Edgar Wallace
Die seltsame Gräfin
Edgar Wallace

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28

Michael Dorn konnte wirklich zufrieden sein mit diesem Teilerfolg. Aber er war ein nüchterner Kopf, der Eier nicht als Hühner rechnete. Auch unterschätzte er nicht die Schlauheit dieses ränkevollen Mannes, mit dem er hier zu tun hatte.

Die Gedanken des Doktors arbeiteten schnell, und ein volles Glas Whisky half ihm. Er hatte seine volle Denkkraft und Leistungsfähigkeit immer erst erreicht, wenn er ein Anregungsmittel zu sich genommen hatte. Dorn wollte also vorläufig in seinem Haus bleiben. Es kamen ihm allerhand Gedanken, wie er sich dieses unliebsamen Besuchers entledigen könnte, aber er verwarf sie alle wieder.

»Sagen Sie mir, wo der Kaffee steht, und ich werde ihn selbst kochen«, sagte Dorn. »Seien Sie nicht böse, wenn ich ein wenig argwöhnisch bin, aber die Ärzte haben eine unheimliche Kenntnis gewisser Drogen und Gifte, und ich würde nicht gern aus dem einen oder anderen Grund hier einschlafen, nur weil Sie die Möglichkeit hatten, mir etwas in mein Getränk zu gießen.«

Er ging in die Küche, machte Feuer und setzte den Wasserkessel auf. In einer Schublade des Schranks fand er eine Schachtel Keks und eine Büchse Kondensmilch – die Zutaten zum Frühstück hatte er schon beisammen. Er kannte den Doktor nur zu gut. Er hatte durch seine Bemerkung Tappatts Gedanken in bestimmter Richtung in Bewegung gesetzt. Würde er wohl den ihm angedeuteten Schritt tun oder würde er anders handeln, als der Detektiv vermutete?

Im Arbeitszimmer lag der Doktor zusammengerollt in seinem Sessel vor dem Feuer und schmiedete Pläne. Merkwürdigerweise hatte er nicht an ein Betäubungsmittel gedacht, bis Dorn die Bemerkung machte. Er hörte, wie Michael draußen vor sich hinpfiff, erhob sich leise, ging zu seinem Pult und suchte unter den Medizinflaschen, die in verschiedenen Schubladen untergebracht waren. Er fand auch sofort, was er suchte.

Aus einer Glashülse nahm er eine kleine, graue Pille, ließ sie in seine flache Hand gleiten und stellte das kleine Fläschchen wieder an seinen Platz. Dann zog er die Jalousie wieder vorsichtig über den Schreibtisch und schloß ihn ab. Es war möglich, daß er keine Gelegenheit finden würde, das Betäubungsmittel zu gebrauchen. Aber selbst ein Mann wie Dorn, der so sehr auf seine eigene Sicherheit bedacht war, hatte manchmal seine schwachen Momente, in denen er die nötige Vorsicht außer acht ließ. Er klemmte die Pille zwischen den zweiten und dritten Finger seiner linken Hand und setzte sich wieder an den Kamin. Michael Dorn fand ihn dort, als er mit dem fertigen Kaffee hereinkam. Tassen, Teller und alles nötige Zubehör trug er auf einem Tablett, die Schachtel mit Keks hatte er unter dem Arm.

»Es ist am besten, wenn Sie mir gleich die Zeit mitteilen, in der Sie unsere Freundinnen zurückerwarten, oder wenn Sie das nicht wollen, sagen Sie mir wenigstens, welches Signal Sie verabredet haben, um ihnen anzudeuten, daß die Luft wieder rein ist?«

»Sie sind doch verrückt, wenn Sie so etwas sagen«, entgegnete Tappatt böse. »Ich dachte, Sie wollten nicht mehr über die Frauen reden. Glauben Sie mir doch, sie sind wirklich nicht hier.«

»Also habe ich doch schon wieder von der Sache reden müssen«, murmelte Michael entschuldigend. »Wollen Sie nicht etwas Kaffee nehmen? Er ist unvergleichlich besser und bekömmlicher als der gelbe Whisky, den Sie da auf dem Kamin stehen haben, auch kostet Kaffee nur den zwanzigsten Teil!«

Er goß eine Tasse ein und schob sie dem andern hin, aber der Doktor schaute sich nicht einmal danach um.

Dorn schlürfte mit größtem Wohlbehagen das heiße, belebende Getränk und beobachtete dabei Tappatts mürrisches Gesicht.

