Edgar Wallace
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Edgar Wallace

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22

Es war merkwürdig, daß Luke Maddison während der wenigen Stunden, die er in seiner kleinen Zelle verbrachte, so gar nicht an die Dinge dachte, die ihm eigentlich am meisten am Herzen liegen mußten. Er sah den Tod vor sich – den Tod in seiner abschreckendsten Form, denn es war unmöglich, Connors Absichten mißzuverstehen – und dennoch beschäftigten sich seine Gedanken mit den trivialsten Kleinigkeiten.

Wenn er überhaupt an Margaret dachte, so war es nur, weil er sich über ihre Anwesenheit in seiner Wohnung wunderte. Sie mußte seinen Schlüssel gehabt haben, die Polizei mußte sich an sie gewandt haben – aber warum?

Dann fiel ihm ein, daß er mit Hulberts Diener gesprochen hatte. Der Mann hatte sicherlich Verdacht geschöpft und sich mit dem nächsten Polizeirevier in Verbindung gesetzt!

Er dachte an seine Fahrt durch London in dem unbequemen, polternden Lastwagen, verbrachte beinahe eine Stunde in dem vergeblichen Bemühen, herauszufinden, wo sich das Häuschen, das ihn gefangenhielt, wohl befinden könnte. Wenn er auf dem Wege nach der City das Embankment entlang fuhr, mußte er häufig genug an diesem Grundstücke, an demselben kleinen Gebäude, vorbeigekommen sein. Zweimal wöchentlich fuhr er in die City, zu Besprechungen der Direktoren, und er liebte das Embankment in den frühen Stunden des Frühlings, wenn die zarten grünen Knospen sich langsam öffneten und das Sonnenlicht bewegliche Schatten der Äste und Zweige auf das Pflaster warf.

Man sagt, daß in den letzten Stunden das Leben eines Menschen an ihm vorübergleitet. Auch Luke versuchte, dieser Tradition nachzukommen, gab aber schon nach wenigen Minuten den Versuch gelangweilt auf.

Er ging in seiner Zelle umher, betastete die Wände in einer Anwandlung verbissenen Humors . . . suchte nach den gelockerten Steinen, die unweigerlich in den Gefängnissen der Romanhelden zu finden sind. Nicht, daß er sich selbst als eine Art Heros fühlte. Ganz und gar nicht. Er war ja nur ein ganz gewöhnlicher Einbrecher – mit der Aussicht auf drei Jahre Haft, mit der Gewißheit, aufzuhören, ein unbescholtener Mann zu sein. Er wurde sich darüber klar, daß es nicht allein Rücksicht auf Margaret war, die ihn wünschen ließ, ihren Namen nicht in diese schmutzige Geschichte verwickelt zu sehen . . . nein, vor allen Dingen der Wunsch, seine eigene, ungeheuere Torheit zu verheimlichen.

Was hatte Connor vor? . . . Er war beinahe ungeduldig, die Antwort auf diese Frage zu finden.

In der Nähe mußte eine Kirchturmuhr sein; er hörte die viertel, die halben, die ganzen Stunden schlagen, und die letzten Noten der dritten zitterten noch in der Luft, als er hörte, wie ein Schlüssel in das Türschloß gesteckt wurden Die Tür öffnete sich, die beiden Männer, die ihn gefangengenommen, kamen herein und winkten ihm, mitzukommen. Ihr Wesen war freundlich, beinahe zuvorkommend.

Er folgte ihnen in das Zimmer, in dem Connor geschlafen zu haben schien. Er saß auf der Kante eines Feldbettes, fuhr sich mit den Händen durch die Haare und gähnte fürchterlich. Auf dem Tische standen vier Tassen dampfenden Kaffees und ein Teller mit belegten Brötchen.

»Setzen Sie sich, Smith. Wir müssen mal überlegen, was wir eigentlich mit Ihnen anfangen sollen«, sagte Connor und stand gähnend auf.

Er zog sich einen Stuhl an den Tisch und ließ sich auf diesen fallen, griff nach einer Tasse und nahm sich ein Brötchen.

