Edgar Wallace
Der leuchtende Schlüssel
Edgar Wallace

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25

»Das sind vorläufig nur Schlußfolgerungen«, meinte Surefoot, »aber ich gehe die höchste Wette ein, daß sie stimmen. Und das will viel heißen, denn ich bin ein äußerst sparsamer Mann und wette im allgemeinen nie. Binny wußte, daß der alte Lyne ihn seit einiger Zeit im Verdacht hatte, und als sich die Verhältnisse mehr und mehr zuspitzten, kam er zu der Überzeugung, daß er schnell handeln mußte. Der alte Mann vermutete, daß seine Bankabrechnung nicht stimmte. Sicher hätte er Binny nicht zu Moran geschickt, wenn er ihn nicht verdächtigt hätte. Er haßte Bankleute und sprach nur mit ihnen, wenn es unumgänglich notwendig war. Als Binny erfuhr, daß Lyne mit Moran sprechen wollte, kam er in große Verlegenheit. Es blieb ihm nur der eine Ausweg, sich einen Verbündeten zu suchen, einen Komplicen, der in der Rolle Leo Morans einen Besuch bei dem alten Lyne machte, und dieser Komplice war –«

»Mike Hennessey«, warf Dick ein.

Surefoot nickte.

»Daran zweifle ich nicht im mindesten. Als wir Hennesseys Kleider durchsuchten, fanden wir ein Stück Papier, auf dem dieselben Zahlen standen, die auf der Bankabrechnung vorkamen. Das konnte nur bedeuten, daß Binny ihm die Zahlen gegeben hatte und daß Mike sie auswendig lernen mußte, falls der Alte ihn danach fragen sollte.«

Surefoot hatte irgendwo ein großes Blatt Löschpapier gefunden. Er legte es auf den Tisch und schrieb mit Bleistift die Theorien darauf nieder, die er entwickelte.

»Moran hat niemals eine Aufforderung bekommen, den alten Lyne zu besuchen. An dem Vormittag, an dem die Unterredung mit Lyne geplant war, hielt er sich nicht in seinem Büro auf, sondern verhandelte mit den Agenten der Cassari-Petroleum-Gesellschaft. Statt seiner erschien Mike. Hervey Lyne hat also den Bankdirektor nicht gesprochen. Aber Mike mußte etwas gesagt oder getan haben, was den Verdacht des alten Mannes erregte. Was das war, werden wir allerdings nicht mehr erfahren. Lyne nahm dann das erste Stück Papier, das ihm in die Hände fiel, und schrieb eine Mitteilung an Mary Lane darauf. Zufällig erwischte er die Bankabrechnung. Daß Lyne tatsächlich mißtrauisch geworden war, ergibt sich daraus, daß Miss Lane einen Polizeibeamten mitbringen sollte. Binny erfuhr das. Ob der alte Lyne ihm den Betrug auf den Kopf zusagte oder was er sonst tat, werden wir erst hören, wenn Binny im Prozeß die Wahrheit sagt.

Den Entschluß, Lyne zu ermorden, muß er gefaßt haben, nachdem er ihn für die Ausfahrt angekleidet hatte. Er trat hinter den Rollstuhl und erschoß ihn mit einem Browning. Ich habe die Kugel in der Tür gefunden. Vielleicht hatte er zuerst gar nicht die Absicht, den Ermordeten noch in den Park zu fahren. Nachdem er aber sah, daß der Alte nur wenig blutete und daß man die Wunde nicht erkennen konnte, riskierte er es. Lynes dunkelblaue Brillengläser verdeckten ja die Augen. Außerdem war er meistens halb im Schlaf, wenn er in den Park gefahren wurde. Binny konnte sein Vorhaben tatsächlich ausführen, ohne daß etwas entdeckt wurde. Er hatte sogar die Kühnheit, den Polizisten zu bitten, den Verkehr anzuhalten, bis er mit dem Rollstuhl auf die andere Seite der Straße gekommen war.«

Smith seufzte und schüttelte den Kopf. Im stillen bewunderte er die unglaubliche Kühnheit Binnys.

»Hat er irgendwelche Aussichten, aus England fliehen zu können?« fragte Dick.

Surefoot strich sich das Kinn.

