Edgar Wallace
Der leuchtende Schlüssel
Edgar Wallace

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23

Die hohen Beamten sahen Surefoot verblüfft an.

Smith nahm ein längliches Kuvert aus der Brusttasche, das die Übertragung eines langen Chiffre-Telegramms sowie eine etwas verschwommene Fotografie enthielt.

»Dieses Bild wurde uns telegrafisch übermittelt. Es ist ein Foto von Arthur Ryan. Das ist ein anderer Name dieses Verbrechers, der sowohl in Chikago als auch in New York von der Polizei gesucht wird. Er arbeitete mit drei verschiedenen Banden zusammen und hatte Glück, daß er mit dem Leben davonkam. Ich werde Ihnen einen Abschnitt aus dem Telegramm vorlesen:

Der Mann spricht ein sehr gewöhnliches Englisch und soll früher Kammerdiener gewesen sein. Seine Verbrechen begeht er in der Weise, daß er bei einer reichen Familie Stellung sucht und die Gelegenheit dann zu Räubereien großen Stils ausnutzt. In den Staaten hat er sich vielfach am Alkoholschmuggel beteiligt. Er ist verantwortlich für die Ermordung Eddie McGeans und steht im Verdacht, auch noch andere Morde begangen zu haben.«

Er gab das Foto aus der Hand, damit die anderen es betrachten konnten.

»Das Bild ist nicht gerade sehr gut. Es wurde im Polizeipräsidium von New York aufgenommen. Aber es zeigt deutlich, daß es Binny ist. Ich habe ihn auf den ersten Blick erkannt.«

»Ja, das stimmt«, erwiderte Chefinspektor Knowles, während er das Foto prüfte. »Ich sah ihn hier im Hause, als Sie ihn verhörten. Aber mir ist nicht klar, warum er den alten Lyne ermordet haben soll?«

»Weil er sein Geld unterschlagen hat. Miss Lane hat uns auf die Spur gebracht. Es tut mir leid, daß ich nicht selbst so schlau war, alles zu durchschauen. Sämtliche gefälschten Schecks waren am Siebzehnten des jeweiligen Monats ausgeschrieben. Da sie dem alten Mann längere Zeit die Wirtschaft geführt hatte, wußte sie, daß er an diesem Tag stets die Rechnungen der Geschäftsleute bezahlte. Er hatte dabei die üble Angewohnheit, Mitteilungen, meistens sogar recht beleidigende Äußerungen, auf die Rückseite der Schecks zu schreiben. Ich entdeckte eine solche Bemerkung, die lautet: ›Schicken Sie nicht mehr chinesische E . . .‹ Miss Lane wußte, daß Lyne ständig glaubte, er würde von den Kaufleuten betrogen. Er nahm an, daß sie ihm sogar alte chinesische oder andere importierte Eier schickten. Und um dem Händler ins Gewissen zu reden, schrieb er bei Bezahlung der Rechnung derartige Mahnungen auf die Rückseite der Schecks. Miss Lane hat das häufig gesehen. Es war ganz gleich, ob es sich um Schuster, Schneider oder Kolonialwarenhändler handelte. Sie hat in dieser Richtung Nachforschungen angestellt und die Kaufleute einzeln aufgesucht und ausgefragt.

Und nun kommt das Interessante. Die Leute erklärten, daß Lyne sie bereits seit zwei oder drei Jahren nicht mehr mit Schecks bezahlte. Entweder kam Binny persönlich und brachte bares Geld, oder er schickte die Beträge durch die Post. Wissen Sie, was das bedeutet?

Lyne war fast blind – die Schecks, die er für die Händler zeichnete, zahlte Binny auf sein eigenes Privatkonto ein. Der alte Mann wollte nicht zugeben, daß er kaum noch sehen konnte. In seiner Eitelkeit behauptete er, noch gut lesen zu können. Es war daher leicht für Binny, am Siebzehnten des Monats seinem Herrn Schecks vorzulegen, mit denen er angeblich die Rechnungen der Kaufleute bezahlen wollte. Zuerst füllte er sie mit Bleistift und mit den wirklichen Summen aus, die sie zu bekommen. hatten. Ich habe mehrere Schecks untersucht. Unter dem Mikroskop kann man noch die Bleistiftschrift erkennen. Natürlich war es nicht schwer, sie auszuradieren. Wenn er Lynes Unterschrift erhalten hatte, setzte er die großen Summen ein, die dann auf sein Konto eingezahlt wurden.