Plötzlich hob der Doktor den Kopf, als ob er irgend etwas gehört hätte.

»Es kommt jemand«, sagte er.

Der Detektiv ging zur Tür und horchte. Als er sich wieder umdrehte, saß der Doktor in seiner alten Stellung am Kamin.

»Es war eine Einbildung – scheint vom Whisky zu kommen, alter Freund!« sagte Dorn.

Er goß sich wieder ein, nahm reichlich Milch und rührte seine Tasse um.

»Sie sagten doch vorhin, daß Sie mir etwas Interessantes erzählen wollten«, erinnerte Tappatt, der noch immer ins Feuer starrte, seinen unwillkommenen Gast.

»Ja, es betrifft Sie. Man beabsichtigt, Sie wegen der indischen Geschichte vor das ärztliche Ehrengericht zu stellen – und es ist ja klar, daß Ihnen dann Ihr Titel und Ihre Approbation als Arzt genommen werden.«

Das war selbst Tappatt ganz neu. Er sprang erregt auf.

»Das ist eine Lüge«, rief er laut.

Plötzlich neigte Michael seinen Kopf zur Seite.

»Was war das?« fragte er.

Tappatt schaute sich um.

»Ich habe nichts gehört.«

Aber der Detektiv brachte ihn durch einen Wink zum Schweigen. Er stand auf, nahm seine Tasse Kaffee mit und ging wieder an die Tür, um zu lauschen.

»Bleiben Sie hier«, sagte er leise und ging hinaus.

Eine Minute später kam er wieder zurück, blieb aber an der Tür stehen und trank seine Tasse aus. Der Doktor wandte sich zur Seite, um sein Grinsen zu verbergen.

»Sie sind nervös, mein Lieber«, sagte er. »Wenn Sie mir genug Vertrauen geschenkt und Ihre Tasse hiergelassen hätten, dann hätte ich Ihnen etwas gegeben, um Sie zu heilen!«

»Das glaube ich auch!« sagte Michael und setzte die leere Tasse auf den Tisch. »Ich bin meinem Gastgeber gegenüber nicht gern unhöflich, aber ich habe den Grundsatz, in solchen Fällen stets meinen Trunk auszugießen, wenn ich in zweifelhafter Gesellschaft bin.«

Der Doktor schaute in Dorns Tasse und war befriedigt, als er sah, daß er sie ganz ausgetrunken hatte. Es war diesmal leichtgefallen, ihn zu überlisten, aber immerhin war die Gefahr keineswegs vorüber.

»Wissen Sie, Dorn, was ich an Ihnen schätze? Sie sind ein Gentleman – ich will Ihnen damit kein Kompliment machen, ich konstatiere nur eine Tatsache. Ich habe schon mit Polizeibeamten zu tun gehabt, die der Abschaum der Gesellschaft waren, und es ist doch sehr angenehm, wenn man auch einmal das Gegenteil kennenlernt. Sie wollten mich doch nur zum besten haben, als Sie mir eben erzählten, daß mir meine Approbation als Arzt aberkannt werden soll?«

»Ich habe Sie nicht zum besten gehabt – im Gegenteil, ich bin ja gerade derjenige, der bei der Sitzung des Ehrengerichts persönlich den Antrag stellen will, und Sie können sicher sein, daß ich in der Lage bin, genügend Material über Sie zu liefern, so daß Ihre Stellung in England unhaltbar wird.«

Tappatt lächelte gezwungen.

»In diesem Fall ist es besser, daß ich alles tue, um mich mit Ihnen gut zu stellen.« Er erhob sich. »Wenn Sie mit mir kommen, werde ich Ihnen etwas zeigen, was Sie übersehen haben.«

Er lächelte Dorn an, und dieser folgte ihm auf den Hof.

»Sie haben sich sehr ungünstig über die Lüftung dieser kleinen, netten Gefängniszelle ausgesprochen«, sagte der Doktor. Er stand am Eingang der Treppe, die zu dem Kellerraum führte. »Es ist Ihnen anscheinend entgangen, daß das Gelaß doch mehr Luftzufuhr hat, als Sie dachten. Kommen Sie mit.«

Er eilte die Treppe hinunter, stieß die schwere Tür auf und ging hinein.

»Haben Sie nicht die Falltür in der Ecke des Raumes gesehen?«

Michael folgte ihm und ging quer über den mit Ziegelsteinen ausgelegten Fußboden, aber kaum hatte er drei Schritte getan, als die Tür zuschlug. Der Schlüssel drehte sich im Schloß, und er hörte Tappatts hämisches Lachen . . .

