Edgar Wallace
Die seltsame Gräfin
Edgar Wallace

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31

Lois wollte ihren Ohren nicht trauen.

»Ich bilde mir ein, daß ich die Gräfin von Moron bin?« fragte sie verwirrt. »Das ist doch ganz unmöglich – ich bilde mir wirklich nichts Derartiges ein!«

»Doch, das tun Sie – der Doktor sagt, Sie glauben, daß Sie die Gräfin sind. Sie versuchten, Lady Moron umzubringen, weil Sie ihren Titel haben wollten!«

Diese Unterstellung war so absurd, daß Lois lachen mußte.

»Aber das ist doch vollkommener Unsinn! Ein solcher Gedanke ist mir niemals gekommen! Lady Moron! Ich bin doch eine Stenotypistin. Wer hat Ihnen denn das gesagt?«

»Der Doktor – er sagt immer die Wahrheit. Nur die Leute belügt er, denen er Geld schuldig ist. Und das ist doch sehr natürlich!«

Die alte Frau erhob sich und ging aus dem Zimmer. Sie blieb eine halbe Stunde fort und versorgte anscheinend in dieser Zeit die andere Gefangene, denn als sie zurückkam, brummte sie etwas von unzufriedenem Volk.

»Sie hat alles, was sie braucht – zu essen und zu trinken –, und doch ist sie unzufrieden, das zeigt, daß sie verrückt ist. Ich habe noch nie eine verrückte Frau gesehen, die zufrieden war.«

Lois dachte, daß sich diese Schwäche nicht nur auf verrückte Leute beschränkte.

»Wann gehen wir wieder von hier fort?«

»Ich weiß es nicht – wahrscheinlich heute abend. Der Doktor wird dann herkommen und mich ablösen, damit ich schlafen kann. Ich bin nahezu tot.«

Mrs. Rooks war nicht geneigt, die Unterhaltung fortzusetzen, und mit jeder Stunde wurde sie schweigsamer und gereizter. Als die Dunkelheit hereinbrach, hielt sie sich außerhalb des Hauses auf. Lois hörte ihre Schritte vor dem Fenster. Sie saß auf ihrem Stuhl und war halb eingeschlafen, als sie plötzlich die Stimme des Doktors hörte und sofort wieder wach wurde.

»Nehmen Sie die andere – ich gehe mit dem Mädchen hinterher. Lassen Sie alle Ihre Sachen hier, es ist möglich, daß wir zurückkommen. Ich glaube zwar nicht, daß es nötig sein wird, aber immerhin müssen wir damit rechnen.«

Das Zimmer wurde dunkel, als er eintrat. Er drehte seine Taschenlampe an und ließ den Lichtschein über sie hingleiten.

»Sie hatten einen schlechten Tag, aber dafür müssen Sie Ihren Freund tadeln«, sagte er. »Heute abend werden Sie wieder in Ihrem Bett schlafen, und Sie werden es besser haben als er!«

Sie erwiderte nichts, denn sie konnte seine geheimnisvolle Anspielung auf Michael nicht verstehen.

»Ein schlauer Kerl, dieser Dorn – wie? Ein tüchtiger Detektiv! Hat viel Witz und Verstand.«

Aber sie gab ihm wieder keine Antwort.

»Er ist wirklich schlau«, sagte Tappatt.

Er war in so heiterer, ausgelassener Stimmung, daß sie annahm, Michael Dorn sei zurückgekommen und von ihm überlistet worden. Ihr Mut sank.

»Sehen Sie einmal her.« Er beleuchtete mit seiner Lampe eine automatische Pistole von schwerem Kaliber. Sie erschrak.

»Seien Sie nicht bange, ich werde Sie nicht töten. Wir bringen die Leute nicht um, wir heilen sie. Deswegen sind Sie doch auch hier, daß Sie geheilt werden.« Als er ihr auf die Schulter klopfte, schauderte sie vor ihm zurück.

»Ich wollte Ihnen das Ding nur zeigen, weil es Dorn gehörte ich nahm es ihm weg, und das war so leicht, als wenn man einem Kind Geld wegnimmt. Ich zog es aus der Tasche, und er sagte nicht einmal etwas dazu – obwohl er so schlau ist.«

»Ist er denn tot?« fragte sie, und ihre Frage reizte ihn aufs neue.

