Edgar Wallace
Der leuchtende Schlüssel
Edgar Wallace

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14

Das vordere Portal der Bank war schon geschlossen, als der Chefinspektor dort ankam. Er klingelte deshalb an der Seitentür und wurde auch sofort eingelassen. Der Kassierer, der stellvertretende Direktor und mehrere Angestellte waren noch bei der Arbeit. Er sprach mit dem Kassierer in dessen Privatbüro und erhielt von ihm einige wertvolle Auskünfte.

»Ich weiß nur, daß Moran einen Urlaub beantragt hatte, der nicht bewilligt wurde. Das weiß ich, weil der Brief der Generaldirektion nicht an ihn persönlich, sondern an den ›Vorsteher‹ adressiert war. Deshalb habe ich ihn geöffnet. Ich telefonierte ihn in seiner Wohnung an und teilte ihm den Bescheid mit. Er sagte darauf nur, er komme heute nicht ins Büro.«

»Haben Sie das der Direktion mitgeteilt?«

Es war nicht gemeldet wenden, da das häufiger vorkam. Bankdirektoren können sich dergleichen manchmal gestatten.

»Es wird natürlich in dem täglichen Bericht später erwähnt«, sagte der Kassierer. »Ich hatte heute morgen den Eindruck, als sei Mr. Moran in die City gefahren, um mit den Generaldirektoren zu sprechen. Als ich hörte, er sei auf Urlaub gefahren, nahm ich an, es sei ihm gelungen, die Leute zu überreden. Ist ihm etwas zugestoßen?« fragte er ängstlich.

»Hoffentlich nicht. Hat er eigentlich bei dieser Bank sein eigenes Konto gehabt?«

»Er hatte wohl ein Konto, es stand aber nicht viel darauf. Vor ein paar Jahren hat man ihm große Schwierigkeiten gemacht, weil er spekulierte, und deshalb hat er wahrscheinlich sein Hauptkonto nicht mehr bei uns geführt. Sicher wollte er verhindern, daß der Aufsichtsrat seine Geschäfte kontrollierte. Ich kann Ihnen ja im Vertrauen sagen, daß er ein Konto auf der Southern Provincial Bank hat. Einmal war sein Guthaben bei uns nahezu aufgebraucht, und da zahlte er einen Scheck ein, den er auf diese Bank ausgestellt hatte. Darf ich vielleicht erfahren, Mr. Smith, warum Sie sich für Mr. Moran interessieren?«

Mit ein paar Worten erzählte ihm der Detektiv von dem Mord.

»Ja, wir führen Mr. Lynes Konto und verwalten sein Vermögen. Es ist ziemlich groß, allerdings nicht mehr so bedeutend wie früher. Er ist Geldverleiher und hat natürlich viele ausstehende Kapitalien.«

Smith sah auf die Uhr.

»Kann ich noch jemand von der Generaldirektion sprechen?«

Der Kassierer konnte die Frage nicht beantworten, telefonierte aber mit der Zentrale. Er erhielt den Bescheid, daß bereits alle Herren nach Hause gegangen seien.

»Wenn Mr. Moran morgen früh nicht kommen sollte –«

»Der kommt nicht«, erklärte Surefoot.

»In diesem Fall wäre es mir sehr lieb, wenn Sie die Generaldirektoren aufsuchen würden. Ich darf Ihnen nämlich eigentlich keine Informationen geben, weder über Mr. Moran noch über einen unserer Kunden. Warten Sie bitte noch einen Augenblick.«

Er stand auf und sprach mit einem anderen Angestellten. Nach einer Weile kam er zurück.

»Das eine möchte ich Ihnen noch mitteilen, ganz gleich, ob man mir nachher Vorwürfe macht oder nicht. Der verstorbene Mr. Lyne hat gestern sechzigtausend Pfund abgehoben – das heißt, der Scheck wurde uns gestern nachmittag eingereicht und von uns ausgezahlt. Es war ein Barscheck. Einzelheiten kann ich Ihnen nicht mitteilen, aber ich glaube, die Generaldirektion wird Ihnen alle weiteren Angaben machen.«

Als Surefoot nach Scotland Yard zurückkehrte, fand er mehrere Beamte in seinem Büro.