Binny muß nun Wind davon bekommen haben, daß Untersuchungen gegen ihn eingeleitet waren, denn er machte den Versuch, Miss Lane in ihrer Wohnung zu überfallen. Sie hat sich nur dadurch retten können, daß sie bei einem telefonischen Anruf an die Polizei vorgab, ihn für Moran zu halten. Er war zufrieden, als er das hörte, und ließ sie in Ruhe. Hätte er sich nur ein wenig mehr um die Sache gekümmert, so hätte er herausbekommen, daß alle ihre Nachforschungen nicht Moran, sondern ihm galten. Aber wenn die Verbrecher immer logisch dächten, könnte man sie ja niemals henken.«

»Wo wurde denn der Mord an Lyne begangen?« fragte der Vorgesetzte.

Surefoot schüttelte den Kopf.

»Die Frage bereitet mir viel Kopfzerbrechen. Es ist möglich, daß Binny den Schuß abfeuerte, als Dornfords Auto so geräuschvoll vorüberfuhr. Nach dem Geständnis, das Moran mit dem Mord belasten sollte, könnte man ja fast annehmen, daß es so vor sich gegangen ist. All die anderen Verbrechen, die darin erwähnt werden, wurden in der angegebenen Weise von Binny selbst begangen.«

Surefoot Smith ging ins Hotel zurück, um sich nach Morans Befinden zu erkundigen. Es waren noch manche Einzelheiten des Falles aufzuklären.

Die Ermordung Mike Hennesseys gab ihm zu denken. Wenn der Theaterdirektor Binny erpreßte, war allerdings ein Motiv vorhanden. Aber was konnte denn Mike Hennessey wissen? Selbstverständlich war ihm bekannt, daß Binny tagsüber Butler und Bedienter war, während er abends den großartigen Washington Wirth spielte. Warum sollte aber Mike den Mann erpressen, der ihm soviel Geld gab?

Binny mußte Mike aus einem anderen Grund ermordet haben, das stand für Surefoot fest.

Der Butler war nicht mehr gesehen worden, seitdem Mary ihn nach Newcastle geschickt hatte. Sie hatte diese Reise natürlich nur zum Vorwand genommen, um ungestört den Schlüssel an der Hintertür von Hervey Lynes Haus ausprobieren zu können.

Der mit Leuchtfarbe angestrichene Schlüssel war kein Geheimnis mehr. Manchmal kam »Mr. Washington Wirth« von seinen Gesellschaften in angeheiterter Stimmung zurück. Er mußte sich dann in dem Zimmer über der Garage umkleiden, und es war mehrmals vorgekommen, daß er den Schlüssel dort hatte liegenlassen. Wahrscheinlich hatte er die Gewohnheit, ihn auf den Tisch zu legen. Wenn der Schlüssel aber aufleuchtete, sobald das Licht ausgedreht war, wurde Binny an ihn erinnert.

An dem Abend, an dem Tickler ermordet wurde, hatte er den Schlüssel vollkommen vergessen und mußte ein Kellerfenster eindrücken, um seine Schlafkammer in Lynes Haus zu erreichen. Auf diese Erklärung war Mary gekommen. Sie hatte den Schlüssel gleich zu Anfang erkannt, denn als Kind hatte sie ihn alle Tage gesehen. Daraufhin schickte sie Binny nach Nordengland, um die Richtigkeit ihrer Annahme zu beweisen.

Bei diesem Versuch hätte sie aber beinahe ihr Leben eingebüßt, denn Binny war nicht dumm. Er ließ nicht mit sich spaßen und war natürlich nicht mit dem Zug abgefahren, sondern noch vor Mary in die Wohnung zurückgekehrt.

