Edgar Wallace
Der leuchtende Schlüssel
Edgar Wallace

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28

Surefoots Kopf schmerzte entsetzlich. Er versuchte, die Hände zu bewegen, aber es gelang ihm nicht. Der Wagen raste in wildem Tempo durch eine Gegend, die nicht von Laternen erleuchtet war. Aus dem Geräusch der Räder schloß Smith, daß die Fahrt über eine neuangelegte Straße ging. Es war merkwürdig, daß ihm diese Tatsache wichtig erschien. Er konnte sich auf nichts besinnen und wußte nur, daß er zusammengekrümmt auf dem Boden eines Autos lag. Nach einer kleinen Weile verlor er wieder die Besinnung.

Erst als der Wagen über unebenes Gelände ratterte, kam Smith erneut zu sich. Er schaute auf, versuchte sich zu erheben und merkte nun, daß er Handschellen an den Gelenken hatte. Es waren seine eigenen. Er trug immer ein Paar solcher Eisen in der Tasche.

Jemand hatte ihm die Hände gefesselt. Jemand hatte ihm auch die Beine zusammengebunden. Er fühlte das, konnte aber mit den Händen nicht so weit hinunterreichen, um den Knoten zu lösen. Plötzlich erinnerte er sich an die Dame, an das Auto und an den Chauffeur, nach dem er im Wagen gesucht hatte.

Das Auto rüttelte jetzt so heftig, daß Smith große Schmerzen empfand. Wahrscheinlich fuhren sie über einen gepflügten Acker oder einen Feldweg. Kurz darauf hielt der Wagen an, und die Tür wurde aufgerissen. Der Chefinspektor sah die »Frau« und wußte nun, mit wem er es zu tun hatte.

Ein kleines Landhaus lag wenige Schritte entfernt, ein häßlicher Bau aus roten Ziegeln.

Binny packte seinen Gefangenen am Kragen, zerrte ihn auf die Straße und schleppte ihn zu dem Haus. Die Tür flog auf, und Smith wurde in das dunkle Innere gedrängt. Es roch nach frischem Mörtel, nach Putz und neuem Holz. Binny verschloß die Tür von innen und schob den Detektiv dann in einen vollständig dunklen Raum. Dort stürzte Smith zu Boden. Es war erstaunlich, daß er sich mit gebundenen Beinen so weit hatte fortbewegen können.

Binny steckte ein Streichholz an, und gleich darauf erhellte das Licht einer Petroleumlampe das Zimmer. Es standen zwei Sofas, ein Stuhl und ein Küchentisch in dem Raum. Weder Vorhänge noch Gardinen waren angebracht, und die Fensterläden waren geschlossen. Der ganze Raum machte einen kahlen Eindruck.

Binny setzte sich auf den Stuhl, stemmte die Hände auf die Knie und betrachtete Smith.

Es war schwer, in dieser alten Frau mit dem gelben Gesicht und der grauen Perücke Binny zu erkennen. Er trug einen langen Damenpelzmantel, und die Perücke saß etwas schief. Das gab ihm ein teils komisches, teils grauenerregendes Aussehen. Da er sich um keinen Preis lächerlich machen wollte, nahm er sie ab. Aber mit dem kahlen Kopf und dem gelblichbraunen Gesicht wirkte er noch grotesker.

»Na, jetzt hab' ich Sie gefangen«, sagte er heiser und grinste häßlich. Dann sprach er plötzlich mit der affektiert hohen Stimme, die er als Mr. Washington Wirth stets annahm.

