, des Antichrist, des Ahriman, des »Radikal-Bösen in der menschlichen Natur« ist überaus gewaltig. Mit dem Genie aber hat sie nur insofern zu schaffen, als sie gerade sein Gegenteil ist. Sie ist eine Fiktion, geboren in den Stunden, da große Menschen gegen den Verbrecher in sich den entscheidenden Kampf gekämpft haben.

Universelle Apperzeption, Allgemeinbewußtsein, vollkommene Zeitlosigkeit ist ein Ideal, auch für die »genialen« Menschen; Genialität ist ein innerer Imperativ, nie bei einem Menschen je gänzlich vollzogene Tatsache. Darum wird zuallerletzt ein »genialer« Mensch, er am allerwenigsten, von sich so einfach zu sagen imstande sein: »Ich bin ein Genie.« Denn Genialität ist, ihrem Begriffe nach, nichts als gänzliche Erfüllung der Idee des Menschen, und darum genial etwas, das jeder Mensch sein sollte und das zu werden prinzipiell jedem Menschen möglich sein muß. Genialität ist höchste Sittlichkeit, und darum Pflicht eines jeden. Zum Genie wird der Mensch durch einen höchsten Willensakt, indem er das ganze Weltall in sich bejaht. Genialität ist etwas, das die »genialen Menschen« auf sich genommen haben: es ist die größte Aufgabe und der größte Stolz, das größte Unglück und das größte Hochgefühl, das einem Menschen möglich ist. So paradox es klingt: genial ist der Mensch, wenn er es sein will.

Nun wird man freilich sagen: sehr viele Menschen möchten sehr gern »Original-Genies« sein, und es hilft ihnen doch aller Wunsch nicht dazu. Aber wenn diese Menschen, die »es sehr gern möchten«, eine lebhaftere Ahnung davon hätten, was das, wonach ihr Wunsch verlangt, eigentlich bedeutet, wenn ihnen aufgegangen wäre, daß Genialität identisch ist mit universeller Verantwortlichkeit – und bevor einem etwas ganz klar ist, kann er es ja nur wünschen, nicht wollen –, so ist wahrscheinlich, daß die weitaus größte Zahl der Menschen, genial zu werden, ablehnen würde.

Aus keinem anderen Grunde auch – Toren glauben dann an die Nachwirkungen der Venus oder an die spinale Degeneration des Neurasthenikers – verfallen so viele geniale Menschen dem Irrsinn. Es sind diejenigen, denen die Last zu schwer wurde, die ganze Welt gleich dem Atlas auf ihren Schultern zu tragen, und darum immer kleinere, minder hervorragende, nie die allergrößten, nie die stärksten Geister. Je höher aber ein Mensch steht, desto tiefer kann er stürzen; alles Genie ist Überwindung eines Nichts, eines Dunkels, einer Finsternis, und wenn es entartet und verkommt, so ist die Nacht um so schwärzer, je strahlender früher das Licht war. Das Genie nun, das zum Irrsinnigen wird, will nicht mehr Genie sein; es will statt der Sittlichkeit – das Glück. Denn aller Wahnsinn entsteht nur aus der Unerträglichkeit des an alle Bewußtheit geknüpften Schmerzes; und darum hat Sophokles am tiefsten das Motiv angedeutet, warum ein Mensch auch seinen Irrsinn wollen kann; indem er den Aias, dessen Geist denn auch zuletzt der Nacht verfällt, sagen läßt:

ἐν τῷ φρονεῖν γὰρ μηδὲν ἤδιστος βίος

Ich beschließe dieses Kapitel mit den tiefen, an die erhabensten Momente des Kantschen Stiles gemahnenden Worten des Johann Pico von Mirandola, für deren Verständnis ich hier vielleicht einiges getan habe. Er läßt in seiner Rede »Über die Würde des Menschen« die Gottheit zum Menschen also sprechen:

»Nec certam sedem, nec propriam faciem, nec munus ullum peculiare tibi dedimus, o Adam: ut quam sedem, quam faciem, quae munera tute optaveris, ea pro voto, pro tua sententia, habeas et possideas. Definita caeteris natura intra praescriptas a nobis leges coercetur; tu nullis angustiis coercitus, pro tuo arbitrio, in cuius manu te posui, tibi illam praefinies. Medium te mundi posui, ut circumspiceres inde commodius quicquid est in mundo. Nec te caelestem, neque terrenum, neque mortalem, neque immortalem fecimus, ut tui ipsius quasi arbitrarius honorariusque plastes et fictor in quam malueris tute formam effingas. Poteris in inferiora quae sunt bruta degenerare, poteris in superiora quae sunt divina, ex tui animi sententia regenerari.

O summam Dei Patris liberalitatem, summam et admirandam hominis felicitatem: cui datum id habere quod optat, id esse quod velit. Bruta simul atque nascuntur id secum afferunt e bulga matris, quod possessura sunt. Supremi spiritus aut ab initio aut paulo mox id fuerunt, quod sunt futuri in perpetuas aeternitates. Nascenti homini omniferaria semina et omnigenae vitae germina indidit Pater; quae quisque excoluerit, illa adolescent et fructus suos ferent in illo: si vegetalia, planta fiet, si sensualia, obbrutescet, si rationalia, caeleste evadet animal, si intellectualia, angelus erit et Dei filius. Et si nulla creaturarum sorte contentus in unitatis centrum suae se receperit, unus cum Deo Spiritus factus, in solitaria Patris caligine qui est super omnia constitutus omnibus antestabit


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