Als Surefoot ins Hotel kam, hatte Leo Moran das Bewußtsein wiedererlangt, aber es ging ihm durchaus nicht gut. Die Nachwirkungen der Gasvergiftung waren sehr unangenehm. Seine Erzählung bestätigte die Theorien des Chefinspektors.

Surefoot zeigte Moran darauf das Mordgeständnis und las ihm auch Teile daraus vor.

»Ich weiß nicht, was Binny von Morden schreibt. Das ist doch heller Wahnsinn. Wer ist denn ermordet worden?«

Smith erklärte es ihm kurz.

»Was, Hervey Lyne ist ermordet worden? Das ist ja entsetzlich! Wann ist das denn passiert?«

»An dem Tag Ihrer Abreise.«

Moran runzelte die Stirn.

»Aber ich sah ihn doch noch von meinem Fenster aus! Er saß in seinem Rollstuhl unter dem Baum im Park, wo er sich gewöhnlich auszuruhen pflegte. Ich habe ihn häufig dort beobachtet. Binny las ihm vor.«

»Wann war das?« fragte Surefoot schnell.

Moran dachte eine Weile nach, bevor er antwortete.

»Also zehn Minuten, bevor er tot aufgefunden wurde«, meinte Smith. »Die Entfernung war aber wohl zu groß – Sie konnten nicht erkennen, ob er sich mit Binny unterhielt?«

»Als ich ihn sah, las Binny ihm etwas vor.«

Surefoot hatte unerwartet einen Augenzeugen gefunden. Moran war vermutlich der einzige, der die beiden kurz vor Lynes Tod beobachtet hatte.

»Wo saß Binny?«

»An der gewöhnlichen Stelle. Er schaute Lyne ins Gesicht.«

»Haben Sie gesehen, daß Binny um den Stuhl herumging?«

Moran zögerte:

»Ja. Ich kann mich jetzt darauf besinnen. Er ging um den Stuhl herum. Ich mußte damals daran denken, daß Spieler manchmal von ihrem Stuhl aufstehen und ihn umkreisen, um mehr Glück im Spiel zu haben.«

»Sonst haben Sie nichts gesehen – oder gehört?«

Moran schaute ihn groß an.

»Haben Sie denn Binny im Verdacht?«

Surefoot nickte.

»Es ist kein Verdacht mehr. Wir wissen bereits genau, daß er der Täter ist.«

Moran überlegte noch einmal.

»Ja, er ging bestimmt um den Stuhl herum. Gehört habe ich nichts. Sie meinen doch einen Schuß? Ich habe auch nicht gesehen, daß sich Binny irgendwie verdächtig benommen hätte.«

Surefoot sah das gefälschte Geständnis noch einmal kurz durch.

»Kennen Sie Binny?«

»Ja, oberflächlich. Er war früher einmal mein Diener. Ich habe ihn entlassen, weil er gestohlen hat.«

Smith nahm das Zigarettenetui aus der Tasche, das unter dem Sitzkissen des Autos gefunden worden war.

Moran streckte sofort die Hand danach aus.

»Ach, großartig, daß Sie das gefunden haben! Das Etui gehörte zu den Dingen, die ich damals vermißte. Wie sind Sie denn dazu gekommen?«

Bei Morans Zustand hielt Surefoot es nicht für angezeigt, ihm die grausige Geschichte zu erzählen.

»Ich dachte, es gehörte vielleicht Ihnen. Aber vorläufig brauchen wir es noch.« Er steckte es wieder ein. »Es ist wahrscheinlich schon ziemlich alt und außerdem für die Gelegenheit wohl besonders gesäubert und geputzt worden.«

»Was für eine Gelegenheit meinen Sie denn?« erkundigte sich Moran neugierig, aber Smith überhörte die Frage.

Moran sprach dann offen von den Reisen, die er gemacht hatte.

