Edgar Wallace
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Edgar Wallace

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14

Am Tage seiner Entlassung aus dem Hospital wurde Luke Maddison gefragt, ob er einen Friseur haben wollte. Er fuhr sich über sein stachliges Gesicht, und sein Lächeln war beinahe voller Humor.

»Nein, ich finde mich gerade so nett«, sagte er. »Darf ich aber eitel genug sein und um einen Spiegel bitten?« Die Schwester gab ihm einen kleinen Handspiegel, und aus dem klaren Glase blickte ihm ein fremder, ungepflegt aussehender Mann mit langem Haar und Stoppelbart entgegen. Das Gesicht war blaß, die Nase spitz geworden, aber die Augen blickten so klar wie immer.

»Großer Gott!« murmelte er und pfiff vor sich hin.

»Sie sehen nicht besonders hübsch aus«, sagte die gutmütige Schwester.

»Bin ich niemals gewesen«, war Lukes beinahe vergnügte Antwort. Dann kam ihm ein Gedanke, und er runzelte die Stirn. »Kommt dieser verwünschte Schutzmann noch mal zurück?«

»Nein«, sagte sie kopfschüttelnd, »er hat eingesehen, daß nichts mit Ihnen anzufangen ist. Das Urteil der Leichenschaukommission ist in der vergangenen Woche gefällt worden. Hatten Sie das nicht in der Zeitung gelesen?«

»Ich kann nicht lesen«, war Lukes Antwort. Aber die Schwester lachte nur.

Die Leichenschau war also vorüber, und höchstwahrscheinlich hatte sich der Vorsitzende mit seiner Aussage zufrieden gegeben, daß er Lewing zufällig getroffen hatte und bei ihm war, als sie angefallen wurden. Lange Zeit darnach las er einen Zeitungsbericht und fand sich selbst beschrieben als »William Smith ohne festes Domizil«.

»Der Mann (so sagte die Zeitung) befindet sich immer noch in einem sehr kritischen Zustand, und der Zeuge (der Arzt des Hospitals) erklärte, daß der Verwundete seiner Meinung nach kaum vor Ablauf eines Monats eine Aussage machen könnte, die den Mord aufklären würde.«

Luke verbrachte den Nachmittag in einem Armstuhl am Fenster und blickte auf den Fluß hinaus. Gegenüber lag das Parlamentsgebäude. Es erschien ihm merkwürdig, daß er wenigstens fünfzig der Männer persönlich kannte, deren Anwesenheit in diesem Gebäude durch die Flagge auf dem Glockenturm bekanntgegeben war – fünfzig Männer, von denen ein jeder bereitwilligst über die Westminsterbrücke eilen würde, um ihm zu helfen. Aber er wollte keine Hilfe. Er überdachte seine Lage mit einer solchen Ruhe, als ob es sich um einen anderen Menschen handelte. All das, was bisher Wert in seinem Leben gehabt hatte, war zertrümmert. Er war heimatlos im wahrsten Sinne des Wortes, denn es gab keinen Fleck auf der Erde oder kein Wesen, die für ihn Behaglichkeit und Glück bedeuteten. Er war der Mittelpunkt eines unendlichen Horizonts, in dem kein tröstendes Licht ihm zuwinkte. Die grausame Erfahrung, die er durchgemacht hatte, hatte allen Ehrgeiz in ihm getötet; der Wille zum Leben war geschwunden. Freudig und dankbar würde er gestorben sein.

Merkwürdig war es, daß er selten über Lewings Tod oder über den Messerstich nachdachte, der ihn tödlich verletzt in das Operationszimmer des Hospitals gebracht hatte. Er hatte keinen Haß gegen den Mann, der ihn so schwer verletzt hatte, war beinahe belustigt, daß er so völlig unbewußt das Opfer einer Vendetta geworden war, mit der er gar nichts zu tun hatte. Er las noch einmal die Worte auf dem Stück Papier, das der geheimnisvolle Freund ihm gebracht hatte:

»Geh nach der Ginnett-Street 339 in Lambeth zu Mrs. Fraser. Sie wird für dich sorgen.«

Er kicherte leise vor sich hin. Es gab also wirklich jemand in der Welt, der für ihn sorgen wollte; das kam ihm eigentlich komisch vor. Als er diese kurze Mitteilung zum erstenmal gelesen hatte, hätte er sie beinahe zerrissen und weggeworfen; bis zu seinem letzten Tage im Hospital hatte er nicht die geringste Absicht, die betreffende »Dame« aufzusuchen – erst als er alle möglichen Pläne gemacht und wieder verworfen hatte, dachte er an diese Aufforderung. Nach dem Büro zurückzugehen, war unmöglich, irgendwo auf dem Lande besaß er eine kleine Villa, aber er erinnerte sich undeutlich, daß auch diese Margaret verschrieben worden war.