»Bedienen Sie sich; da ist Milch und Zucker.«

Er schob Luke, der interessiert um sich blickte, eine Tasse zu. Auf einem Stuhl lagen vier große Barren einer weißen, kristallinischen Masse – es war Salz, wie er annahm – und auf dem Fußboden mehrere schwere Ketten.

Connor folgte der Richtung seines Blickes.

»'n bißchen Salz kaufen?« fragte er gutgelaunt.

Die Frage schien den beiden anderen lächerlich vorzukommen, denn sie kicherten.

»Ich bin nicht in der Salzbranche«, war Lukes gleichfalls lächelnde Antwort.

Er kostete den Kaffee; er war schlecht, aber Luke empfand seine Wärme angenehm. Die Nacht war kühl, und er hatte in seiner Zelle gefroren.

»Was werden wir nun mit Ihnen machen, Smith?«

Luke nahm einen langen Schluck und lehnte sich lächelnd in seinen Stuhl zurück.

»Sie können erst mal eine sehr interessante Geschichte anhören«, begann er, »und dann noch tausend Pfund verdienen.«

Er sah den Geist eines schwachen Lächelns auf Connors Gesicht erscheinen.

»Schießen Sie los«, sagte dieser.

Dann erzählte Luke die ganze Geschichte, ohne jedoch Margarets Namen zu erwähnen. Gab ihnen seinen Namen und Adresse, erzählte ihnen, wie er mit Lewing bekannt geworden war und von dessen kleiner Betrügerei, wie er ihn schließlich in jener fatalen Nacht getroffen hatte –

»Aber warum sind Sie denn überhaupt weggelaufen?« war Connors Frage.

Das war schwieriger zu erklären, denn Luke war gezwungen, das eigentliche Motiv für sein merkwürdiges Verhalten zu verschweigen. Er konnte und wollte weder von seiner Heirat noch von Margarets Verhalten ihm gegenüber sprechen; und ohne diese Gründe – er fühlte das selbst – klang seine Erzählung unglaubhaft. Trotzdem gab er sich alle Mühe, seine Worte so überzeugend wie möglich zu finden, aber Connor schüttelte den Kopf.

»Ich habe genug von Ihnen gehört, Smith – es hat bis jetzt noch keinen . . . na, sagen wir: Industrieritter – gegeben, der nicht die prachtvollsten Geschichten erzählen konnte. Wenn Sie wirklich ein Musterbeispiel der australischen Sorte sein wollen, wundere ich mich eigentlich, daß Sie nicht verhungern! Trinken Sie Ihren Kaffee! Ich muß erst einen Ausweg finden, um die ganze Sache hier in nicht zu unangenehmer Weise zu erledigen.«

Luke trank seinen Kaffee aus und setzte die Tasse nieder.

»Und jetzt will ich Ihnen was sagen«, Connors Stimme klang nicht mehr freundlich oder liebenswürdig, »Sie sind bei der Polizei gewesen und haben versucht, uns zu verraten. Und jetzt glauben Sie, sich mit einer so blöden Geschichte aus der Affäre zu ziehen . . . Nein, mein Lieber . . . Verpfeifer . . . Polizei wird Sie schon auffischen . . .«

Luke hörte nur noch einzelne Worte – er war plötzlich so ungeheuer müde geworden. Sein Kopf sank vorwärts auf die Brust, trotz all seiner Mühe war er nicht imstande, die Augen zu öffnen. Es kam ihm nicht einmal zum Bewußtsein, daß er Laudanum getrunken hatte.

»Festhalten!« rief Connor, und einer der Leute faßte Luke, der gerade seitwärts zu Boden fallen wollte, und ließ ihn auf den Fußboden gleiten. Connor schob den Tisch zurück und wies mit dem Daumen auf die Salzblöcke. Zwei wurden unter Lukes Füße gelegt, und einer der Männer grub mit einem Messer tiefe Einschnitte in die Blöcke. Connor nahm die schweren Ketten und legte sie sorgfältig um die Salzblöcke und Lukes Füße.