»Theoretisch genommen – nein. Aber man muß bedenken, daß sich dieser Mann sehr gut verkleiden und in anderen Rollen auftreten kann. Im Augenblick ist er in London und wohnt irgendwo unter anderem Namen. Vielleicht hat er zwei oder drei solche Schlupfwinkel in der Stadt. Er ist ein sehr methodischer Mensch und wird alle möglichen Vorbereitungen für seine Flucht getroffen haben. Es stehen ihm genug Geld und Waffen zur Verfügung. Der Galgen wartet auf ihn, aber seine Verhaftung wird uns noch große Schwierigkeiten machen.«

»Ich verstehe den Mann nicht«, sagte Dick. »Warum hat er denn nur diese Gesellschaften für die Leute vom Theater gegeben? Warum hat er die Rolle von Washington Wirth gespielt? Das hat ihn doch nur unnötiges Geld gekostet.«

»Es mag Ihnen unlogisch erscheinen, aber Binny wollte sich eben auf diese Weise ausleben. Es gefiel ihm, einen klangvollen Namen zu führen. Über diese Theaterliebhaberei kann ich Ihnen noch mehr erzählen. Er hatte vermutlich die Absicht, später erstklassige Stars zu bewirten, die bei solchen Gelegenheiten kostbaren Schmuck trugen. In Chikago hat er einmal die großen Künstlerinnen eingeladen und ihnen dann mit vorgehaltenem Revolver alle Juwelen abgenommen. In London hat er das allerdings nicht wiederholt. Im großen und ganzen ist er furchtbar eitel. Er wollte eben den ganz großen Mann spielen, und das gelang ihm am besten unter kleinen Leuten.«

Chefinspektor Smith nahm die Vakuumpumpe wieder auf und betrachtete sie.

»Ich möchte nur wissen, wozu er die gebraucht hat. Vorläufig werde ich das Ding einmal mitnehmen.«

Er steckte sie in die Tasche, und nachdem er das Haus abgeschlossen hatte, gingen sie fort. Dick begleitete Mary zu ihrem Hotel, und der unermüdliche Smith begab sich in seine Wohnung am Haymarket.

Eine Stunde verging, und in Lynes Haus rührte sich nichts. Aber dann öffnete sich in der Küche plötzlich eine Stelle in der Wand, die mit weißen Kacheln bedeckt war, und Binny trat in Gummischuhen heraus. Er hatte eine Pistole in der Hand und sah sich vorsichtig um. Nachdem er eine Weile gelauscht hatte, trat er schnell und geräuschlos in den Gang, durchsuchte das ganze Haus, verriegelte dann die Vordertür und kehrte zur Küche zurück. Er legte die Pistole auf den Tisch und fuhr mit der Hand über sein unrasiertes Kinn.

Ein Lächeln glitt über sein häßliches Gesicht.

»Eitel soll ich sein!« murmelte er.

Das war die einzige Äußerung, die ihn in Wut gebracht hatte.

Er stand am Tisch, hielt den Kopf gesenkt und spielte mechanisch mit der schweren Waffe.

»Eitel!« Das Wort hatte ihn schwer verletzt. Er haßte diesen Surefoot Smith. In diesem so unscheinbaren Mann hatte er von Anfang an instinktiv seinen gefährlichsten Feind erkannt, der sein Leben bedrohte.

Was man auch über Binny sagen mochte, seine Vorliebe für Theater und Bühne war echt. Immer hatte er danach gestrebt, mit Künstlern und Künstlerinnen zu verkehren. Die ersten Veruntreuungen hatte er begangen, um ein Stück zu finanzieren, das nachher nur eine Woche gespielt wurde. Er war selbst kein schlechter Schauspieler.

Nun mußte er all seinen Witz und Verstand zusammennehmen, um dem Netz zu entkommen, das sich immer enger um ihn zog. Er trat durch die enge Tür wieder in den kleinen Raum zurück, der schmaler war als eine Zelle.

Auf dem Boden lag eine Matratze, auf der er geschlafen hatte, am Fußende stand ein kleiner Frisiertisch, unter dem zwei Koffer standen. Er zog einen hervor und schloß ihn auf. Ganz oben lag ein Briefumschlag mit Eisenbahnfahrkarten und drei Pässen. Er nahm sie mit sich in die Küche, stellte einen Stuhl an den Tisch und studierte sie sorgfältig. Er hatte seine Vorbereitungen gut getroffen. Die Pässe waren auf Namen ausgestellt, die noch in keinen Polizeiakten standen, und die Fotos zeigten ihn in den verschiedensten Aufmachungen. Es fiel ihm leicht, in kürzester Zeit die betreffenden Verkleidungen vorzunehmen und auf der Reise seine Persönlichkeit mehrmals zu ändern.

Aus der Hüfttasche zog er einen dicken Stoß Banknoten, französisches, englisches und deutsches Geld. Ein anderes Paket nahm er aus einer Geheimtasche seines Rocks. Dann holte er noch ein drittes und viertes hervor und legte alles zusammen auf den Tisch. Eine Viertelstunde saß er ruhig davor und weidete sich an dem Anblick. Dann ging er in die kleine Kammer zurück, holte einen Spiegel und ein Rasiermesser und traf seine Vorbereitungen. Zwei Stunden lang bearbeitete er sein Gesicht und färbte es mit einer braunen Schminke. Dann zog er sich um und steckte das Papiergeld in einen besonders dafür angefertigten Gürtel, den er auf der bloßen Haut trug. Die Reisekoffer ließ er zurück. Er konnte es sich jetzt nicht mehr leisten, großes Gepäck mitzunehmen; er mußte sich mit zwei Pistolen und Munition begnügen.