Er könnte England verlassen, natürlich, aber das würde Geld kosten. Die Absicht, irgendeinen der Fäden zu berühren, die ihn in sein altes Leben zurückführen könnten, lag ihm gänzlich fern. Diese Episode seines Lebens war beendet. Es gab noch Abenteuer und andere Interessen in der Welt – wer weiß, ob er diese nicht in dem schäbigen Viertel von Ginnett-Street finden würde?

An einem sonnigen Nachmittag verließ er das Hospital und konnte ohne jede Hilfe seines Weges gehen. Er war durch keinerlei Gepäck beschwert. Die täglichen Übungen auf der Terrasse des Hospitals hatten ihm seine Kräfte wieder zurückgegeben . . . er konnte allein laufen. Aber er hatte an Gewicht verloren, und seine Kleider schlotterten ihm am Körper.

Ginnett Street war nicht ohne Schwierigkeit zu finden, aber schließlich gelangte er doch an sein Ziel: eine schmutzige, enge Straße in Borough. Nummer 339 war ein Gemüseladen an der Ecke einer noch schmaleren Straße, in der sich ein Holzzaun befand, durch den eine schmale Tür zu einem kleinen Hofe an der Rückseite des Hauses führte. Das Geschäft sah nicht besonders einladend aus; verblaßte Plakate an den Fensterscheiben teilten mit, daß man die beste Hauskohle und Feuerholz hier kaufen könnte. Das Innere war eng und schmutzig. Hinter dem Ladentisch ein Regal, in dessen Fächern schwindsüchtige Kartoffeln und einige welke Blumenkohlköpfe lagen. In der einen Ecke des Ladens ein Haufen Kohlen, daneben eine Waage. Die Bewohner der Ginnett-Street kauften augenscheinlich ihre Kohlen pfundweise ein.

Er stieß die Tür auf: eine gesprungene Glocke ertönte, und nach einigen Augenblicken tauchte aus dem Hintergrunde eine Frau mit raubvogelähnlichem Gesicht und unordentlichem Haar auf, die ihn mit jener Unfreundlichkeit begrüßte, die das normale Verhalten – er entdeckte dies später – des kleinen Geschäftsmannes in diesem Viertel war.

»Nun«, fragte sie schroff.

»Ich sollte zu Ihnen kommen und –« begann er, aber sie unterbrach ihn schnell.

»Sind Sie der Mann aus dem Hospital? – Smith?«

Luke nickte lächelnd. Sie hob einen Teil der Ladentafel auf und ließ ihn durchgehen.

»Wollen Sie, bitte, 'reinkommen?« Ihr Ton war respektvoll, beinah unterwürfig. »Ich dachte, Sie kämen erst morgen 'raus.«

Sie ging ihm voran in ein kleines, frostiges Wohnzimmer und machte die Tür nach dem Laden sorgfältig hinter ihm zu.

»Ich bin froh, daß ich das Zimmer für Sie schon heute in Ordnung gebracht habe«, sagte sie, »darin bin ich groß, bei mir ist alles rechtzeitig fertig. Wollen Sie mit nach oben kommen, Mr. Wie-heißen-Sie-doch-gleich?«

Neugierde veranlaßte ihn, ihr zu folgen. Beim ersten Anblick dieses schmutzigen Ladens war er versucht gewesen, seiner Wege zu gehen, um einen anderen Platz zu finden, wo er sein neues Leben beginnen könnte; aber jetzt ging er beinahe vergnügt hinter der Frau her. Eine der größten Schwächen Luke Maddisons war eine unausrottbare Neugier: eine Neugier, die ihn ständig fragen ließ: Was geschieht nun?

Man mußte vor nicht zu langer Zeit einen kleinen Anbau an das Haus gemacht haben; der Fußboden war fester, die Türen schienen solider zu sein. Sie öffnete eine und führte ihn in ein Zimmer, dessen Behaglichkeit ihn direkt überraschte. Erwartete er doch, etwas ganz besonders Abstoßendes zu finden. Möglicherweise hätte er in einem solchen Falle das Haus verlassen und wäre seiner Wege gegangen. Aber das Bett war gut, die Laken fleckenlos, die Ausstattung einfach aber bequem, und in dem Kamin brannte ein kleines Feuer.

»Um die feuchte Luft zu vertreiben«, erklärte sie beinahe entschuldigend und machte ihm auf diese Weise begreiflich, daß dieser Luxus nur Ausnahme wäre.

Auf dem Tisch lagen einige Bogen Briefpapier, daneben Tinte und Federhalter. Sie merkte, daß er sich darüber zu wundern schien, und erklärte:

»Ein gewisser Jemand dachte, Sie möchten vielleicht an Ihre Freunde schreiben, vor allen Dingen deswegen, weil Sie ja keinen Brief aus dem Hospital weggeschickt haben.«

»Woher, zum Teufel, weiß er denn das?« fragte er verwundert.

Mrs. Fraser lächelte geheimnisvoll.

»Er weiß alles«, war ihre Antwort.

Augenscheinlich war er eine Person von großer Bedeutung.