»Dieses kleine Landhaus habe ich mir vor ein paar Jahren gebaut. Ich dachte, ich könnte es einmal brauchen. Aber ich war lange Zeit nicht hier, und nun verlasse ich England. Wollen Sie es nicht kaufen, Mr. Smith? Es ist ein ausgezeichneter Platz, um sich von Berufssorgen zurückzuziehen. Hier hat man Ruhe, und ich sag' Ihnen, Sie werden bald sehr ruhig sein!«

Binny zog eine Pistole aus der Tasche, legte sie auf den Tisch, bückte sich, hob Surefoot auf und lehnte ihn in eine Ecke des Zimmers. Dann knöpfte er das Seidentuch auf, das um die Fußgelenke des Gefangenen geschlungen war, zog ihm die Schuhe aus und warf sie in eine andere Ecke. Nach einer kleinen Pause lockerte er den Kragen des Chefinspektors.

»Es ist Ihnen nichts passiert. Sie sind nicht im geringsten verletzt, Mr. Smith. Ein Gummiknüppel, mit dem man jemand über den Schädel schlägt, tötet nicht. Natürlich ist es unangenehm für Sie, das gebe ich zu.«

Surefoots Mund war trocken, und sein Kopf dröhnte. Aber er fürchtete sich nicht im mindesten, obwohl er seine verzweifelte Lage klar genug erkannte.

»Sie wußten nicht, daß dieser kleine Landsitz mir gehört?«

»O doch, das wußte ich sehr gut. Der Platz liegt etwa hundert Meter von der großen Chaussee nach Taplow entfernt. Sie haben das Grundstück vor vier Jahren gekauft und hundertfünfzig Pfund dafür gezahlt.«

Einen Augenblick war Binny sprachlos.

»Ich habe das Haus in der vorigen Woche von meinen Beamten durchsuchen lassen, und es wird jetzt von der Buckinghamshire-Polizei bewacht. Ein ähnliches Haus haben Sie in Wiltshire.«

Binny starrte ihn verblüfft an. Surefoot sah es und suchte seinen Vorteil rücksichtslos auszunutzen.

»Welchen Zweck hat es denn, solche Dummheiten zu machen, Binny? Vorläufig können wir nicht beweisen, daß Sie einen Mord begangen haben. Wir wissen nur, daß Sie Hervey Lynes Schecks gefälscht haben. Das Schlimmste, was Ihnen passieren kann, sind sieben Jahre. Vielleicht bekommen Sie noch eins extra, weil Sie mich hierhergeschleppt haben. Aber was bedeutet ein Jahr! Holen Sie mir jetzt etwas Wasser. Hinter diesem Zimmer liegt die Küche. Lassen Sie es erst eine Zeitlang laufen, neulich war es rostig und trübe. Auf der Anrichte steht ein Zinnbecher, waschen Sie ihn erst gründlich aus!«

Der Instinkt, zu gehorchen, ist bei den meisten Menschen größer als der Instinkt, zu befehlen. Binny ging hinaus, kehrte mit dem Zinnbecher zurück und hielt ihn an die Lippen seines Gefangenen.

»So, nun nehmen Sie mir die Handfesseln ab. Dann wollen wir uns ein wenig unterhalten. Warum haben Sie nicht Mike Hennessey hierhergebracht, statt ihn –« Surefoot hielt ein, denn er erkannte sofort, welch einen großen Fehler er gemacht hatte.

Binny trat wütend zurück.

»Haben Sie nicht eben gesagt, daß Sie mich nicht wegen Mordes verfolgen wollen? Sie sind ein ganz gemeiner, doppelzüngiger Kerl! Aber ich werde Ihnen schon zeigen, was ich mit Ihnen vorhabe!«

Er langte nach der Pistole auf dem Tisch, nahm sie auf und prüfte sie sorgfältig.

»Ich hatte Ihnen schon immer sagen wollen, wo Ihre Macht zu Ende ist«, begann er.

»Nun, Ihr Wunsch ist in Erfüllung gegangen«, erwiderte Surefoot kühl. »Es wäre besser, wenn Sie sich beeilten.«

»Sie können sicher sein, daß ich mich beeile.«

Binny grinste verächtlich, schob die Pistole in die Tasche, nahm das Seidentuch auf und band dem Gefangenen die Füße wieder zusammen. Dann legte er den Pelzmantel und die Frauenkleider ab. Aus einem Theaterkoffer, der in einer Ecke stand, nahm er einen alten Anzug und zog ihn an.