Sie verhandelten über ihr grausiges Vorhaben, ohne irgendwelche Erregung zu zeigen.

»Paß auf, Harry, daß die Kette nicht über die Beine gleitet. Zieh sie noch etwas fester an . . . halt, nicht zu fest, sonst zerbrichst du das Salz.«

Endlich waren sie fertig, und Connor richtete sich auf.

»Holt mal die alte Planke . . . da können wir ihn drauflegen«, befahl er, und der größere der beiden ging zur Tür und öffnete sie.

Connor sah ihn zurückfahren.

»Wer ist das?« rief er scharf.

Der Mann, der in dem Gang gestanden hatte, betrat gemächlich das Zimmer. Connor erkannte ihn und zeigte die Zähne wie ein bissiger Hund.

»Hallo, Gunner! Was, zum Teufel, wollen Sie denn hier?«

Gunner Haynes blickte von ihm auf den bewußtlosen Mann auf dem Fußboden.

»Sehr geschickt, aber nicht neu«, er zog verächtlich die Worte auseinander. »Ihr werft ihn in den Fluß, das Salz löst sich langsam auf, die Ketten gleiten ab, und die Leichenschaukommission wird sagen: ›Ertrunken . . . Unfall.‹ Es ist zu schade.«

»Was ist schade?« fragte Connor.

»Daß ich gerade jetzt hierherkommen muß«, antwortete Haynes gemütlich. »Wer ist denn das . . . Opfer?«

»Es gibt überhaupt kein Opfer«, sagte Connor heftig. »Der arme Kerl ist krank, wir wollten ihn gerade ins Hospital schaffen.«

Der Gunner nickte beistimmend.

»Und ich dachte, ihr wolltet ihn einpökeln.« Er schüttelte den Kopf und wiederholte: »Sehr geschickt, aber gar nicht neu. Keine Merkmale am Körper, nichts zu sehen, daß er nicht ganz zufällig ins Wasser gefallen und ertrunken ist. Es tut mir leid, daß ich euch euer Vergnügen stören muß, aber – den Mann hier müßt ihr laufen lassen.«

»Warum?« zischte Connor.

»Warum?« sagte Haynes freundlich. »Weil ich dabei bin. Man wird mich nicht als Beihilfe zum Mord fassen. Das liegt außerhalb meines . . . Berufes. Nehmt ihm mal den interessanten Apparat ab.«

Connor lächelte, und seine Hand senkte sich ganz unauffällig unter die Tischplatte.

»Wenn du ein Schießeisen herausbringst«, nicht eine Muskel in Haynes sehnigem Körper bewegte sich, »bekommst du eine Kugel in den Bauch. Es dauert ungefähr fünf Tage, bis du tot bist, und die Schmerzen sollen, wie man mir erzählt, etwas peinlich sein. Ich werde dann meiner Wege gehen, der Polizei erzählen, warum ich dich angeschossen habe, und du kannst sicher sein: Scotland Yard schickt dir keine Blumen!«

Einer von Connors Kameraden machte einen Schritt auf ihn zu.

»Hören Sie mal zu, Gunner –« begann er überredend.

Haynes Faust schoß so blitzschnell vor, daß der Mann den Schlag nicht parieren konnte und krachend zu Boden stürzte.

»Beide Hände in Sicht«, sagte der Gunner immer noch regungslos. »Leg sie auf den Tisch, Connor!«

Er hatte keine Waffe in der Hand, aber keiner wußte so gut wie der leichenblasse Mann auf der anderen Seite des Tisches, wie schnell, wie tödlich genau der Gunner schießen konnte.

»Warum die Umstände«, grollte er. »Der Kerl hier geht Sie doch gar nichts an.«

»Losbinden!« lächelte der Gunner. »Wie schon mal gesagt, es tut mir furchtbar leid, daß ich stören muß, aber . . .«

»Was wollten Sie denn überhaupt hier?« war die wütende Frage.

Der Gunner blickte nachdenklich nach der Decke.