Sie verabschiedeten sich gerade von John Kelly, der um Mitternacht die Rückreise nach den Vereinigten Staaten antreten wollte.

»Es tut mir leid«, sagte er, als er Surefoots Bericht gehört hatte. Es wäre mir wirklich ein großes Vergnügen gewesen, wenn ich Ihnen in diesem Mordfall hätte helfen können. Ich habe die Sache in der Abendzeitung gelesen. Ist inzwischen noch etwas Neues passiert?«

Surefoot erzählte ihm, was er auf der Bank erfahren hatte.

Der Amerikaner nickte.

»Ich kannte einen Spezialisten für solche Verbrechen bei uns drüben. Es ist ein gewisser Arthur Ryan. Ich weiß, daß er jetzt in England ist. Sobald ich nach Chikago komme, schicke ich Ihnen Fotos und alle Unterlagen. Er hatte gewöhnlich mehrere Bankkonten und verschob fremdes Geld von einem auf das andere. Dabei lebte er sonst sehr unauffällig, so daß man ihm derartige Geschichten nicht zutraute.«

Surefoot mußte zu seinem Bedauern die Einladung zu dem offiziellen Abschiedsessen ablehnen. Sein Vorgesetzter wollte ihn noch sprechen, und die Sache duldete keinen Aufschub.

»Wir müssen eine Personalbeschreibung von Moran an alle Polizeistationen geben«, meinte der Polizeipräsident, nachdem er den Bericht des Chefinspektors gehört hatte. »Aber es darf nichts an die Öffentlichkeit dringen, sonst bekommen wir große Unannehmlichkeiten. Die Tatsache, daß er ein paar Gewehre in seiner Wohnung hat, besagt noch gar nichts. Ich selbst weiß, daß er ein sehr guter Gewehrschütze ist. Und soweit wir wissen, haben sich bis jetzt noch keine Unstimmigkeiten bei den Bankkonten gezeigt. Das einzige, was ihn verdächtig macht, ist der Brief, den Lyne kurz vor seiner Ermordung geschrieben hat. Daraus geht hervor, daß er Moran wiedersehen wollte. Hat er ihn denn vorher gesprochen?«

»Ja, vor zwei Tagen, wie mir Binny sagte. Moran behauptete allerdings, daß er ihn in den letzten beiden Jahren nicht gesehen habe. Allenby fragte ihn beiläufig am Abend vor der Tat, ob er Lyne in letzter Zeit besucht habe, und darauf gab Moran diese seltsame Antwort. Allenby ist absolut zuverlässig. Nun fragt sich, warum Moran die falsche Angabe gemacht hat. Es ist doch merkwürdig, daß Lyne in seinem Brief ausdrücklich die Anwesenheit eines Polizeibeamten verlangte. Meiner Meinung nach gibt es hier nur eine Erklärung. Lyne mußte etwas über Moran entdeckt haben und wollte ihn vermutlich zur Rechenschaft ziehen. Moran hat dringend um Urlaub nachgesucht, der ihm nicht bewilligt wird. Er kommt nicht zur Bank, und meiner Meinung nach werden wir noch herausfinden, daß die Direktion überhaupt nichts von seiner Abreise weiß. Er verwaltete noch das Vermögen des alten Lyne, und wenn da etwas nicht in Ordnung ist, kommt er ins Zuchthaus. Möglicherweise war der einzige, der Unstimmigkeiten feststellen konnte, Lyne selbst. Er wird ermordet, jemand erschießt ihn – und zwar genau eine halbe Stunde, bevor Moran London verläßt. Das ist zwar kein direkter, sondern nur ein Indizienbeweis, aber die meisten Leute, die zum Tode verurteilt werden, kommen auf Indizien hin an den Galgen.«

Smith setzte seine Nachforschungen noch am Abend fort, und eine Stunde, bevor der Vorhang im Sheridan-Theater zum letztenmal nach der Vorstellung niederging, machte er auch dort einen Besuch. Mike Hennessey war schon nach Hause gegangen als ein gebrochener Mann, wie der Regisseur dramatisch beschrieb.

Smith ging durch die Bühnentür hinter die Kulissen und kam durch einen langen Korridor zu Marys Garderobe. Wie er erwartet hatte, fand er Allenby bei ihr. Sie sah müde aus. Offenbar hatte der Tod des alten Mannes sie doch mehr mitgenommen, als Dick und Surefoot erwartet hatten.

