Edgar Wallace
Die seltsame Gräfin
Edgar Wallace

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22

Als Michael Dorn die Polizeistation verließ, eilte er in seinem Wagen nach der Charlotte Street. Um diese frühe Morgenstunde war die Straße völlig leer. Er war auf ein langes Warten gefaßt, aber wenn er die Gewohnheiten des alten Mackenzie gekannt hätte, wäre er nicht erstaunt gewesen, daß er ihm sofort öffnete.

Der alte Mann war im Schlafrock und hatte sich erst vor einer halben Stunde zur Ruhe gelegt. Er schaute den Besucher ein wenig argwöhnisch an, und sein Verdacht verstärkte sich noch, als er erfuhr, weshalb er kam.

»Ja, Sir. Miss Smith ist zu Hause – kommen sie von der Polizei?«

»Ja«, erwiderte Dorn, ohne damit die Wahrheit zu verletzen, »kann ich Miss Smith sprechen?«

»Sie ist erst sehr spät nach Hause gekommen und war sehr aufgeregt. Soviel ich weiß, hat die gute Gräfin versprochen, alles zu tun, was in ihrer Macht steht, um Miss Reddle wieder zu befreien. Es ist wirklich schrecklich, was da passiert ist. Wollen Sie bitte eintreten, Sir.«

Michael folgte ihm die Treppe hinauf zu seinem kleinen Zimmer und setzte sich nieder, während der alte Mann die Treppe hinaufstieg, um Lizzy zu wecken. Sie hatte aber das Klopfen an der Haustür auch gehört und wartete an der offenen Tür ihres Zimmers, als Mackenzie heraufkam.

»Ist Dorn unten?« fragte sie böse. »Dann komme ich gleich hinunter und rede einmal einen Ton mit ihm. Er wird ganz klein sein, wenn ich zu Ende bin!« Sie kam wutentbrannt herunter.

»Na, das ist aber eine Dreistigkeit, noch hierher zu kommen, nachdem Sie die arme Lois so heimtückisch verraten haben –«

 

»Ist sie nicht hier?« unterbrach er sie barsch.

»Hier? Natürlich ist sie nicht hier! Sie ist doch auf dem Polizeirevier. Wie konnten Sie bloß –«

»Sie ist nicht mehr auf dem Polizeirevier – sie ist freigelassen worden, und ich muß den Mann finden, der ihre Entlassung durchgesetzt hat.«

Sein Auftreten und seine Stimme schüchterten Lizzy vollständig ein.

»Ist sie denn nicht bei Lady Moron?«

»Ich fahre jetzt sofort zum Chester Square – aber ich erwarte nicht, Miss Reddle dort zu finden. Ich habe sie einsperren lassen, um ihr Leben zu retten – hoffentlich begreifen Sie das nun endlich! Man hat schon drei Versuche gemacht, sie zu töten, und nach meinen Ermittlungen war ein vierter Anschlag geplant, der mehr Erfolg versprach. Ich wußte, daß ihre Mutter jetzt aus dem Gefängnis entlassen werden sollte, und sie ist auch tatsächlich gestern abend herausgekommen – es ist jetzt dringend notwendig, daß ich Lois Reddle unter meiner Aufsicht habe.«

Lizzy sank in einen Stuhl.

»Ihre Mutter ist aus dem Gefängnis entlassen? Was sagen Sie da? Ihre Mutter ist doch tot! Man versucht, Lois umzubringen – wer will denn Lois ermorden? Das Unglück mit dem Balkon war doch ein Zufall.«

»Es war kein Zufall«, erwiderte Michael ruhig. »Der Balkon war schon seit Jahresfrist baufällig, und die Baupolizei hatte angeordnet, daß er repariert werden sollte. Bis Miss Reddle das Zimmer dort oben am ehester Square bezog, wurden die großen Fenster, die auf den Balkon führten, auch stets geschlossen gehalten.«

Lizzy atmete schwer. »Aber die Dienstboten –«

»Die Dienstboten waren alle neu engagiert. Keiner war länger als vierzehn Tage im Haus. Sergeant Braime kam von Newbury, und selbst er wußte nichts.«

»Sergeant Braime?« wiederholte sie und schaute ihn groß an.