»Das habe ich tatsächlich vergessen! – Wer ist denn der Mann?«

»Heißt Smith. Hat versucht, mich zu verpfeifen und hat dann versucht, sich mit einer ganz ausgefallenen Geschichte loszuschwindeln . . . er wäre Bankier . . . so eine Frechheit . . . hieße Luke soundso . . .«

Gunner Haynes beugte sich nieder und blickte in Lukes Gesicht.

Er erkannte den Schlafenden auf der Stelle.

»Luke soundso? . . . Wo habt ihr ihn denn aufgegabelt?« Während er sprach, winkte er einem der Männer zu: »Die Ketten ab!«

Der Mann blickte ungewiß auf seinen Führer, aber Connor nickte.

»Das Malheur mit Ihnen, Gunner, ist, daß Sie sich in anderer Leute Angelegenheiten mischen. Wenn Sie genau wissen wollen, wer und was er ist: er hat heute nachmittag die Sache in der Bond Street gedreht.«

Und er lieferte ihm »Smiths« Biographie. Gunner Haynes fühlte, daß er die Wahrheit sprach, begriff vieles nicht, war aber nicht allzusehr überrascht. Er hatte in seinem bewegten und wenig einwandfreien Leben so viel gesehen, so viel gehört, daß ihn nichts mehr überraschen konnte. Es hatte schon öfter Männer gegeben, die ein doppeltes Leben führten, aber diese Art doppeltes Leben gehörte seiner Meinung nach in das Bereich der Romanschriftsteller. Ein Bankier, dessen Privatvergnügen in Einbrüchen und Räubereien bestand . . . es schien phantastisch, unglaublich . . . aber doch vielleicht möglich.

Vielleicht war eine Frau mit im Spiel! Wenn es sich um eine Frau handelt, wird das Unverständlichste oft leicht begreiflich!

»Was wollen Sie mit ihm anfangen?« fragte Connor, als Haynes sich bückte und scheinbar ohne jede Anstrengung den bewußtlosen Mann aufhob und auf den Stuhl setzte.

Der Gunner antwortete nicht, fragte aber seinerseits:

»Habt ihr Sohre im Haus?« Auf dem unbeweglichen Gesicht Connors erschien ein Zeichen von Unruhe.

»Sohre? – Nein, wieso denn? . . . Ich habe mit solchen Dingen nichts zu schaffen.«

»Keine gefälschten Noten . . .?«

»Was meinen Sie eigentlich?«

Ein Lächeln zuckte über das finstere Gesicht des Gunners.

»Du hast gefragt, warum ich hierher gekommen bin . . . die Polizei macht hier eine Razzia. Ich habe es selbst erst vor einer Stunde erfahren und dachte, ich würde mal herkommen und euch Bescheid sagen. Warum ich das gemacht habe . . .? Das liegt nun mal in meiner Natur – armen Gaunern helfen.«

Er sah, wie die drei Männer einander ansahen und die Unruhe in Connors Gesicht.

»Wir haben heut ein Paket von Paris bekommen«, sagte er hastig. »Hol es mal her, Harry.«

Er sah auf Lukes zusammengesunkene Gestalt.

»Mit dem da machen Sie einen großen Fehler. Sie lassen ihn zur Polizei laufen, und da wird er ein Geschrei erheben, daß wir alle taub werden.«

Statt jeder Antwort hob der Gunner den Bewußtlosen hoch und zerrte ihn mit sich, durch die Tür, den schmalen Gang in den unordentlichen Hof. Er war im Begriff, ihn in Connors Lastwagen zu heben, als er ein leises Geräusch hörte. Das Geräusch, das ein Mann verursacht, der über einen Holzzaun klettert . . .

Er ließ Luke auf den Boden gleiten und lehnte ihn mit dem Rücken gegen die Hauswand. Dann schlich er sich geräuschlos nach dem Eingang zum Hofe. – Gegen den helleren Himmel hoben sich die Umrisse, Köpfe und Schultern, zweier Männer ab. Das genügte ihm.

So leise, wie er gekommen war, eilte er zu Luke zurück, nahm ihn in seine Arme und ging vorsichtig den Abhang zum Wasser hinunter. Dort mußte ein Boot liegen, und jetzt sah er es auch in der Strömung hin und her schwanken.