»Der Boden hier ist gerade nicht sehr weich«, erklärte Binny mit vielsagender Betonung. »Man kommt erst nach eineinhalb Metern auf eine Tonschicht.«

Wenn er glaubte, Smith durch diese Worte zu erschrecken, erlebte er eine Enttäuschung.

»Warum lassen Sie mich das nicht erledigen? Sie sind etwas zu korpulent und außerdem aus der Übung. Aber mich würde es freuen, mein eigenes Grab zu graben.«

Binny schien eine Sekunde lang den Vorschlag zu überlegen.

»Nein, ich werde es allein tun«, sagte er dann.

»Aber warum machen Sie sich denn solche Mühe?« entgegnete Surefoot leichthin. »Sobald man mich vermißt, wird man nach mir suchen, und zwar sowohl hier als auch in dem anderen Haus. Soviel ich sehe, wollen Sie keine Spuren hinterlassen. Es steht noch nicht fest, daß wir Ihnen einen Mord nachweisen können, aber wenn Sie einen Polizeibeamten umbringen, kommen Sie bestimmt an den Galgen.«

Smith wollte nur Zeit gewinnen.

»Wegen der Geschichte mit Hennessey kommen Sie vielleicht durch«, fuhr er fort. »Auch die Sache mit dem alten Lyne und Tickler kann man schließlich nicht beweisen. Aber wenn Sie mich über den Haufen schießen, ist es aus. Die Leute kommen hierher und durchsuchen das Grundstück. Die finden mich, verlassen Sie sich darauf!«

Binny blieb an der Tür stehen.

»Ich habe einmal einen Polizisten gekannt, der konnte genausogut schwätzen wie Sie. Aber das hat ihm nichts geholfen, er schmort doch in der Hölle.«

Er ging hinaus und schloß die Tür hinter sich.

Smith zog die Beine hoch, so daß er das verknotete Seidentuch mit den Händen erreichen konnte. Schließlich brachte er es fertig, den Knoten zu öffnen. Aber im gleichen Augenblick hörte er, daß Binny zurückkam.

Der Mann fand die ungewohnte Tätigkeit doch schwerer, als er erwartet hatte. Seine Stirn war in Schweiß gebadet. Er suchte in dem Koffer, fand eine Flasche Whisky, entkorkte sie und nahm einen langen Zug.

»Müssen Sie sich Mut antrinken, oder brauchen Sie neue Kräfte?« fragte Surefoot.

»Das werden Sie schon noch sehen«, brummte Binny.

Smith blickte sehnsüchtig auf die zwei Pistolen, die aus Binnys Taschen herausschauten. Der Verbrecher war schon wieder halb zur Tür gegangen, kehrte aber noch einmal um und prüfte den Knoten des Seidentuches.

»Aha, den haben Sie schon aufgemacht! Nun, das Handwerk will ich Ihnen legen!«

Er durchsuchte den Koffer aufs neue, schlang dann einen Strick zwischen den Handschellen durch, zog die Arme des Gefangenen hoch und befestigte den Strick um seinen Nacken.

»Sie sehen merkwürdig aus – fast, als ob Sie beteten. Aber ich werde Sie jetzt nicht mehr lange warten lassen.«

Mit diesen Worten verließ er den Raum.

Surefoot war völlig hilflos, obwohl er die Autohupen von der nahen Chaussee hören konnte.

Er beobachtete die rauchende Petroleumlampe. Der Docht war zu hoch geschraubt, und der Zylinder hatte sich auf der einen Seite schon schwarz gefärbt.

Binny war vor allem darauf bedacht, zu entkommen. Er würde sich hüten, irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Selbst den Mord würde er nicht im Hause begehen.

Eine volle Stunde verging. Dann hörte Smith schwere Schritte und wußte, daß das Ende nahe war.


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