»Braime ist ein Beamter der Staatsanwaltschaft, der seit sechs Monaten im Haushalt der Gräfin angestellt war«, lautete die überraschende Antwort. »Niemand durfte auf den Balkon hinausgehen. Es war auch ein Holzgitter dort angebracht, das die Dienerschaft davon abhalten sollte – aber als Lois an jenem Abend in ihr Zimmer kam, war es vorher entfernt worden.«

»Wer hat das getan?« fragte Lizzy.

Michael zuckte die Achseln.

»Ich weiß es nicht – aber ich werde es noch entdecken.«

»Aber wo ist Lois denn?«

»Das will ich ja gerade herausbringen. Ich fahre jetzt direkt zum Chester Square. Wollen Sie mich begleiten?«

Sie verschwand im Augenblick aus dem Zimmer.

»Aber, Mr. Dorn, es ist doch fürchterlich, daß sich alle Leute gegen dieses unschuldige Mädchen verschwören«, sagte der alte Mackenzie, von Schrecken gepackt. »Sicherlich werden Sie Miss Reddle im Haus der guten Gräfin finden.«

»Ich hoffe es, aber ich bin nicht davon überzeugt«, entgegnete er.

Die Lippen des alten Mannes zitterten.

»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein? Ich gehe ja niemals aus dem Haus, aber ich würde selbst das tun –«

Michael schüttelte den Kopf.

»Ich fürchte, Sie können nichts helfen, höchstens wenn das Unvorhergesehene eintreten sollte, daß Miss Reddle hierher zurückkommt. Dann sorgen Sie bitte dafür, daß sie nicht wieder weggeht, und daß sie unter keinen Umständen irgendwelchen Besuch empfängt. Aber ich bezweifle stark«, fügte er mit einem schwachen Lächeln hinzu, »daß Ihre Hilfe nötig sein wird.«

Lizzy erschien in Mantel und Hut, und während sie zum Chester Square fuhren, erzählte sie Dorn, was sie inzwischen unternommen hatte, um Lois Reddle zu befreien.

»Ich ging los, um die Gräfin zu suchen, und fand sie in dem Haus eines Freundes. Ich teilte ihr alles mit, was mit Lois geschehen war. Sie war furchtbar aufgeregt – ich hatte früher noch nicht mit ihr gesprochen, aber sie war sehr liebenswürdig zu mir.«

»War sie in Begleitung? Kennen Sie Chesney Praye?«

Lizzy schüttelte den Kopf. »Nein, persönlich nicht. Lois hat mir nur von ihm erzählt. Aber ich habe ihn noch nie zu sehen bekommen.«

Michal beschrieb ihr den Mann genau, aber sie schüttelte wieder den Kopf.

»Nein, das war er nicht.«

»Was tat die Gräfin?«

»Sie telefonierte mit jemand und sagte, sie würde dem Polizeioffizier vom Dienst einen Brief schicken. Dann bat sie mich, wieder in die Charlotte Street zu gehen und ruhig zu warten, bis Lois käme.«

Dorn nickte.

»Da hätten Sie lange warten können – die Gräfin wußte ganz genau, daß Lois nicht in ihr Haus zurückkehren würde«, sagte er grimmig. »Und wenn sie sich nicht am Chester Square eingefunden hätte und Sie hätten sie dort erwartet, dann hätten Sie wissen wollen, wo man sie hingebracht hat.«

Der Wagen fuhr vor dem Haus Nr. 307 vor. Dorn stieg aus und drückte auf die Klingel. Aber es meldete sich niemand. Er läutete noch einmal und klopfte dann – aber es kam immer noch keine Antwort. Als er wieder aus der Vorhalle heraustrat und zu den Fenstern hinaufsah, wurde ein Schiebefenster in die Höhe gezogen, und ein zerzauster Kopf zeigte sich oben. Es war Lord Moron, der anscheinend in dem Geschoß schlief, das sonst dem Dienstpersonal überlassen war.

»Hallo – was gibt es?«

»Wollen Sie herunterkommen?« rief Michael.

Sie warteten lange, bevor sich die Tür öffnete, aber dann war eine weitere Erklärung für die Verzögerung nicht mehr notwendig, denn neben Selwyn stand die Gräfin in der Halle. Sie war in einen Mantel gehüllt, und ihre majestätische Erscheinung bot ein imposantes Bild.

 


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