Sein ursprünglicher Plan war gewesen, Luke im Hause und dann durch die Polizei finden zu lassen, aber das war unmöglich geworden. Der Mann hatte ihm Gutes erwiesen, er durfte ihn nicht der Entdeckung, der Schande aussetzen. Wenn Connor die Wahrheit gesprochen hatte, so wurde Maddison in seiner Eigenschaft als Einbrecher von der Polizei mit demselben Eifer gesucht wie Connor selbst.

Er zog das Boot mit dem Fuße an die zerfallene Landungsstelle heran und ließ Luke hineingleiten. Als er selbst in das Boot stieg, hörte er Stimmengeräusch im Hof und sah elektrische Taschenlampen aufblitzen. Hastig warf er die Leine ab, zog unter Luke ein Ruder hervor und paddelte nach der Mitte des Stromes zu. – Wo war die Strompolizei?

Jetzt sah er das Motorboot heranschießen und konnte sich gerade noch zwischen zwei Frachtkähnen verbergen, als es in einem Halbkreis herumschwang und dem Ufer zusteuerte.

»Ein bißchen zu spät«, brummte der Gunner vor sich hin.

Entdeckung hatte er nun nicht mehr zu fürchten, falls er nicht einer anderen Patrouille begegnen würde. Das andere Ruder fand sich auch, Luke wurde zwischen den Ruderbänken verstaut, und mit kräftigen Schlägen trieb er sein Fahrzeug stromabwärts.

Im Osten graute es schon, in einer Stunde würde es hell sein. Der Gunner kannte in der Nähe von Rotherhithe einen Landungsplatz, wo er mit der beginnenden Ebbe sicher zu landen hoffte.

Seine Hoffnung sollte ihn täuschen, denn noch vor der London Brücke wurde es ihm klar, daß er sein Ziel nicht mehr bei Dunkelheit erreichen könnte. Er faßte einen schnellen Entschluß, beugte sich über den Rand des Bootes, füllte seine Mütze mit Wasser und spritzte dies dem Schlafenden ins Gesicht. Luke schauderte und wandte sich stöhnend ab, als der Gunner den Versuch noch einmal wiederholte.

»Mein Kopf . . .« klang es schwach vom Boden herauf.

»Still!« flüsterte Haynes. »Ich bringe Sie nach der Treppe der London Brücke.«

Keine Antwort, und der Gunner stieß mit dem Fuß seine stöhnende »Fracht« an.

»Haben Sie verstanden?«

»Ja, was ist denn eigentlich passiert?«

Sein Begleiter antwortete nicht, sondern legte sich in die Ruder, und wenige Minuten später hörte Luke, wie die Bootswand gegen die Steinmauer streifte.

»Können Sie aufstehen?« Gunners Hand packte Luke am Arm und half ihm in eine sitzende Stellung.

Mit dem Bootshaken zog er das kleine Fahrzeug an die Stufen der Kaitreppe heran, aber es dauerte volle fünf Minuten, bevor Luke imstande war, ihm zu folgen. Die Knie knickten unter ihm zusammen, und ohne die tatkräftige Hilfe seines Kameraden wäre er niemals an Land gekommen.

»Setzen Sie sich auf die Stufen und ruhen Sie aus«, befahl der Gauner, und dann: »Versuchen Sie aufzustehen!«

Lange Zeit saß Luke, den Kopf in die Hände gestützt, bis ihn schließlich die Stimme Haynes' auffahren ließ.

