Edgar Wallace
Die seltsame Gräfin
Edgar Wallace

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35

Als das Tor so heftig aufgestoßen wurde und das Auto auf die Straße hinausfuhr, zog Lizzy den jungen Grafen in den Schatten der Mauer zurück. Im nächsten Augenblick lief ein Mann durch das offene Tor und sprang auf den fahrenden Wagen. Das Auto verlangsamte seine Fahrt

»Er ist drin«, flüsterte Lizzy. »Schnell auf den Gepäckträger!«

Sie lief schon hinter dem Wagen her, griff in die vorstehenden Eisenschienen und sprang hinauf. Der Wagen begann eben wieder schneller zu fahren, als auch Selwyn vorwärtstaumelte. Er erfaßte mit einer Hand den Rand des Gepäckträgers, hielt sich fest, und seine Beine bewegten sich schneller, als sie sich je bewegt hatten. Lizzy beugte sich vor, packte ihn fest bei der Hand und zog ihn an ihre Seite. Sie war völlig erschöpft.

»Festhalten!« zischte sie ihm ins Ohr. Diese Vorsicht war auch in höchstem Maße geboten, denn der Wagen stieß und polterte von einer Seite zur anderen, als er auf der unebenen Straße dahinraste.

»Tausend Meilen die Stunde!« rief sie ihm in ihrer naiven Art ins Ohr.

Jetzt bogen sie in die Chaussee ein. Der Wagen lief nun ruhiger, aber immer schneller. Lizzy hielt sich fest, so gut sie konnte, und ergab sich widerstandslos in ihr Schicksal. Einmal schaute sich ein Motorradfahrer um, der ihnen begegnete. Sie konnte gerade noch etwas von seiner Uniform sehen – es war ein Polizist. Aber bis sie sich darüber klar wurde, war er längst außer Sicht.

Selwyn wollte ihr etwas ins Ohr flüstern. Er hatte sich wieder von dem Schrecken erholt und fühlte sich Lizzy gegenüber zu Dank verpflichtet.

»Was soll denn nun aber aus unserem Wagen werden? Wir haben ihn doch stundenweise gemietet«, sagte er heiser.

»Shaddles zahlt alles«, erwiderte sie vergnügt.

Etwas später hielt das Auto an, und die beiden blinden Passagiere machten sich bereit, abzuspringen. Lizzy lugte heimlich um die Rückwand des Wagens herum und stellte die Ursache des Aufenthaltes fest. Sie waren vor einem kleinen Häuschen angekommen. Jemand stieg aus dem Wagen und ging zur Tür. Sie wußte, daß es eine Tankstelle war, in der sich auch ein Telefon befand. Sie hörte eine murmelnde Stimme. Dann kam der Mann, der telefoniert hatte, wieder heraus.

»Alles in Ordnung«, sagte er, stieg wieder ein, und der Wagen setzte sich aufs neue in Bewegung.

Sie waren keine zwanzig Meilen weitergefahren, als das Auto zu ihrem Erstaunen seine Geschwindigkeit wieder verlangsamte. Sie fuhren durch ein altes Tor, das vor ihnen geöffnet wurde. Lizzy fühlte die Erregung Selwyns, als er sich zu ihr beugte.

»Altes Familiengut!« flüsterte er. »Landsitz und all so was. Hab's gleich erkannt, als ich die Tore sah.«

»Wessen Landsitz?« fragte sie vorsichtig.

»Meiner«, war die überraschende Antwort. »Der meiner Mutter natürlich«, fügte er dann hinzu. »Schreckliches Haus! Hab's niemals gemocht. Moron Court, Newbury – ein verrückter Ort.«

Sie kamen durch eine lange Ulmenallee, und der Wagen fuhr langsamer und langsamer. Selwyn klopfte Lizzy auf die Schulter und sprang ab.

Da sie einsah, daß er recht hatte, folgte sie seinem Beispiel, und sie verbargen sich gerade noch rechtzeitig im Schatten eines Baumes, denn der Wagen hielt gleich darauf an, und sie hörten die Stimme der Gräfin Moron. Selwyn überlief es kalt, als er sie hörte.

»Fahren Sie zum Westeingang – dort ist niemand. Was haben Sie denn in Somerset zu tun gehabt, Chesney?«

»Ich werde Ihnen später alles erklären«, sagte er kurz.

Der Wagen fuhr langsam weiter, und die beiden sahen aus ihrem Versteck, wie die Gräfin ihm langsam nachging.

Woher wußte sie, daß das Auto kam? Aber plötzlich erinnerte sich Lizzy an das Telefonhäuschen, bei dem sie gehalten hatten.

»Ein merkwürdiger alter Stall«, flüsterte ihr Moron zu. »Sehen Sie dort die Erhebung im Dach? Das ist die Alarmglocke – vom Musikzimmer aus kann sie in Bewegung gesetzt werden, wenn etwas passiert.«

Sie warteten, bis die Gräfin Moron außer Sicht war, und folgten ihr vorsichtig. Vor dem Westeingang lag eine glasgedeckte Vorhalle. Die Tür wurde eben geschlossen, als sie ankamen, aber Moron lächelte Lizzy selbstzufrieden an und nahm etwas aus seiner Tasche. »Hausschlüssel«, flüsterte er ihr so laut zu, daß jeder in der Nähe es hätte hören müssen.