»Ja, das Stück ist vom Spielplan abgesetzt«, sagte sie. »Aber die Umstände haben sich nicht so schlecht entwickelt, wie Mike fürchtete. Der Scheck ist noch gekommen, und Mike kann die Gagen an die Schauspieler auszahlen. Für ihn selbst bleibt auch noch etwas übrig.«

Über Hervey Lyne konnte sie Smith weiter nichts erzählen. Aber sie berichtete ihm viel über Moran, als er sie nach ihm fragte. Zum erstenmal sprach sie auch über den mitternächtlichen Besuch des Bankdirektors.

»Aber Liebling«, warf Dick ein, »ich verstehe nicht recht. Er wollte, daß du ein Dokument unterzeichnest . . .«

»Wissen Sie, um welche Aktien es sich handelte?« unterbrach ihn Surefoot.

Sie konnte ihm jedoch keine Auskunft darüber geben. Smith nahm an, daß es ausländische Aktien waren, denn nur bei manchen ausländischen Börsen besteht die Vorschrift, daß Aktien von einem Vormund nicht ohne Zustimmung und Unterschrift des Mündels verkauft werden können.

»Das ist an und für sich noch nicht verdächtig. Selbst wenn er der Käufer gewesen wäre, hätte sich der alte Lyne nicht übers Ohr hauen lassen.«

Surefoot konnte an diesem Abend nicht mehr viel unternehmen. Lynes Papiere wurden sorgfältig durchsucht und registriert. Die Stelle, wo der Mord geschehen war, wurde durch ein Seil abgesperrt und bewacht, eine Vorsichtsmaßregel, die sich als sehr berechtigt herausstellte, als die Ärzte ihren Bericht über den Mord machten.

Hervey Lyne war durch ein Geschoß getötet worden, das von hinten durch das Herz gedrungen war. Im Körper fand man es nicht, und Surefoot gab den Auftrag, bei Tageslicht den Rasenplatz eingehend nach der Kugel abzusuchen.

Um neun morgens war er in der City und wartete auf die Ankunft der Generaldirektoren. Wie er vermutet hatte, wußten sie nichts von einer Abreise Morans. Aber er erfuhr, daß der Mann keinen guten Ruf bei der Bank genoß.

»Er war ein sehr fähiger Bankdirektor und bei unseren Kunden besonders beliebt. Wir hätten ihn sonst nicht behalten, nachdem sich herausstellte, daß er spekulierte. Wir können ihm nichts Schlechtes vorwerfen, natürlich mit Ausnahme dieser letzten Disziplinlosigkeit, die allerdings ziemlich schwer ins Gewicht fällt. Wie wir annehmen, ist er nach Devonshire gereist. Wenigstens sagte er, daß er dorthin gehen würde.«

Surefoot lächelte.

»Der ist nicht in Devonshire, darauf können Sie sich verlassen. Er ist mit einer bestellten Maschine gestern nachmittag um vier Uhr zwanzig von Croydon nach Köln geflogen. Dort erwartete ihn ein anderes Flugzeug, das ihn nach Berlin brachte. Dort ist er noch nicht gefunden worden.«

Der Generaldirektor schaute ihn bestürzt an.

»Er ist in Berlin?« fragte er betroffen.

Leo Moran verwaltete große Konten, und ein Bankdirektor, der unter verdächtigen Umständen plötzlich verschwindet, nimmt gewöhnlich Bankgelder mit.

»Ich nehme ja nicht an, daß etwas nicht stimmt«, sagte er entsetzt. »Er hat zwar früher spekuliert, und man weiß nie, was ein Spieler sich alles zuschulden kommen läßt. Aber sonst war er wirklich zuverlässig und ehrenhaft. Trotzdem will ich sofort alle Bücher kontrollieren lassen.«

Surefoot hatte eine sehr genaue Personalbeschreibung von Mr. Moran erhalten, aber er konnte keine Fotografie von ihm finden. Der Mann war jedoch nicht schwer wiederzuerkennen, da er fast vollkommen kahl war. Er konnte allerdings mit Hilfe einer Perücke seinem Kopf ein ganz anderes Aussehen geben.