»Nach meinem Geschmack laufen viel zuviel Menschen über die Brücke«, sagte er. »Es ist besser, wir versuchen wegzukommen, bevor es ganz hell ist.«

Er half dem noch halb Bewußtlosen auf die Füße und die Treppe hinauf. Die Leute, die über die Brücke hasteten, beachteten kaum die beiden Menschen, die von dem Flußbett heraufgestiegen kamen, und Gunner führte Luke in der Richtung nach der Tooley Street. Dann rief er ein vorbeifahrendes Taxi an, schob Luke hinein und sagte zu dem Führer:

»Mein Freund hat ein bißchen schwer geladen. Fahren Sie nach der Lennox Street in Clerkenwell.«

Ein großer Häuserblock in der Lennox Street, wo der Gunner schon seit Jahren sein Hauptquartier in einer kleinen Wohnung – wenn man überhaupt von Wohnung sprechen kann – im Erdgeschoß hatte. Er kam sehr selten hierher, und die Polizei hatte keine Ahnung, wer der Inhaber der Wohnung war. Es war in Wirklichkeit sein pied-à-terre, sein Zufluchtsort im Falle der dringendsten Not. Vor zwei Nächten hatte er dort geschlafen, und die Aufwartefrau, die die Wohnung sauber hielt, hatte das Bett gemacht. Er legte Luke Maddison darauf.

»Die müssen Ihnen eine ziemlich starke Dose gegeben haben«, sagte er. »Ich werde Ihnen Kaffee machen.«

»Kaffee . . . brrrr«, schauderte Luke.

»Ach so, man hat Ihnen das Zeug im Kaffee beigebracht. Das ist jedenfalls der Grund, daß Sie noch nicht tot sind.«

Bevor er das Gas ansteckte, ließ er die Jalousien herab und ging dann in die kleine Küche. Er bereitete den Kaffee, wie ein Mann es tut, der jahrelang auf dem Kontinent für sich selbst zu sorgen hatte, der heute in München war und wenige Tage später vielleicht in Biarritz: Das Getränk war vorzüglich. Als er in das Zimmer zurückkam, saß Luke in sich zusammengesunken auf dem Bettrand.

»Ein paar Aspirintabletten sollten Sie wieder in Ordnung bringen«, sagte Haynes und machte sich auf die Suche nach ihnen.

Luke schluckte sie hinunter und wurde sich jetzt erst bewußt, wer sein Wohltäter eigentlich war.

»Sind Sie nicht Gunner Haynes?«

»So heiße ich«, war Haynes lächelnde Antwort.

»Wo ist Connor?«

Wieder das unergründliche Lächeln.

»Im Gefängnis, wie ich hoffe. – Nun, Mr. Maddison, fühlen Sie sich wohl genug, daß wir sprechen können?«

Luke blickte schnell auf.

»Sie kennen mich?«

Der Mann nickte.

»Im Augenblick, wo ich Sie sah, habe ich Sie wiedererkannt. Eines muß ich aber vor allen Dingen wissen – ist es wahr, was Connor mir erzählt hat? . . . Sind Sie bei dem Einbruch in Taffannys Geschäft dabei gewesen?«

»Ich habe das Auto gesteuert. Ich hatte nicht die geringste Idee, was man von mir wollte, oder um was es sich eigentlich handelte, bis – bis es zu spät war.«

»Sie waren also der bärtige Mann?« sagte der Gunner nachdenklich. »Das ist ja mehr als überraschend. Ich verlange keine Erklärung von Ihnen, aber . . .«

»Ich werde Ihnen alles erklären, sobald mein verwünschter Kopf etwas besser ist«, stöhnte Luke.

Es war schon zwei Uhr nachmittags, als Luke aus seinem unruhigen Schlafe erwachte. Sein Kopf war immer noch etwas benommen, im Munde hatte er einen Geschmack, bitter wie Galle, aber eine kalte Waschung in der Küche brachte ihn allmählich in seinen normalen Zustand. Bei einer Tasse Tee und einer Zigarette erzählte er seine Geschichte vom Anfang bis zum Ende, ohne diesmal etwas zu verbergen.

Der Gunner hörte schweigend, ohne jede Unterbrechung, zu, bis er seine Erzählung beendet hatte.