Er schloß vorsichtig auf und gab ihr ein Zeichen, ihm zu folgen. Ein langer Korridor, der mit dicken roten Teppichen belegt war, dehnte sich vor ihnen aus. Es brannte nur am Ende des Ganges ein Deckenlicht.

Sie schlichen sich mit größter Vorsicht den Gang entlang. Plötzlich stand Selwyn still und hob warnend den Finger. Er zeigte energisch auf eine Tür und winkte ihr, dahinterzutreten. Etwas weiter entfernt lag eine breite Marmortreppe. Er stieg mit Lizzy hinauf.

Sie sahen schreckenerregend aus. Von Kopf bis Fuß waren sie mit einer Schicht von weißgrauem Kalk bedeckt.

Am Ende der Treppe begann ein anderer Gang, der genauso wenig beleuchtet war wie der untere. »Hier ist die Galerie des Musikzimmers.« Er zeigte auf eine schmale Tür. »Machen Sie, bitte, keinen Lärm.«

Die Tür selbst lag im Schatten eines breiten Balkons. Unten im Saal brannten die Lichter, und sie hörten Stimmen, als sie eintraten. Sie hielten sich dicht an der Mauer und gingen vorwärts, bis es gefährlich wurde, weiter vorzutreten. Dann hätte Selwyn beinahe Veranlassung gegeben, daß sie entdeckt worden wären. Er wandte sich um.

»Sie ist nicht hier – ich meine Miss Reddle. Es ist eine ältere Frau mit weißem Haar.«

»Also Sie haben Ihre Tochter gesehen, Mrs. Pinder?« tönte es herauf.

»Ja, ich habe Lois gesehen.«

Lois! Lizzy hielt sich mit der Hand den Mund zu. Lois Reddles Mutter! Ihr Name war also Pinder.

»Ein sehr hübsches Mädchen!« sagte Lady Moron sanft.

»Ein liebes, süßes Mädchen! Ich bin sehr stolz, was mir auch immer geschehen sollte.«

»Was sollte Ihnen denn zustoßen?«

»Ich weiß es nicht – aber ich bin auf alles gefaßt.«

Lizzy schaute ihren Begleiter an, der in den großen Saal hinunterstarrte.

»Sie ist ein zu anmutiges Kind, als daß Sie es verlieren möchten, Mrs. Pinder, ich machen Ihnen ein Angebot. Gehen Sie mit Ihrer Tochter nach Südamerika – ich werde Ihnen eine jährliche Summe zahlen, viel mehr, als Sie zum Leben brauchen. Wenn sie hiermit einverstanden sind, werden Sie nie mehr belästigt werden.«

Mary Pinder lächelte und schüttelte den Kopf.

»Ihr Angebot kommt zu spät. Hätten Sie es mir gemacht, als ich noch im Gefängnis saß, und hätten Sie sich bemüht, mich von dieser grausamen Strafe zu befreien, so wäre ich vor Ihnen niedergekniet und hätte Ihnen gedankt und Sie gesegnet, aber jetzt weiß ich zuviel.«

»Was wissen Sie?« fragte Gräfin Moron.

Mrs. Pinder begann zu sprechen, und während sie erzählte, ergriff Lizzy die Hand des jungen Mannes, der neben ihr stand, und lehnte ihr Gesicht an seinen Arm. Er drehte sich einmal mit verklärtem Gesicht zu ihr um und lächelte sie an, als ob er aus ihrer Haltung alles schließen könnte, was ihr Herz bewegte. Niemand unterbrach Mrs. Pinder, bis sie geendet hatte.

»Sie wissen ein wenig zuviel, und das ist für meine Ruhe gefährlich«, sagte die Gräfin dann. »Auch die Sicherheit meiner Freunde wird durch Sie aufs Spiel gesetzt.«

»Das verstehe ich vollkommen«, sagte Mary Pinder ernst.

»Ich wiederhole mein Angebot. Ich rate Ihnen, es sich gut zu überlegen, bevor Sie die Chance, ein gesichertes Leben zu führen, zurückweisen.«

»Sehen Sie, Leonora –«, begann Chesney Praye.

»Schweigen Sie!« fuhr ihn die Gräfin an. »Ich habe diese Nacht einen Freund entdeckt, dem ich trauen kann – und das sind nicht Sie, Chesney. Tappatt hat mir alles erzählt, was sich zugetragen hat. Sie wollten mich hinter meinem Rücken betrügen und mir zuvorkommen. Heute abend werden Sie das tun, was ich Ihnen sage. Nun, Mrs. Pinder, nehmen Sie mein Angebot an?« – »Nein.«

Gräfin Moron wandte sich an den Doktor mit dem roten Gesicht.