Surefoot runzelte die Stirn. Eine Perücke! Er erinnerte sich plötzlich an die drei Perücken, die er in dem Zimmer über der Garage in Baynes Mews entdeckt hatte, und er dachte auch an Washington Wirth, der in Mittelengland leben sollte . . . Sechzigtausend Pfund waren vor kurzem von Mr. Lynes Konto durch eine Bank in Mittelengland abgehoben worden.

Er ließ sich eine Vollmacht geben, alle Konten auf Morans Bank zu untersuchen. Mit dieser Ermächtigung fuhr er zur Bank und sprach mit dem Hauptkassierer.

»Ich kenne zufällig den Stand von Mr. Lynes Konto bis vor ein paar Tagen«, sagte er. »Irrtümlicherweise schrieb er nämlich eine Mitteilung an sein Mündel auf die Rückseite der Abrechnung.«

Er nahm das Schreiben aus der Tasche, und der Kassierer prüfte es.

»Ich will die Sache sofort prüfen. Hier sind natürlich nicht die sechzigtausend Pfund berücksichtigt, die auf den letzten Scheck hin abgehoben wurden.«

Der Kassierer kam erst nach einer längeren Weile zurück und legte die Abrechnung auf den Tisch.

»Die Aufstellung, die Mr. Moran dem verstorbenen Mr. Lyne gegeben hat, ist vollständig falsch. Sie ist vor drei Tagen aufgestellt. Aber hier steht zum Beispiel, daß Mr. Lyne ein Guthaben von zweihunderttausend Pfund haben soll. In Wirklichkeit beträgt sein Konto aber nicht ganz fünfzigtausend – achtundvierzigtausendsiebenhundert, um genau zu sein. Als ich die Aufstellung sah, wußte ich gleich, daß sie nicht stimmte. Ich habe das Konto Mr. Lynes genau beobachtet und Mr. Moran schon zweimal gedrängt, ihm zu schreiben und ihn auf den niedrigen Stand seines Kontos aufmerksam zu machen. Aber weil Mr. Lyne Geldverleiher ist, haben wir uns nicht zu sehr darum gekümmert. Die Leute verleihen ja häufig größere Summen.«

»Wie verhält es sich mit dem Depot an Wertpapieren?«

»Die sind alle noch vorhanden, nur haben wir vor vier Monaten auf besonderen Auftrag Mr. Lynes für dreißigtausend Pfund Aktien verkauft.«

»Hat Mr. Moran am vergangenen Dienstag, etwa um zehn Uhr morgens, Mr. Lyne besucht?«

»Wenn er es getan hat, bin ich jedenfalls nicht davon unterrichtet worden.« Er dachte kurz nach. »Ja, am vorigen Dienstag kam er erst gegen Mittag ins Büro und sagte, daß er eine Besprechung gehabt habe. Aber ich weiß nicht, mit wem. Es handelt sich hier doch um ein schweres Verbrechen, an dem Mr. Moran beteiligt ist? Ich will Ihnen und der Bank helfen, soviel ich kann. Aber wie ich Ihnen schon sagte, weiß ich nichts von diesen Transaktionen. Wollen Sie einmal das Konto Mr. Lynes durchsehen? Es sind in den letzten achtzehn Monaten große Summen ausgezahlt worden, gewöhnlich auf Barschecks hin, und das ist eigentlich nicht die Art, wie Geldverleiher über ihr Konto verfügen. Im allgemeinen sind solche Leute sehr vorsichtig und stellen die Schecks auf die Namen bestimmter Personen aus, so daß man auch durch die Bankbücher feststellen kann, wo ihr Geld geblieben ist. Aber Mr. Lyne hat das niemals getan.«

Der Kassierer brachte ein besonderes Aktenstück, und Smith prüfte es. Es waren Beträge von zehn-, fünfzehn- und zwanzigtausend Pfund abgehoben worden, und zwar stets durch eine Bank in Birmingham.

»Nur ein einziger dieser großen Schecks wurde persönlich ausgestellt«, erklärte der Kassierer, wandte ein Blatt um und zeigte auf einen Namen. »Und zwar, während Mr. Moran auf Urlaub war –«

Smith sah erstaunt auf die Zeile. Klar und deutlich konnte er lesen: Washington Wirth.


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