»Und das haben Sie auch Connor erzählt?«

»Ja. Nur habe ich nichts von meiner Frau und auch nichts von dem – Gelde erwähnt. Warum fragen Sie?«

»Ich weiß es selbst nicht recht. Connor ist ein gemeiner Kerl. Die einzige Hoffnung für Sie ist, daß er Knast kriegt – mit diesem wenig schönen Worte meine ich, daß er ins Gefängnis wandert. Wenn er bei der Razzia gut davongekommen ist, wenn die Polizei nichts Belastendes gefunden hat, und ich Narr habe ihn ja zeitig genug gewarnt – wissen Sie, Mr. Maddison, Connor gehört zu der Art Menschen, die die unglaublichsten Geschichten nachprüfen, wenn sie hoffen, daß vielleicht Geld dabei zu holen ist. Und das kann Ihnen bei Ihrem Wiederauftauchen noch große Schwierigkeiten bereiten.«

Er zündete sich eine neue Zigarette an und starrte an seinem Gast vorbei ins Leere.

»Warum hat Ihre Frau Sie so gehaßt? – Sie haben das soviel als möglich bemänteln wollen.«

Luke sah nachdenklich vor sich hin.

»Das ist doch, glaube ich, nicht so schwer zu verstehen«, sagte er endlich. »Sie nahm an, ich wäre für den Tod ihres Bruders verantwortlich. Er hat sich erschossen.«

»Ja, aber warum konnte sie denn das annehmen?« fragte der Gunner von neuem. »Zugegeben: Danty Morell kann einen außerordentlich glaubwürdigen Eindruck machen, aber schließlich wäre doch in diesem Fall sein Wort allein nicht genügend.« Er dachte einen Augenblick nach und fragte dann schnell: »Hat der junge Mann, als er sich erschoß, eine Mitteilung hinterlassen?«

»Davon ist mir nichts bekannt«, antwortete Luke kopfschüttelnd, »auch bei der Sitzung der Totenschaukommission ist nichts davon erwähnt worden.«

»Wer hat den Toten gefunden?«

Luke überlegte.

»Morell kam in seine Wohnung und fand ihn tot auf dem Boden.«

»Dachte ich mir's doch«, warf der Gunner ein. »Und gleich darauf änderte sich Mrs. Maddisons Verhalten Ihnen gegenüber. Da waren Sie natürlich noch nicht verheiratet, ist es nicht so? – Gut . . . das bedeutet also, daß Danty der jungen Dame irgendein Beweisstück vorlegte, das schwerwiegend genug war, um sie zu diesem – hm – Vorgehen gegen Sie zu veranlassen –«

»Ich mache ihr keine Vorwürfe«, warf Luke ein.

Er sah das belustigte Aufblitzen in den Augen seines Gegenüber.

»Aber Sie?«

»Nicht im eigentlichen Sinne des Wortes. Ich habe es schon lange aufgegeben, Menschen Vorwürfe zu machen. Es kommt nichts, gar nichts dabei heraus.« Bedächtig strich Haynes die Asche seiner Zigarette an der Untertasse ab. »Sie können nicht so plötzlich wieder auf der Bildfläche erscheinen, können nicht einmal nach Ronda fahren – das ist alles nicht mehr so einfach. Sie sind mit zwei ganz gefährlichen Verbrechern in Berührung gekommen – mit Connor und Morell.«

Er stand auf und ging nachdenklich, mit gerunzelten Brauen und halbgeschlossenen Augen, in dem kleinen Zimmer auf und ab.

»Connor macht mir die meiste Sorge. Kommt er vor Gericht und wird verurteilt, dann ist alles in Ordnung. Bis er wieder herauskommt, haben Sie hier alles eingerenkt und können seine Drohungen verlachen. Geht er aber frei aus, wird er Ihnen auf Schritt und Tritt, wenn Sie erst wieder von Ronda zurück sind, nachspüren. Haben Sie Ihren Paß?«

Er sah, wie Luke unter das Hemd griff und sah die Bestürzung auf seinem Gesicht.

»Ich muß ihn verloren haben.«

Gunner Haynes schnalzte ungeduldig mit der Zunge.

