Edgar Wallace
Die seltsame Gräfin
Edgar Wallace

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

24

Es war bereits drei Uhr nachmittags, als Lois Reddle aus tiefem Schlaf erwachte und entsetzlichen Hunger fühlte. Schnell sprang sie aus dem Bett, zog ihre Schuhe an und ging zum Fenster. Die Aussicht, die sie von hier aus hatte, war wirklich wenig reizvoll. Sie schaute auf den Wirtschaftshof hinunter, in den sie heute früh eingefahren waren. In der schlampigen Frau, die die Hühner fütterte, erkannte sie die Pförtnerin wieder, die ihnen das Tor geöffnet hatte. Hinter der grauen Mauer senkte sich ein kahler Abhang, auf dem nicht ein einziger Baum oder Strauch stand. Als sie ihr Gesicht dicht an die Scheibe drückte und seitwärts blickte, konnte sie nichts anderes als eine Talsenkung zwischen den Hügeln erblicken, die von dunklem Gebüsch überragt war.

Nachdem sie sich Gesicht und Hände mit kaltem Wasser gewaschen hatte, fühlte sie sich erfrischt, aber ihr Hunger hatte sich noch gesteigert. Sie ging zur Tür und versuchte sie zu öffnen, aber sie rührte sich nicht. Sie war verschlossen. Auch die Fensterflügel öffneten sich nur ein wenig, wie sie jetzt feststellte. Aber sie konnte wenigstens die Frau auf dem Hof anrufen, und es gelang ihr auch, sie auf sich aufmerksam zu machen. Die Alte winkte aber nur ungeduldig mit der Hand und fütterte die Hühner weiter. Nach ein paar Minuten ging sie seitwärts in den Hof, so daß Lois sie aus dem Gesichtskreis verlor. Es dauerte noch einige Zeit, bis sie ihren schweren Tritt auf der Treppe hörte. Sicherlich war die Tür nicht nur zufällig verschlossen worden, denn als die Frau mit einem Tablett hereinkam, sah sie den Schlüssel an ihrem Gürtel hängen.

»Bitte schließen Sie die Tür nicht wieder ab«, sagte Lois, während sie erfreut auf das einfache Essen sah.

»Essen Sie nur ruhig und kümmern Sie sich nicht um die Tür«, war die unerwartete Antwort.

Lois war sich nicht im Zweifel darüber, daß diese Frau ihr feindlich gesinnt war, und sie besaß Klugheit genug, nicht weiter mit ihr zu streiten. Die Alte entfernte sich und schloß den Raum wieder zu. Lois eilte bestürzt zur Tür und schlug heftig dagegen.

»Schließen Sie die Tür sofort wieder auf«, rief sie. Aber sie erhielt keine Antwort. Nur die harten Tritte der Frau klangen von der Treppe zu ihr herauf. Lois ging langsam zum Tisch zurück, auf dem das Essen noch stand. Sie fand sich vor einem neuen Problem.

Aber der gesunde Hunger der Jugend siegte, und als sie ihre Mahlzeit beendet hatte, kehrte ihr Selbstbewußtsein bis zu einem gewissen Grad zurück. Es war doch unmöglich, daß man sie hier gefangenhielt. Dieser Gedanke schien ihr lächerlich. Wahrscheinlich hatte die Frau die Tür nur in ihrem Übereifer geschlossen, um sie – vor wem? – zu schützen. Sie schüttelte den Kopf. Doch nicht etwa vor Michael Dorn? Was die Gräfin auch immer von ihm denken und so unverzeihlich sein Betragen auch gewesen sein mochte, sie trug ihm nichts nach. Er würde sie nicht verfolgen, um sich zu rächen. Das war ausgeschlossen.

Sie versuchte noch einmal vorsichtig, die Tür zu öffnen. Aber sie war fest verschlossen. Als sie sich zu dem Fenster wandte, entdeckte sie, daß zwei starke Hölzer mit großen Schrauben von außen angebracht waren, so daß man nur ein paar Zentimeter weit öffnen konnte. Das andere Fenster war in ähnlicher Weise gesichert. Da sah sie den Doktor unten im Hof. Er trug einen zerschlissenen Anzug und hatte keinen Kragen an. Eine alte Golfkappe bedeckte seinen Kopf.

Mit unsicheren Schritten ging er zu dem Tor, durch das sie heute morgen gekommen waren. Es stand weit auf, und er hatte Mühe, es zu schließen. Es bedurfte keiner eingehenden Kenntnis menschlicher Schwächen, um an seinem schwankenden Gang zu sehen, daß er mehr getrunken hatte, als er vertragen konnte. Als er sich umwandte und zum Haus zurückging, sah er sie und rief ihr mit schriller Stimme einen Gruß zu.

»Haben Sie gut geschlafen, junge Freundin?« brüllte er hinauf. »Hat Ihnen die alte Hexe auch das Mittagessen gebracht?«

»Doktor –«, sie sprach durch den engen Fensterspalt zu ihm, »kann ich nicht nach unten kommen? Sie hat mich eingeschlossen.«

»Sie eingeschlossen?« Diese Feststellung schien ihm Vergnügen zu bereiten, denn er schüttelte sich vor Lachen. »Sie hat Sie sicherlich zum Spaß eingeschlossen, sie muß Angst vor Ihnen gehabt haben, meine Liebe! Das ist schon alles in Ordnung. Ich werde nach Ihnen sehen. Haben Sie wieder Stimmen gehört? Haben Sie jemand gesehen, der Ihnen folgte, als Sie umhergingen? In ein paar Tagen geht es Ihnen wieder besser.«

Diese Worte beunruhigten sie. Er hatte schon bei ihrer ersten Begegnung von geheimnisvollen Stimmen gesprochen und von Leuten, die ihr folgten. Glaubte er denn, daß sie verrückt sei? Bei diesem Gedanken lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Sie ging zur Tür und wartete, daß er die Treppe heraufkommen sollte, aber sie vernahm nur ein weiches Tappen, und gleich darauf schnüffelte etwas an der Tür. Dann hörte sie ein leises, unterdrücktes Knurren und die harte Stimme der Frau.