»Ich hatte es eigentlich nicht nötig, so Hals über Kopf abzureisen, aber ich hatte mich über die Direktion sehr geärgert, die mir den Urlaub abgeschlagen hatte. Es war wichtig, daß ich nach Konstantinopel kam, während der Aufsichtsrat der Cassari-Petroleum-Gesellschaft neu gewählt wurde. Ich habe sehr großes Interesse an der Gesellschaft. Sie ist augenblicklich eine der größten ihrer Art. Übrigens ist Miss Lane auch eine reiche Frau geworden. Die Aktien, die ich von ihr gekauft hatte, können nach türkischem Recht nicht auf mich übertragen werden, da noch eine andere Unterschrift fehlt. Gesetzmäßig habe ich wohl ein Anrecht darauf, moralisch kaum. Ich werde ihr also das Aktienpaket für denselben Preis wieder zurückerstatten, den ich dafür gezahlt habe. Das bedeutet, daß sie mehr Geld besitzt, als sie überhaupt in ihrem ganzen Leben ausgeben kann.« Er lächelte schwach. »Mir ist es ähnlich gegangen.«

Mehr konnte Smith im Augenblick nicht von Moran erfahren, er war zu abgespannt und müde. Der Chefinspektor ließ ihn allein, damit er sich ausruhen konnte. Scotland Yard hatte die Nachricht durchgegeben, daß Dick Allenby im Flugzeug von Paris nach London unterwegs war. Er erreichte Croydon in aller Frühe und fand dort ein Polizeiauto vor, das ihn zum Regent's Park brachte.

Als der Wagen in Naylors Crescent einbog, sah er Surefoot Smith und drei Polizeibeamte in Zivil, die ihn erwarteten.

»Es tut mir leid, daß ich Sie zurückholen mußte, aber es ist notwendig, daß ich das Haus noch einmal genau durchsuche. Und bei dieser Gelegenheit müssen Sie anwesend sein.«

»Haben Sie Moran gefunden?« fragte Dick ungeduldig. »Sie haben doch die telefonische Nachricht aus Dover erhalten –«

Surefoot nickte.

»Hat er Ihnen etwas über Binny gesagt?«

»Binny hat mir eine ganze Menge über sich selbst verraten«, erklärte der Chefinspektor grimmig. »Ich habe ihn zwar noch nicht persönlich verhört, aber er hat ein sehr interessantes schriftliches Dokument verfaßt.«

Dick öffnete die Haustür, und sie traten ein.

Obgleich die Räume erst seit kurzer Zeit unbewohnt waren, herrschte im Innern bereits ein muffiger Geruch. Hervey Lynes Arbeitszimmer war nach der Durchsuchung wieder in Ordnung gebracht worden. Die Polizeibeamten hatten alle Ecken durchsucht und sogar die Fußbodendielen aufreißen lassen. Es war wohl ausgeschlossen, daß man hier noch neue Anhaltspunkte finden konnte.

Sie gingen darauf in die Küche, wo Mary Lane das böse Abenteuer erlebt hatte. Smith hatte den Raum zwei Stunden nach ihrer Flucht selbst aufgesucht und war durch die Schranktür die Treppe zum Kohlenkeller hinuntergegangen. Das Feldbett, das er bei seinem ersten Besuch dort gesehen hatte, war entfernt worden.

»Merkwürdig, daß Binny sich mit der Frau herumschleppt«, meinte Surefoot. »Das kann ich nicht verstehen. Sie ist doch eine hoffnungslose Gewohnheitstrinkerin. Er muß sie in der Nacht, nachdem Miss Lane hier im Haus war, fortgeschmuggelt haben. Wo sie jetzt ist, möchte ich lieber nicht erfahren. Wahrscheinlich hat er sie auch kaltgemacht.«

Dick hatte bereits seine Meinung hierüber geäußert. Er glaubte, daß sie überhaupt nicht mit Binny verheiratet war. Hervey Lyne annoncierte immer nach einem Ehepaar, das seinen Haushalt führen sollte. Um die Stelle zu erhalten, hatte Binny wahrscheinlich eine Frau gemietet. Diese Tatsache wurde auch mehr oder weniger dadurch bestätigt, daß die beiden zwei getrennte Räume bewohnten. Es war kaum anzunehmen, daß sie dem Mörder einmal hätte gefährlich werden können. Nach Aussage der Geschäftsleute war sie stets mehr oder weniger betrunken gewesen, und Binny hatte den Haushalt allein geführt.


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