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Im Turm zu Hubelschmeiß

Drei bayerische Meilen nördlich der Donau liegt in einer Landschaft, die spottweise das Holzbirnenparadeis genannt wird, das arg vermooste Dorf Hubelschmeiß. (Uralten Ursprunges, stand sein Name schon in den Papstzinsverzeichnissen des Jahres 1352 zu lesen und daneben das Wörtlein »gar arm«. Im Sommer 1656 ersuchte bei obschwebender Türkengefahr das Dorf, obzwar es weit vom Schuss war, das ein halbes Stündlein entfernte Ortlein Schwabelweiß, ihm Zuflucht zu gewähren, falls die grausamen Halbmondreiter ins Land brächen. Weitere urkundliche Nachweise über die Vergangenheit von Hubelschmeiß lassen sich nicht erbringen.)

Die ansonst wohlversehene Gemeinde entbehrte leider des Gelasses; darein man verdächtiges und lichtscheues Gesindel oder ansonst Leute festsetzen konnte, die ungebührliche Schmähungen wider die Obrigkeit ausstießen. Es hieß, die Männer von Hubelschmeiß hätten einmal einen ertappten Lämmerdieb mangels eines festen Gewahrsams unter einem Graskorb versperrt, und der dortmalige Bürgermeister hätte sich daraufsetzen müssen, dass der Lump nicht entlaufe. Dieses erlogene Märlein war dem Ansehen des Dorfes sehr abbrüchig und führte zu Unfrieden mit den nachbarlichen Örtern, zumal da die Hubelschmeißer ein kitzliches und hitziges Volk waren und keinen Spott aut sich sitzen ließen. Um dieser bösen Nachrede die Wurzel auszugraben, bauten sie einen winzigen, aber festen Turm, versperrten ihn mit einer starken Eichentür und schlugen vor das Fenster ein eisernes Gitter. Das Stüblein drin aber war freundlich, und sie rüsteten es wohnlich aus, dass sie sich seiner nicht zu schämen brauchten. Auch eine Uhr hängten sie an die Wand, die Gefangenen sollten daran die Qual der langsamen Zeit gründlich auskosten.

Sie mussten lange auf den ersten Häftling warten, denn sie waren in diesem Hinblick wählerisch und wollten die Ehre nicht jedem ersten besten gönnen, nicht etwa einem zottigen Zigeuner, der ihnen noch dazu Ungeziefer züchtete in das säuberliche Stüblein, und auch nicht einem einheimischen Krautdieb, sondern einem hochgefährlichen Kerl, einem düsterlichen Moritäter, der von weither war.

Den Hut windschief am Schopf, das Kinn auf den Haselstock gestützt, saß der Landstreicher Kardanäus Dunzel am Straßengraben und zupfte Gras. Seine Kunst war, sich um zwei Tage nicht mehr zu kümmern, nimmer um den gestrigen und nimmer um den morgigen. Das Leben gefiel ihm, wie es war. Die Föhre am Weg war sein Dach, der grüne Rasen sein Bett, sein Wein war, was der Gänsschnabel trank, und sein Brot kam aus dem Ungewissen. Aber frei war er wie der Fink im Hagedorn.

Der Tag war trüb, es hätte gern geregnet und konnte nicht. Fern blies ein Hirtenhorn. Eine Elster plauderte.

Den Dunzel packte auf einmal, er wusste nicht warum, das süßtraurige Gefühl des Heimwehs. Und er hatte doch keine Heimat. Ein rotes Ziegeldach zu Häupten, ein Tisch, darunter die wegzerrissenen Füße zu recken, ein frisch und prall gestopfter Strohsack! Wie schön wäre das! Und dann eine dampfende Schüssel vor sich mit Fleisch und Kraut! Der Dunzel schnupperte träumerisch. En hatte heute noch keinen warmen Löffel im Magen.

Schau, schau, geschehen noch Wunder? Ein feister Gänserich: wackelte einsam die Straße daher, das Bäuchlein schleppte er schier auf der Erde hin.

Der Dunzel lugte über die Flur. Weit und breit zeigte sich kein Mensch. Da rückte er vergnüglich den Spitzhut und grüßte: »Gehorsamster Diener, lieber Ganser! Wem gehörst du denn? Was, du antwortest nicht? Du weißt also nicht, wem du gehörst? Vielleicht gehörst du überhaupt niemandem? Nun, wenn du gar so verwaist in der Welt stehst, will ich mich deiner annehmen!'

