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Der unsterbliche Schimmel

Der Weihnachtsbaum regte sich mit den flackernden Seelen seiner Kerzen, und es knisterte geheimnisvoll auf, wenn eines der Flämmlein den grünen Zweig über sich ergriff und sengte. Und unter der Tanne schimmerte ein hagebuchenes, apfelrundes Schaukelpferd. Mein Junge, damals drei Sommer alt, näherte sich sofort, aller Lichtwunder vergessend, dem Tier. Es war ein Schimmel. Grundfest stand er mit seinen derben, verlässlichen Pinzgauerbeinen auf den sanft gebogenen Kufen, die Glasaugen voll ungestümen Feuers, die ledernen Öhrlein wachsam aufgereckt, die Nüstern hochgezogen und die Zähne bedenklich fletschend, wallend und stolz die Mähne an dem kühnen Nacken. Der Bub ging nicht ohne Misstrauen um das Ross herum. Es endete hinten in einen ritterlich üppigen Schweif, in dessen Schwung sich ein gewisser Heldenmut offenbarte, obzwar – wie das Söhnlein sofort feststellte – das flächserne Gebilde in ein, zweckmäßig gebohrtes Loch eingeleimt war. Es war ein tadelloser Schimmel, sein weißes Fell war hie und da von zart hingehauchten grauen Flecken malerisch verschleiert, und an den behäbigen Flanken hingen einladend die blitzblanken Steigbügel. Fürwahr, kein noch so edler Wüstenscheich hat je ein solch wackeres Vollblut geritten!

Der Jörgel fasste nun einiges Vertrauen zu dem Geschöpf und ließ sich auf die rotgemalte Satteldecke heben, stellte die Zehen in die Bügel, ergriff den Zügel und begann mit äußerster Vorsicht ein wenig zu schaukeln. Hurrah, es ging! Wie eine Wiege bewegte sich das Ross, der tapfere, in Abenteuer hinauszielende Kopf hob und senkte sich, und hinter dem Reiter ging es ähnlich vonstatten. Das Gesicht des Buben verklärte sich. Von der Lust des gleichmäßigen Schwunges erfasst, begleitete er die Bewegung mit den entzückt gestammelten Worten. »Und hin! Und her! Und hin! Und her! Schaukel-schimmel! Schaukel-schimmel!« Plötzlich hielt er inne. Sein geschichtlicher Sinn war erwacht. »Vater, woher ist das Ross? Aus dem Himmel ist es nicht gefallen, da hätt es sich den Bauch zerbrochen.«

Ich sah das ein. Mit der Lüge von einem himmlischen Ursprung war bei diesem Sachlichkeitsmenschen da nichts auszurichten. »Das Rössel stammt aus dem Rantscherwald«, hub ich unsicher an. »Du kennst doch den Erlhof, der tief und einsam drin liegt?«

»Von dort also ist das Ross her?«

»Jawohl, Und sein Vater war ein Schimmel und sein Großvater auch einer.«

»Und seine Großmutter war auch eine Schimmlin?«

»Jawohl. Und der Urgroßvater war das schönste Ross im ganzen Grenzgebirge. Der Fürst wollte dafür dem Erlhofer den ganzen grünen Rantscherwald geben. Aber der Bauer, der tauschte nicht. Selbstverständlich nicht: Er sagte immer: ›Kein schöneres Roß als ein Schimmel, voraus der meine!‹ Hernach hat ihm der Fürst sieben graue Rösser dafür geben wollen. Der Erlhofer hat den Kopf geschüttelt. – Er hat gesagt: ›Hundert graue Rösser machen noch immer keinen Schimmel!‹ Aber zuletzt hat er den Schimmel doch verkauft. Vor hundert Jahren, und um hundert Taler.«

»Das ist gar nicht schön von ihm«, meinte der Jörgel traurig. »Er hat ihn über die Grenze hinüber ins Bayerische verkauft. Aber es hat ihn bald gereut. Und in der Nacht ist der Erlhofer ins Bayerische geschlichen, hat dort heimlich den Schimmel von der Raufe losgebunden, und wie jetzt die andern Rösser unruhig werden und stampfen, die Knechte erwachen und aus dem Haus rennen, reißt der Erlhofer den Schimmel aus dem Stall, schwingt sich darauf, und mit einem einzigen Satz springt das Ross über den riesigen Misthaufen, und bald hört man es lustig weit drin im Rantscher wiehern.«

»Warum kann der Schimmel da nicht wiehern?« fährt mir der Jörgel in die Quere, ehe ich die Märe von dem wunderbaren Rossdieb zu einem befriedgenden Ende führen kann.