»Sie wollen doch sicher nichts mehr mit der Bande von Lewing zu tun haben?« sagte sie, und die ganze Zeit hindurch lagen ihre blassen Augen suchend auf seinem Gesicht. »Die Polizei hat die Bande in der letzten Woche zerstreut, und das war gut. Dieser Lewing würde seine eigene Mutter um ihre letzten Ersparnisse betrogen haben!«

»Ein ganz gemeiner Kerl also?«

»Wenn Sie mit ihm etwas zusammen unternommen hätten, würde er Sie totsicher 'reingelegt haben – besonders, da Sie ja eigentlich ein feiner Herr sind.«

»Eines möchte ich erst mal richtigstellen, Mrs. Fraser«, sagte Luke. »Ich bin kein Mitglied von Mr. Lewings oder irgendeiner anderen Bande gewesen und –«

»Weiß schon . . . Er wußte das auch. Aber Lewing tat sich immer groß mit den Leuten, die ihm unter die Finger kamen, und er hat Wunderdinge von Ihnen erzählt, und wie großartig Sie fahren können. Sie sind Autofahrer?«

»Autofahrer? O ja, ich glaube sogar ein ganz guter«, lächelte Luke.

»Auch Rennen gewonnen, nicht wahr?« fragte sie in ihrer monotonen Weise.

Und es war wirklich der Fall, daß Luke in einem Herrenfahrerrennen in Brookland gewonnen hatte, obgleich er sich keineswegs als Rennfahrer ausgeben konnte.

»Das dachte ich mir«, nickte sie. »Renommieren! das hat Lewing den Hals gebrochen . . .«

Luke erinnerte sich an eine Unterhaltung, die er mit dem Toten gehabt hatte.

»War er nicht ein Freund von Gunner Haynes?«

Als sie diesen Namen hörte, änderte sich der Gesichtsausdruck der Frau in ganz unvermuteter Weise. Sie verzog das Gesicht und blinzelte, als ob sie plötzlich geblendet würde.

»Ich weiß nichts, gar nichts von Mr. Haynes«, sagte sie zurückhaltend. »Je weniger man sagt, desto besser. Wir haben niemals Ärger mit Mr. Haynes gehabt und wollen auch keinen haben.«

In ihrem Tone lag etwas, das ihm ohne jeden Zweifel mitteilte, daß Furcht die Grundlage ihres Respekts für den Gunner war. Er war »Mr.« Haynes für sie, und sie war außerordentlich besorgt, nichts zu sagen, das man respektlos nennen könnte.

Sie machte sich geschäftig daran, ihm eine Tasse Tee zu bereiten, und er setzte sich an den Tisch. Das Briefpapier war eine große Versuchung für ihn; aber an wen hätte er schreiben sollen? An Margaret? – daran dachte er nicht einmal.

Wenn eine Maus in einen Bienenkorb eindringt und von den empörten Bewohnern getötet wird, dann finden diese, daß der Eindringling zu schwer ist, um herausgebracht werden zu können. Sie überziehen ihn mit Wachs, und so wird er ein Teil ihres Hauses: ein Klumpen, der einstmals lebte, aber nun keine Bedeutung mehr hat. In gleicher Weise hatte er Margaret einbalsamiert und verdeckt. Sie war für ihn eine Art Hindernis geworden, an dessen Vorhandensein er sich gewöhnen mußte.

Aber Steele? Was dachte wohl Steele? Und jetzt kam ihm zum erstenmal ein entsetzlicher Gedanke. Wenn Steele nun annahm, er hätte Selbstmord begangen? Wenn nun alle Zeitungen Artikel brächten über einen »Millionär« – alle Menschen in seiner Lage waren für die Zeitungen nur Millionäre – wenn nun die Flüsse durchsucht würden und eine Beschreibung von ihm veröffentlicht war? Bei dem Gedanken überlief es ihn kalt.

Mrs. Fraser brachte ihm ein Tasse Tee, der sich als trinkbar erwies. Er machte eine verzweifelte Anstrengung, um Auskünfte von ihr zu erhalten, die er leichter bekommen haben würde, wenn er die Zeitungen der letzten Woche durchgelesen hätte. Sie hörte geduldig seine Fragen an und schüttelte den Kopf.

»Nein, nichts Besonderes. Ein Mord in Finsbury, und dann hat man den Kerl gehenkt, der die alte Frau erschlagen hat.«

»Ich glaube mich zu erinnern, wie die Schwestern im Hospital von einem reichen Mann sprachen, der verschwunden war – seine Bank ging pleite oder so was Ähnliches . . . man sprach auch von Selbstmord . . .«

Sie verzog die Lippen und sagte kopfschüttelnd:

»Davon habe ich nichts gelesen, und das wäre mir sicher aufgefallen, denn meine Mutter hat schon all ihr Geld verloren, als die Webbick-Bank pleite ging . . .«

Als sie gegangen war, atmete er befreit auf. Möglicherweise hatte Steele der Polizei noch keinerlei Mitteilungen gemacht . . .

Er nahm einen Briefbogen und tauchte den Federhalter in die Tinte.


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