»Wenn Sie ihn in Keels Ladeplatz verloren haben, liegen Sie im Essen«, waren seine wenig eleganten aber deutlichen Worte. »Da bleibt nur eins übrig. Wir müssen versuchen, den Paß wiederzubekommen. Und noch etwas anderes: Ich möchte den Brief sehen, den der junge Mensch kurz vor seinem Tode geschrieben hat.«

»Ich glaube nicht, daß er geschrieben hat«, sagte Luke zweifelnd. »Und wenn wirklich, so ist der Brief sicher vernichtet worden.«

Zehn Minuten später hatte der Gunner das Haus verlassen. Zuerst ging er nach dem Polizeibüro in der Nähe von Keels Ladeplatz. Er kannte den diensttuenden Inspektor gut; zwischen ihnen bestand jene eigenartige Kameradschaft, die der »Laie«, der ehrsame Bürger, so schwer verstehen kann – das gute Einvernehmen zwischen dem Verbrecher und seinem grimmigsten Feinde.

Der Gunner traf den Inspektor, der gerade das Büro verließ.

»Ich habe gehört, Sie haben Arbeit mit Keels Ladeplatz gehabt?« begann er.

Der Inspektor blickte ihn lächelnd an.

»Gerücht, Benachrichtigung oder direkte Beobachtung, alter Freund?«

»Verstehe kein Wort«, antwortete der Gunner unschuldsvoll.

»Connor hat mir erzählt, Sie wären noch wenige Minute vor uns in seinem Grundstück gewesen, und wenn irgendeiner Sohre hätte, dann wären Sie es. Er sagte, Sie hätten ein Paket bei sich gehabt und wären dann, als er von dem Geschäft nichts wissen wollte, mit dem Boot weggefahren.«

Nun ist es aber eine wenn auch bedauernswerte Tatsache, daß auch die Polizei nicht ständig die reine Wahrheit spricht. Sie hat ständig mit Lügnern und gerissenen Hochstaplern zu tun, vielleicht ist das eine kleine Entschuldigung! Aber der Gunner hatte Vertrauen zu dem Mann, mit dem er sprach.

»Ich war auf der Werft, das stimmt schon. Um die Wahrheit zu sagen: ich kam aus einem ganz anderen Grunde zu ihm – Sie wissen ja, daß Fälschungen außerhalb meiner Tätigkeit liegen. Ich hörte, wie die Razzia begann und machte mich auf dem Boot davon. Ich nehme an, Sie haben Connor nicht festgehalten?«

»Nein«, antwortete der Beamte. »Wir konnten nichts Belastendes gegen ihn finden. Er und seine Freunde scheinen aber jetzt einen ausgedehnten Handel in Salz zu betreiben. Wissen Sie etwas darüber?«

»Und wenn ich's wüßte, würde ich nichts davon erzählen«, antwortete der Gunner kühl. »Sie haben also Connor nicht festgenommen! Jammerschade!«

Der Detektiv blickte nach rechts und links und sagte dann mit gedämpfter Stimme:

»Wenn Ihnen ganz besonders viel daran liegt, daß er mal eine Zeitlang . . . ruhig sitzt, könnten Sie mir ja sagen . . .«

Aber der Gunner schüttelte den Kopf.

»Sie möchten gern so einen kleinen Fingerzeig haben? – Tut mir leid. Die Sorte Auskunftsbüro bin ich nicht! – Ist Connor noch auf der Werft?« Und als der Inspektor nickte: »Ich werde ihn mal besuchen. Wir haben uns übrigens nicht gesehen, Pullman.«

Als er nach dem Ladeplatz kam, fand er Connor in gehobener Stimmung vor. Wenn dieser überhaupt enttäuscht war, Haynes zu sehen, so ließ er es wenigstens nicht merken.

»Sie schulden mir vier Pfund«, begann er. »Soviel habe ich für das Boot bezahlt, das Sie mir geklaut haben. Hoffentlich bleiben Sie nicht lange hier? . . . Ich erwarte nämlich Besuch . . . eine Dame!«

»Welche deiner vielen Freundinnen hat denn diesen hochtrabenden Titel?« war Haynes' beleidigende Frage.

»Niemand, den Sie kennen«, sagte Connor nachlässig. »Eine Dame, eine Mrs. Maddison – hat kürzlich ihren Mann verloren.«


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