»Bati, Bati hiserao! Komm herunter, du schwarze Bestie!«

Das Tier rannte die Treppe hinunter, und Lois hörte noch einen Hieb und ein scharfes Bellen. Später sah sie zwei schwarze Hunde auf dem Hof, die viel größer und stärker als Alaskahunde waren, aber viel plumper aussahen. Sie liefen umher und durchwühlten den Stallmist. Eines der Tiere knurrte mit gesträubten Haaren und zeigte ein starkes Gebiß. Sie trat schnell vom Fenster zurück. Dann klopfte sie wieder an die Tür und stampfte auf den Fußboden, aber niemand kümmerte sich um sie, und obwohl sie die Stimme des Doktors hörte und nach ihm rief, meldete er sich nicht. Ihre Lage war gefährlich, und es begann ihr langsam klarzuwerden, warum Dorn jene ungeheuerlich erscheinende Maßnahme ergriffen hatte.

Sie wußte nicht, in welcher Gegend sie sich befand, denn die Landschaft zeigte, soweit sie sehen konnte, keine besonderen Merkmale. Sie konnte nur feststellen, daß ihre Fenster nach Norden gingen, sonst war sie unfähig, die Lage des Gehöftes näher zu bestimmen.

Am Nachmittag brachte ihr die Frau Tee, aber er war schlecht zubereitet. Lizzys Tee war dagegen ein wahrer Göttertrank.

»Ich bestehe darauf, daß Sie die Tür offenlassen«, sagte Lois.

»Die Hunde würden Sie in Stücke reißen, wenn ich das täte«, erwiderte die Frau. »Man kann sie nicht halten, wenn Fremde hier sind. Horchen Sie, wie Bati jetzt bellt!«

Von der Tür kam ein Schnüffeln und Knurren.

»Willst du wohl fort, Juldi!« rief sie mit kreischender Stimme in ihrem komischen Gemisch von Englisch und Hindostani.

Lois sah sie fest an. »Ich fürchte mich nicht vor Hunden«, sagte sie bestimmt und ging zur Tür.

Aber die Frau überholte sie, faßte sie am Arm und riß sie herum.

»Sie bleiben hier und tun das, was man Ihnen sagt, oder es geht Ihnen schlecht«, rief sie drohend.

»Wo ist der Doktor? Ich muß ihn sprechen!«

»Er ist nicht da – er ist ins Dorf gegangen, um seinen Whisky zu trinken.«

Sie stieß den Hund, der durch die halboffene Tür hereinkommen wollte, mit einem Tritt zurück und schloß wieder ab.

 

Eine halbe Stunde saß Lois vor ihrem Essen, ohne es anzurühren, und versuchte nachzudenken. Es begann bereits zu dunkeln, als sie den zweiten dramatischen Auftritt erlebte. Sie stand am Fenster, schaute in den trostlosen Hof hinunter und dachte an Michael Dorn. Neue Hoffnung regte sich in ihr. Er würde sie finden, er würde ihr überallhin folgen, wo sie auch sein mochte. Woher ihr dieser Gedanke kam, war ihr selbst nicht ganz klar. Es war ein Geheimnis für sich, daß er ihrem Schutz seine ganze Kraft und Zeit widmete. Aber er beschäftigte sich mit ihr und er tat es sicherlich auch jetzt. Dieser Gedanke beruhigte sie, und sie vergaß die Furcht.

Plötzlich tönte vom Hof die schrille Stimme der alten Frau herauf.

»Ich sagte Ihnen doch, daß Sie diese Schüsseln waschen sollten haben Sie das nicht getan? Wenn ich Ihnen einen Auftrag gebe, dann haben Sie ihn auszuführen! Sie alte Zuchthäuslerin!«

»Warum hält man mich hier fest?« hörte Lois eine sanfte Stimme und zitterte. »Er sagte mir doch, daß –«

»Ganz gleich, was er Ihnen sagte – waschen Sie die Schüsseln, und danach können Sie den Fußboden schrubben; wenn die Arbeit nicht in einer halben Stunde getan ist, sperre ich Sie in den Keller zu den Ratten, oder ich lasse die Hunde auf Sie los – die werden Sie in Stücke reißen. He, Bati, Mali!«

Die Hunde bellten heiser und rasselten mit ihren Ketten.

»Das tue ich nicht – das tue ich nicht!«

Da hörte Lois ein unheimliches Klatschen.

»Wenn Sie mir nicht gehorchen, werde ich Sie bis aufs Blut peitschen!«

Die beiden mußten wohl miteinander ringen. Lois blickte entsetzt hinunter. Sie sah, wie eine schwache Frau schwankte und zu Boden fiel und wie die Alte mit der Peitsche auf sie einschlug.

»Halten Sie ein!« schrie Lois heiser. Im selben Augenblick beugte sich die alte Hexe über die am Boden liegende Frau und zog sie beiseite. Lois Reddle taumelte und fiel ohnmächtig zu Boden.

 


 << zurück weiter >>