»Mrs. Pinder«, sagte er in jovialem Ton und mit freundlicher Miene, während er auf sie zuging, »warum wollen Sie denn nicht vernünftig sein? Tun Sie doch, was die Gräfin von Ihnen verlangt.«

»Ich will nicht –«

Er war ganz nahe an sie herangetreten. Plötzlich streckte er seine Hand aus und erwürgte den Schrei in ihrer Kehle. Sie wand sich verzweifelt und wie wahnsinnig, aber niemand hinderte diese grausamen Hände. Chesney Praye machte einen halben Schritt vorwärts, aber Gräfin Morons Arm hielt ihn zurück.

Doch plötzlich sprang ein wild aussehender, staubbedeckter Mann, den niemand kannte, vom Balkon herunter und packte den Doktor von hinten an den Schultern. Als Tappatt zurücktaumelte und sein Opfer losließ, eilte Selwyn zu dem langen roten Seil, das an der einen Seite der Wand hing, und zog daran. Von oben kam ein betäubender Klang. Und wieder zog er an der Schnur.

»Du verrückter Kerl! Bist du toll?« Seine Mutter kam auf ihn zu, aber er stieß sie weg. Dann hörte er auf zu läuten.

»Das ist die Alarmglocke«, rief Selwyn. »In einer Minute werden wir das ganze Haus und das halbe Dorf hier versammelt finden, und ich will nicht in Gegenwart der Leute sagen, was ich jetzt zu sagen habe. Du denkst, ich bin ein Narr, und vielleicht hast du recht – aber ich bin kein schlechter Mensch, und ich werde dich und deine gräßlichen Freunde vor den Richter bringen!«

»Fort mit ihm!« schrie die Gräfin, als man schon das Laufen auf dem Korridor hörte. »Ich werde sagen, daß es ein unglücklicher Zufall war.«

»Rührt ihn nicht an!« rief eine Stimme vom Balkon.

Eine Vogelscheuche, ähnlich Selwyn, lehnte sich über das Geländer.

»Sie können ihnen erzählen was Sie wollen, aber sie werden Ihnen nicht glauben, nachdem sie mich gehört haben!« rief Lizzy mit drohender Stimme.

Die Tür wurde in diesem Augenblick aufgestoßen, und ein mangelhaft bekleideter Mann stürzte herein. Er stand atemlos und staunend still und starrte auf das Bild. Gleich darauf füllte sich die Türöffnung mit Männern und Frauen, die sich schnell und notdürftig bekleidet hatten.

»Ist ein Unglück geschehen, Mylady?«

»Es ist nichts passiert«, sagte sie scharf. »Warten Sie draußen!«

»Nein, gehen Sie nicht fort«, rief Selwyn mit erhobener Stimme.

Noch einmal gelang es der Gräfin, sich Ruhe zu verschaffen. Sie schaute zu dem Mädchen auf der Galerie empor.

»Reden Sie meinem Sohn das dumme Zeug aus. Das ist das Beste, was Sie tun können. Die Sache wird morgen in Ordnung gebracht.«

Immer mehr Leute kamen in den Saal.

Selwyn war zu Mrs. Pinder getreten, die auf einem Stuhl saß und am ganzen Körper zitterte. Er stützte sie und führte sie hinaus. Die Leute machten ihnen Platz. Im nächsten Augenblick war Lizzy Smith bei ihnen.

Die Gräfin von Moron ging in ihrem Ankleideraum auf und ab. Sie hatte die Hände auf den Rücken gelegt. Die ruhige, kühle Frau war nervös und erregt. Chesney Praye und Tappatt hatte sie im Musikzimmer zurückgelassen. Vor wenigen Minuten war der Wagen abgefahren, der Mary Pinder dem Glück und der Freiheit entgegenbrachte.

Die Gräfin fühlte einen heftigen Zorn gegen ihren eigenen Sohn, den sie seit seiner Geburt gehaßt hatte, am meisten aber gegen Chesney. Sie hatte keine Hoffnung mehr, daß sich das Glück noch einmal zu ihren Gunsten wenden könnte. Alles, wofür sie gekämpft hatte, alles, was sie gewonnen hatte, zerrann nun in nichts! Die Stunde der Vergeltung war gekommen.

Sie suchte den Fehler zu entdecken, den sie in ihrem Plan gemacht hatte. Irgendeine Kraft hatte gegen sie gearbeitet – Dorn war doch nur das Werkzeug. Welche unbekannte, heimliche Macht stand hinter ihm? Sie bewunderte ihn jetzt doch in seiner Art.

Langsam öffnete sie einen kleinen Geheimschrank in der Mauer, der durch ein silbernes Barometer verdeckt wurde, zog einen kleinen Kasten heraus und schüttete den Inhalt auf den Tisch. Es war ein gefaltetes Stück Briefpapier und ein Schlüssel. Dann holte sie aus dem hinteren Teil des Schrankes noch eine kleine automatische Pistole hervor, nahm sie aus dem Lederetui und überzeugte sich, daß sie geladen war.

 


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