Flugs griff er nachdem züngelnden Vogel, barg ihn unter dem Röcklein, so gut es ging, und strabanzte davon. Den Gänser wollte er im Wald rupfen und überm Feuer sengen. Doch schon war ein Bauernhaufe hinter ihm her, handfeste, hurtige Leute, und zu allem Unglück fing der Vogel rechtschaffen um Hilfe zu schreien an. Es war kein Brombeerbusch und kein Heuschober in der Nähe, sich zu verstecken, und darum ließ der Dunzel seine Beute los, blieb stehen und schaute scheinheilig darein. Jetzt fährt ein grobes bayerisches Donnerwetter nieder, dachte er. »O, ich armer Schlemihl!«

Sie packten ihn hart an, ächteten nicht auf sein rotwelsches Geplapper und fluchten: »Gansdieb, marsch mit dir ins Loch!« »Lasst euch sagen, ihr Kaffern«, bettelte er, »haut mir lieber fünfundzwanzig aufs nackte Fleisch, ich will euch eine Quittung darüber ausstellen und mich nimmer bei euch blicken lassen!«

Und er sträubte sich und warf sich auf die Straße hin. Aber die Hubelschmeißer waren fröhlich, dass sie endlich ihren Gefangenen hatten, sie holten einen Schubkarren, luden den Dunzel auf und schafften ihn ins Dorf, und dort schlossen sich ihnen alle Hunde an und lästerten und beschimpften den Fremden. Man wollte mit ihm ein Verhör anstellen und ein Protokoll aufnehmen, da aber in ganz Hubelschmeiß kein Tintenfass zu finden war, so unterblieb das.

Am Friedhof war gerade ein Begräbnis zu Ende, die Wittib stand vor der Grube, warf die Arme in die Luft und zeterte: »So einen krieg ich nimmer! So einen nimmer!«

Der Dunzel war wundersam überrascht, als er in das Gefängnis gestoßen wurde. Er hatte einen feuchten, finsteren Unkenkeller erwartet, und nun stand er in einem funkelnagel, neuen, reinlich geweißten Stüblein, drin ein Bett, das zu behaglicher Rast einlud und auf dem Tisch ein blauer Willkommenstrauß herzlich grüßte. Durch das vergitterte Fenster sah man das Kirchlein, in dessen hohe, hagere, vergraste Fenster schier die Waldtannen mit ihrem Geäst stießen, und dann den Dorfanger.

Der Dunzel setzte seinen Hut auf den Stock und lehnte ihn also in die Ecke. Hernach brachte er. die braune Wanduhr in Gang. »So, jetzt lebt etwas neben mir«, sagte er. »Jetzt ich erst recht daheim.«

Wittib Aurelia Huber, den stattlichen Leib mit unzähligen Kitteln gepolstert, ging draußen mit einem alten Menschen vorüber, der eine Schaufel trug und nach dem Grab roch. »Das überleb ich nicht!« jammerte sie. »In ein paar Tagen folg ich meinem Seligen nach! Grab mir ein Loch in deinem Kreuzgarten, Meister Josef!«

»Heut noch grab ich es«, sagte der Totengräber dumpf. Der Dunzel steckte den Kopf durchs Gitter und zwischen Pelargonien und Kaktus zum Fenster hinaus. Birngrün leuchtete der ruhige Himmel, steiler Rauch blaute über den Schindeldächern, und eine Abendfriedensglocke scholl schläfrig. Hier war gut sein!

Jetzt lebte der alte Landstreicher Kardanäus Dunzel in vollkommener Sorglosigkeit. Das Essen wurde zur rechten Zeit ihm auf den Tisch gestellt und langte reichlich. Und die Zeit wusste er sich zu kürzen. Er sah, wie Mensch und Vieh sich auf dem Dorfplatz gebärdeten. Und den Kindern, die sich vor seinem Gitter versammelten, erzählte er von der Welt, die er durchstreift hatte und die er bis aufs letzte Tüpflein kannte: von den wunderlichen Wahrzeichen zu Regensburg, vom Teufel im Loch, vom blauen Esel und vom nackten Mann auf der steinernen Brücke, der »Schuck, wie heiß!« sagt. Und der Dorfnarr, ein verkümmertes, ältliches Büblein, wurde zutraulich, starrte zum Fenster herein und flüsterte geheimnisvoll und wichtig: »Einmal eins ist eins!« Und da drüben im Lattichgärtlein kräutelte die Wittib Aurelia Huber, die bereits sechs eheliche Männer unter der Erde versorgt hatte, und sang mit betrübtem Hall:

»Die Rosen blühn im Grarten,
Die Blätter fallen ab,
Ich kann es nicht erwarten
Bis an das kühle Grab.«

Der Dunzel schmunzelt in sich hinein. Alles Volk hier hauste in abgelebten, baufälligen Mauern, er aber bezog ein neues, sicheres Haus, daraus er lustig schaute wie die Maus aus dem Brotlaib. Alle anderen mussten sich irgendwie plagen: der Pfarrer hätte die schwierige Predigt auswendig zu lernen, die Bauern sichelten Disteln und mussten im Schweiß ihrer Stirn das Brot schaffen, der Totengräber schaufelte auf und schaufelte zu, der Hirt rannte fluchend den übermütigen Kühen nach. Der Nachtwächter musste schildwachen, und er stand oft weltschmerzlich im erbärmlichen Regen, den Mantel durchtränkt, und aus der Hutrinne rann ihm das Wasser auf die Schultern. Der Dunzel allein lebte ohne Mühsal, geborgen vor den Unbilden der Welt und zufrieden.

Die Wittib Aurelia Huber hatte eine Woche lang geklagt: »Ach, ach und ach, ich kränkel dahin! Totengräber, schart mir die Erde auf!« Aber ihr verdrossener Mut schlug ins reinste Himmelblau um, als sie das vergnügte Gesicht des Dunzel im Fenster des Gemeindeloches wieg einen aufgeblühten Kugelkaktus schimmern sah. Sie gab ihm alsbald mit zwei Augen, die einem Arsenikross zur Zierde gereicht hätten, wohl zu verstehen, was er zu hoffen hatte und ließ ihm heimlich ein Brieflein zukommen, darum ein Herzrahmen gespannt war. Und als hernach der Meister Josef ihr anzeigte, das bestellte Grab stünde schon offen, da lachte sie: »Schütt es zu, schütt es wieder zu! Es ist nimmer nötig.« Und einmal abends machte sie sich reizend, sie setzte einen Hut aus Blumen auf, zog zum siebentenmal den schwarzseidenen Brautrock an und die geißledernen Hochzeitsschuhe mit den Spitzstöckeln, die so hoch waren, dass ihr fast schwindelte, wenn sie ins Gras hinunterschaute. Und sie klöpfelte heimlich an das Fenster des Türmleins und schnurrte zärtlich: »Tu auf, lieber Einsiedel!« Und der liebe Einsiedel drin erwachte, riegelte das Fensterlein auf und reckte den harten Bart durchs Gitter, und der Mond brannte in mildem Feuer, und auch der Dunzel geriet in eine gelinde Glut. Fortan flossen seine Tage noch schöner dahin. Die verliebte Wittib suchte sich mit feisten Speisen seine Gunst zu bewahren, und er tat sich gütlich an den Werken ihrer Küche und ließ sich die zarten Backhühner, das angenehm und nicht übertrieben durchsäuerte Kraut und die Knödel wohl behagen, die fast so groß waren wie die schwedischen Kanonenkugeln. Sie brachte ihm Krüge voll braunroten Bieres, selbstgebraut und kühl vom Felsenkeller, und täglich einige Lot durchdringenden Schnupftabak, auf dass er alle seine Sinne ergötze.

Darüber aber erwachte der Neid der Bauern. Es verdross sie, dass das Glück dem Faulpelz den süßesten Brei ins Maul käute, und sie murrten: »Wir schinden uns, dass uns das Blut aus den Nägeln tropft. Der Lump arbeitet nichts und sitzt wie in einem Fettauge. Ist das eine Gerechtigkeit?« Also betraten Bürgermeister und Rat eines Tages den Turm und sagten freundlich: »Du hast genug gebüßt, Dunzel. Weich ab! Wir brauchen das Gefängnis für den Dorfnarren.«

Der Dunzel schaute bedenklich auf die Pantoffeln hinunter, darein ihm die Wittib Huber lachende Rosen gestickt hatte, und meinte, er sei fest gewillt, die Strafe des Kerkers bis an sein Lebensende freiwillig zu tragen, und hoffe sich davon eine bessernde Wirkung für seine Seele.