Mit größter Geschicklichkeit verteilte er sie so in den Taschen, daß äußerlich nichts zu sehen war, wenn er sich bewegte. Er wartete bis gegen Mittag, und nachdem er lange Zeit durch ein Seitenfenster Ausschau auf die Straße gehalten hatte, entschloß er sich, das Haus zu verlassen.

Die Dienstboten der benachbarten Häuser mochten ihn sehen, aber wahrscheinlich waren sie gerade beim Essen oder mußten ihre Herrschaften bedienen. Um diese Zeit kamen auch keine Händler, um Waren abzuliefern. Es war höchstens zu befürchten, daß Surefoot einigen Beamten den Auftrag gegeben hatte, das Haus zu bewachen. Aber ohne Risiko ging es nun einmal nicht ab.

Vorsichtig riegelte er die Haustür auf, öffnete sie leise und trat auf die Straße.

Als er auf der anderen Seite angelangt war, bemerkte er eine Frau in schlechten Kleidern, die mit unsicheren Schritten vor ihm herging. Es war die Person, die er als seine Frau ausgegeben hatte. Sie war so betrunken, daß sie ihn nicht erkannte. Vor ein paar Tagen hatte er sie mit dem Auftrag fortgeschickt, nach Wiltshire zu fahren, woher sie stammte. Er hatte ihr genügend Geld gegeben, daß sie sich ein Jahr lang unterhalten konnte.

Ruhig, aber vorsichtig ging er die Straße entlang. Nur gelegentlich sah er sich einmal um, ob er beobachtet oder verfolgt würde. Einen Autobus durfte er nicht benutzen, auch ein Taxi war zu gefährlich. Und wenn er in seiner jetzigen Verkleidung selbst ein Auto lenkte, zog er nur allzu leicht die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich.

Er erreichte die Finchley Road und kam zu einem Häuserblock, in dessen Untergeschoß sich nur Läden befanden. Die oberen Stockwerke enthielten Büros.

Binny betrat das Eckhaus und fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben. Direkt dem Lift gegenüber lag ein Zimmer, an dessen Tür ein Messingschild mit der Aufschrift »Neues Theatersyndikat« prangte. Er schloß auf und trat ein.

Der selten benutzte Raum war von mittlerer Größe und einfach, aber gut möbliert. Binny verriegelte die Tür von innen, zog Mantel und Rock aus, setzte sich und dachte nach.

Von hier aus konnte er leicht fortkommen. Etwas Gepäck befand sich im Aufbewahrungsraum des Liverpool-Bahnhofs. Alles war gut vorbereitet, und doch –

Binny hätte ein Buch über die Psychologie des Verbrechers schreiben können. Er war kaltblütig, und die Vernunft behielt bei ihm immer die Oberhand. Viele Menschen hatte er schon ermordet, und niemals hatte er sich zu unbedachten Schritten hinreißen lassen.

Es war allerdings ein großer Fehler gewesen, daß er umkehrte, um den Schlüssel in Miss Lanes Zimmer zu suchen. Sonst wäre Leo Moran längst tot, und die gefälschte Selbstbezichtigung wäre von der Polizei geglaubt worden.

Binny hatte alles so sorgfältig geplant: Den Schlüssel hatte er auf der Innenseite vor der verschlossenen Tür auf den Boden legen wollen und ihn eigens zu diesem Zweck in die Tasche gesteckt. Aber nachher hatte er es doch vergessen. Und dieses kleine Versehen hatte den ganzen Plan zum Scheitern gebracht.

Die Vernunft, die bis dahin alle seine Handlungen diktiert hatte, sagte ihm, daß er jetzt möglichst ruhig aus London verschwinden müsse, und zwar so bald als möglich. Aber plötzlich machte sich der theatralische Zug in seinem Wesen geltend, den man häufig bei Verbrechern findet, und es kam ihm der Gedanke, noch einen großen Streich auszuführen, bevor er den Schauplatz seiner Tätigkeit verließ. Die ganze Welt würde dann über ihn sprechen! Er sah bereits die sensationellen Überschriften der Zeitungen vor sich: »Der berühmte Surefoot Smith ermordet! Täter entkommen!« »Der große Detektiv Smith ermordet, der hervorragende Polizeibeamte, der so viele Mörder gefangen hat!«

Binny dachte nicht mehr daran, sich in Sicherheit zu bringen. Seine Gedanken waren nur noch darauf gerichtet, eine ungeheure Sensation hervorzurufen. Es kam ihm nicht zum Bewußtsein, wie sehr sich gerade in diesem Verhalten seine Eitelkeit zeigte.


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