»Der Schimmel da ist noch jung«, sagte ich. »Wir müssen es ihm mit Geduld beibringen.« Ich versuchte bescheiden zu wiehern. Es misslang mir.

Darauf meinte mein Sohn: »Wir müssen es selber erst lernen.« Tags darauf ritt der Jörgl schon weit verwegener. Am dritten Tag überschlug sich das Ross mit ihm. Von nun an hatte er das rechte Maß gefunden.

Oft sah ich dem kleinen Reiter zu. Sein in der Umrahmung der lang niederfallenden, lichtgoldenen Locken zartes Elfengesicht verernstete sich, die Stirn wurde streng, die versunkenen Augen zielten über die Nähe hinaus. Das Herz des Reiters stürmte vorwärts, die Mauern der Stube öffneten sich, die unbekannte Welt lag grenzenlos gebreitet vor den Hufen des Renners. Wohin ritt das schweigende Kind? In welches überwirkliche Leben? In Steppen, in wüste Wälder, in selige Gärten, strahlende Bergschlösser, in den Kampf gegen böse Engel und zottige Riesenkerle? Jedenfalls beneidete ich meinen Sohn, und jetzt nach so vielen Jahren kann ich es ja gestehen, dass ich in meiner Neugier einmal bei verschlossenen Türen gleichfalls den Ritt auf dem Schaukelschimmel versuchte.

Das Tier, bot übrigens eine Fülle neuer Möglichkeiten: es wurde gekämmt und gestriegelt, es musste, als der Frühling ausbrach, im Garten grasen, es musste saufen aus dem Flüsschen Angel, das sommerlich dünn unter den Büschen vor unserem Haus vorüberschlich. Es erkrankte, hatte Zahnweh, und sein trotziger Kopf wurde barmherzig mit einem Tüchlein umwunden.

Einmal steckte der Jörgel ihm einen Brocken Brot ins leise geöffnete Maul und gleichzeitig hinten unter den Schweif einen Papierstöpsel. Mir war nicht klar, was er damit bezweckte. Offenbar wollte er den Verdauungsvorgang im Sinnbild andeuten. Ich kam ihm in dieser Sache hernach bald zu Hilfe, und zwar mit einem Rossapfel, den ich auf nächtlicher Straße eilends aufraffte und heimlich bei dem Schimmel hinterlegte. Das war ein Jubel, als der Junge den echten, wohlgeratenen, frischgebackenen Apfel an zuständiger Stelle als saftiges Lebenszeugnis vorfand. Allerdings den Blick meiner Frau damals vergesse ich nie.

Auch auf die Entwicklung neuer häuslicher Gepflogenheiten wirkte der Schimmel bestimmend ein. Dazumal war ich noch ein junger, grüner Schulmeister, und immer, wenn ich ins Amt ging, begehrte der Jörgel einen Kuss von mir, und wenn er ihn erhalten hatte, befahl er: »Und der Mutter auch!« Und hernach befahl er zum dritten: »Und dem Schaukelpferd auch!« Es ist das einzige Tier, das ich mein Lebtag geküsst habe.