»Nein, er ist nicht tot«, sagte er redselig. »Nichts so Dramatisches – ich bringe die Leute nicht um, das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Ich heile sie. Aber der ist endgültig geheilt. Die Manie, überall herumzuschnüffeln, ist ihm vollständig genommen.«

Mrs. Rooks und ihre Gefangene hatten das Haus schon verlassen. Lois hörte, wie sie durch das Unterholz gingen, und sie sah einen Augenblick lang das Aufblitzen der Taschenlampe, mit der die alte Frau den Weg suchte.

»Wir lassen sie vorausgehen«, sagte der Doktor, »und dann folgen wir ihnen – die Rooks ist langsam, sie wird alt.«

»Wer ist denn die andere Frau?«

»Eine meiner Patientinnen«, erwiderte er gleichgültig. »Sie leidet unter einer ganz außergewöhnlichen Einbildung.«

»Warum haben Sie Mrs. Rooks erzählt, daß ich verrückt sei?«

»Weil das stimmt«, war die ruhige Antwort. »Ich habe Ihnen die Diagnose gestellt, daß Sie an Wahnvorstellungen leiden und Neigung zum Selbstmord haben. Und wenn ich eine Diagnose gestellt habe, ist sie noch nie bezweifelt worden. Und nun, wenn Sie fertig sind –«

»Warum sagen Sie denn, daß ich mir einbildete, ich sei die Gräfin von Moron?«

»Weil Sie das tun! Ich habe es in die Krankheitsgeschichte eingetragen, und Krankheitsrapporte sind beweiskräftig vor Gericht!« Und er schüttelte sich vor Lachen, als ob er einen guten Witz gemacht hätte.

Sie kehrten zu dem anderen Haus zurück, und selbst in ihrer Müdigkeit und Traurigkeit war ihr der Weg durch die Felder angenehm, denn ihre Beine waren von dem langen Sitzen ganz steif geworden, und alle Glieder schmerzten sie. Als sie den letzten Hügel emporstiegen, tauchte die lange graue Mauer von Gallows Farm vor ihnen auf. Das Tor stand offen, sie gingen hindurch. Halbwegs auf dem Hof faßte er ihren Arm, und sie blieb stehen. Sie hörte das Rasseln der angeketteten Hunde und war gespannt, ob er sie wieder vor den Gefahren warnen wollte, die ein Fluchtversuch mit sich brachte.

»Da unten ist ein netter kleiner Raum«, sagte er und zeigte auf die kleine Gefängniszelle. »Jemand hat gesagt, daß sie nicht luftig sei, obgleich sie nur ein ganz klein wenig unterhalb des Erdbodens liegt. Ich werde sie Ihnen eines Tages einmal zeigen – sie hat eine interessante Geschichte.«

»Wollen Sie mich da hineinsperren?« fragte sie. All ihr Mut verließ sie.

»Sie, meine Teure? Sie sind die letzte Person in der Welt, die ich dort unterbringen würde.« Wieder fühlte sie das Streicheln seiner verhaßten Hand. »Gehen Sie nur ruhig vorwärts – Ihr schönes Zimmer wartet auf Sie.« Er nahm die Lampe, die im Gang auf einem Stuhl stand, und leuchtete ihr die Treppe hinauf. Sie schaute auf den Raum gegenüber und sah, daß ein neues Schloß an der Tür angebracht worden war. Wahrscheinlich würde die andere Frau jetzt ihre Nachbarin werden. Tappatt folgte der Richtung ihres Blicks.

»Sie bekamen Gesellschaft«, sagte er. »Diese alte Anstalt füllt sich schnell. Alles, was man zur Gründung eines Heims für Geisteskranke braucht, ist vorhanden, und zufriedene Patienten sind die beste Reklame!«

»Wo ist Mr. Dorn?« fragte sie, als er den Raum verließ.

»Er ist nach London zurück. Ich habe ihm einen Floh ins Ohr gesetzt – der Kerl wird mich nicht so bald wieder belästigen.«

»Sprechen Sie wohl jemals die Wahrheit?«

Aus irgendeinem Grund wurde er wütend über diese Frage und änderte plötzlich sein Verhalten ihr gegenüber.

»Ich werde Ihnen an einem dieser Tage die Wahrheit sagen, mein junges Fräulein, und es wird Ihnen sehr unangenehm sein, sie zu hören!« fuhr er sie böse an.

Dann schlug er die Tür hinter sich zu und schloß ab.

 


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