Da erkannten die Männer, dass sie hier nur mit dem bitteren Kräutlein Geduld Widerstand leisten konnten, und sie sperrten klüglich die eichene Tür hinter dem Dunzel nimmer zu, auf dass er entspringen möge.

Ihn aber rührte diese Versuchung nicht. Sollte er wieder die steinigen Straßen und dornigen Raine dahinstreifen und stromem, die Zunge dürr bis in den Schlund hinab und voller Hunger, dass sich ihm das Eingeweide im Bauch bäumte? Er erinnerte sich an die Regengüsse, davon die Vögel in den Nestern ersaufen, und an die Zeit, wo die Steine am Weg kalt werden und das Gebälk der Brücken und wo der Spätherbst in den Stauden hüstelt. Und da sollte er wieder im Graben nächtigen oder in einer morschen Kapelle, die im Wind wackelt? Nein, nein! Und hernach zwingt der Winter den Wald, die Kälte nebelt aus dem Bach, und man erfriert sich zwischen Dreikönig und Lichtmess die Ohrwäschlein! Der Dunzel schüttelt entschlossen den Kopf. Und abends vor dem Schlafengehen verrammelte er die unversperrte Tür von innen mit dem Tisch.

Zur selben Zeit stellte die achtbare und mannhafte Wittib Aurelia Huber an den Bürgermeister das Ansinnen, man möge ihr den eingetürmten Kardanäus Dunzel, Weltreisenden aus Unter-Österreich, zu einer frommen Ehe überlassen. Doch die Obrigkeit wies sie scharf und nicht ohne Entrüstung zurück, mit sechs Männern könnte ein Weib schon zufriedengestellt sein, und sie möge es sich damit genügen lassen, ein siebenter sei schon sträfliches Übermaß. Mit der Schürze vor dem Gesicht lief sie heulend heim, der letzte grüne Schössling ihrer Hoffnung war geknickt.

Wieder sprachen die von Hubelsuhmeiß im Turm vor. Der Bürgermeister missbilligte es mit zarter Mahnung, dass der Häftling noch immer nicht entwischt sei. »Wir meinen es gut deutsch und ehrlich mit dir«, sagte er. »Zieh hin! Jetzt ist noch Zeit. Aber bald würdest du bei uns so strotzend und feist werden, dass du dich kaum mehr von Haus zu Haus schleppen könntest. Drum geh! Du wächst uns schon zum Hals heraus.«

»Mir gefällt es da«, antwortete der Dunzel. »Ich wünsch mir es nicht besser.«

»Du spinnst fein«, ereiferte sich der Förster. »Du Fuchs, dir gehört ein grober Schrot! Wir prügeln dich davon!«

»Oho, das wär gegen Recht und Billigkeit! Und ich schmeiß euch einen Prozess an den Hals, dass ihr euer Lebtag an den Unkosten zu tragen habt!« So drohte der Dunzel. Darauf wussten sich die Männer von Hubelschmeiß nicht anders zu helfen, als dass sie Tür und Tor des Gefängnisses aushoben und wegschafften und der Schmied das Gitter vom Fenster wegriss.

Der Dunzel saß die ganze Nacht wach und wartete zähneklappernd auf Räuber, Totstecher und Geister, die aus dem Friedhof steigen. Der eisige Schweiß brach ihm aus. Auf freiem Feld zu schlafen, ist wahrlich ein Kinderspiel. Aber in einem unversperrten Haus?! In einer Stube ohne Tür und Riegel?! Da kann ja einer einbrechen!! Es war eine bängliche Nacht, wie er sie noch nie erlebt hatte.

Am anderen Morgen griff er nach seinem Stecken und ging. Die Wittib stand betrübt in dem welken Gärtlein ihrer Gefühle und winkte ihm nach.

»Ach ja«, seufzte er weise. »Wer nur zu neunundneunzig Kreuzern geboren ist, bringt es sein Lebtag zu keinem Gulden.« Sehnsüchtig schaute er noch einmal nach dem Gemeindeloch zurück.

Als er aber wieder die offene Straße unter den Fersen spürte und die Ferne seidenblau vor ihm lagerte, das Gras redete, die Stauden sangen und die freien Bäche in die Wiesen fuhren, da verlor sich seine Bekümmernis, er pfiff einen alten, kecken Reitermarsch und trabte davon.


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