Die Jahre fliehen. Der Bub entwuchs dem Rösslein, seine mädchenhaften Locken fielen unter der Schere, sein Gesicht wurde jungenhafter, nüchterner, sein Sinn kehrte sich männlicheren Dingen zu. Er schmiedete Schwerter, er baute mittels vier Schweinsblasen ein Luftschiff, er wurde mit seinen Spießgesellen in Felsen, Dickichten und Baumwipfeln unsichtbar. Er lernte die Zahl kennen, die Töterin aller Träumerei, er lernte kennen, was die Dinge kosteten. Er bekam Baukästen, womit er Brücken, Kräne und Türme aus Holz und aus Stahl baute. Ihn zog plötzlich die wilde Poesie der Maschinen an, er begann blitzschnell die Ergebnisse seines technischen Zeitalters zu durchschauen, die seinem humanistisch gebildeten Vater stets ein unlösliches Rätsel blieben (was dieser jedoch, vor der Mitwelt mit nicht geringer Lebenskunst zu verbergen wusste).

Jahrelang trauerte nun der Schimmel ungeritten und ungeküsst im Dämmer des Gerümpelbodens. Aber seine Sendung war noch nicht vorüber. Er tauchte wieder glorreich ans Licht.

Dem benachbarten Bäcker brachte der Storch alljährlich ein Büblein, und der Ähnel dort, ein in tausend Fertigkeiten bewanderter Mann, holte einmal im Herbst das Schaukelpferd und bastelte verstohlen daran und erneute zunächst den kläglich gewordenen Schweif, indem er in den Stall schlich und dem lebendigen Ross dort eine Handvoll Haare abschnitt. Und bald prangte unter dem Weihnachtsbaum des Bäckers funkelneu angestrichen und bezäumt und beschweift ein Rappe mit teuflisch tückischen Augen, und des Nachbars Ältester, der Franzel, bestieg ihn und ritt ihn fortan zwei Jahre lang. Dann tauchte das Tier weihnachtlich wieder zum Rotfuchs gewandelt auf, und der Seppel kam an die Reihe. Und aber nach einem Jahr erschien ein semmelgelbes Pferdchen mit grünem Sattel, und der Michel nahm es zwischen die Schenkel. Und hernach kam es zur Verwandtschaft, der es ebenfalls an Buben nicht mangelte, und dort lebte es, von der heimlichen Kunst des Ähnels immer wieder verjüngt und gewandelt, als Brauner, als Falbe, als Scheck, kurzum in allen möglichen Farbtönungen. Vielleicht auch in Blau. Denn warum soll es nicht auch einmal einen blauen Schimmel geben?

Mit immer schnelleren Hufen jagte die Zeit weiter. Mein Sohn war inzwischen Mittelschüler geworden und grüßte die Mädchen.

Zweimal noch begegnete ich unserm alten Weihnachtsrösslein.

Das einmal hatte es goldene Hufe und wiegte sich hinter den Gärten der Stadt unter sieben anderen Schaukelpferden. »Was treibt ihr da?« fragte ich staunend die kleine Reiterei. Einer von den Buben erwiderte, sie spielten Einzug in Jerusalem. Der Tonerl vom Klempnermeister Riedes, der größte Lausbub im Ort, saß auf dem goldbehuften Tier und war der Jesus.

Und nach manchem Jahr fand ich das Rössel im Hof des Bäckers auf einem Haufen Brennholz. Seine Augenhöhlen waren leer, der tapfere Blick darin war versiegt, die schmutzigen Hufe waren von den Kufen gelöst, der Leib war zerspalten, ein Bein fehlte. Verschrammt und abgekämpft lag es da, niemand reichte ihm das Gnadenbrot. Die kühne Mähne war spärlich geworden wie der Hafer des armen Mannes.

Und dennoch: das Rösslein hatte ein erfülltes Leben hinter sich. In immerwährender Verjüngung des Leibes, in fröhlicher Seelenwanderung war es über die Welt hin geschaukelt. Elf strahlende Buben hatte es in träumerische Abenteuer getragen und ihnen die ersten Schimmer männlichen Heldentums spielerisch ins erwachende Herz gewiegt.

O Rösslein der Kindheit, soll ich um dich trauern?

Bald war der verstümmelte Leib verschwunden. Aus dem Rauchfang der Bäckerei aber stieg ein wunderblauer Holzrauch steil empor und löste sich in höchsten Himmel.


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