»Das ist mein Trick – und zeigen Sie mir noch mal Ihren mit der Pistole«, lachte der Doktor.

Ein scharfer Schuß ertönte, und Holzsplitter flogen von der Tür. Tappatt stieg die Treppe hinauf und lachte hysterisch.

Er ging zum Wohnzimmer zurück. Michaels Tasse stand noch auf dem Tisch. Er schüttete etwas lauwarmen Kaffee hinein und probierte vorsichtig den Geschmack.

»Geist gegen Geist! Verstand gegen Verstand! Ich denke, daß ich in diesem Kampf den Schlußpunkt gesetzt habe«, sagte er dann befriedigt. Die Überrumpelung war einfach gewesen. Er machte sich keine Sorge um das, was jetzt noch geschehen konnte.

Für Dr. Tappatt war das Spiel im Prinzip schon beendet. Seine Auftraggeberin war mehr als freigebig gewesen – eine bedeutende Summe war ihm für seine letzten Dienste versprochen worden, und dann lag die ganze Welt offen vor ihm. Zwei Jahre lang hatte er nun der Gräfin treu und gut gedient. Es war eine ziemlich langweilige Arbeit, aber was von ihm verlangt wurde, hielt sich immer noch innerhalb der Grenzen des Gesetzes. Der Doktor war sich aber über die Konsequenzen seiner letzten Handlungen durchaus klar. Er wußte, daß dieses Abenteuer ihn in eine sehr böse Lage bringen konnte. Er wollte es unter keinen Umständen zu einer Aburteilung kommen lassen. Daß er Michael Dorn eingesperrt hatte, gab ihm eine Atempause, einen Aufschub. Bevor die schwerfällige Gesetzesmaschine in Gang kam, würde es noch einige Zeit dauern. Und heute konnte ein Mann, der kurz entschlossen und umsichtig handelte, in vierundzwanzig Stunden von einem Ende Europas zum anderen kommen.

Eine halbe Stunde verging, eine ganze halbe Stunde – er schaute wohl schon zum zwanzigstenmal auf seine Uhr. Endlich erhob er sich und zog eine Schublade in seinem Schreibtisch heraus. Er nahm ein Paar Handschellen heraus und summte vergnügt eine Melodie vor sich hin, als er sie aufschloß.

Dann klopfte er laut an die Tür des Kellerraums und rief den Gefangenen beim Namen. Als er keine Antwort erhielt, schloß er auf und schaute vorsichtig hinein. Er öffnete einen schmalen Schlitz, so daß er auf das Bett schauen konnte. Michael Dorn lag bewegungslos mit dem Gesicht nach unten und hatte seinen Kopf auf den Arm gelegt.

Ohne Zögern ging Tappatt hinein, drehte die steife Gestalt um und durchsuchte schnell die Taschen. In der Hüfttasche fand er die Pistole nicht, sie stak in einer besonderen Tasche innerhalb seines Rocks. Als er den Detektiv durchsuchte, blinzelte dieser und murmelte etwas Unverständliches.

»Das viele kluge Reden ist Ihnen jetzt vergangen, alter Freund«, meinte der Doktor vergnügt.

Er nahm einige Papiere aus der Tasche Dorns und steckte sie in seine eigene. Uhr und Kette ließ er zurück, aber alles, was Michael irgendwie als Waffe hätte brauchen können, sogar das kleine Taschenmesser, nahm er an sich. Als er damit fertig war, legte er seinem Gefangenen die Handschellen an und schaute dann befriedigt lächelnd auf sein Werk. Darauf ging er zum Haus zurück, nahm die Keksschachtel, füllte einen Krug mit Wasser, brachte beides in den Kellerraum und stellte es neben das Bett.

»Sie haben sich leicht übertölpeln lassen«, sagte er, zu dem Bewußtlosen gewandt, »und die Sache ist noch viel einfacher, weil Sie keine offizielle Stellung einnehmen und nur ein paar Freunde haben, die sich um Sie kümmern oder die Polizei von Ihrem Verschwinden verständigen könnten. Und wenn die Polizei auch wirklich alarmiert wird – wo sollte die mit Nachforschungen beginnen?«

Er verschloß die Tür wieder, ging durch das vordere Tor der Umfassungsmauer und sah sich um. Dorn mußte seinen Wagen irgendwo hier in der Nähe gelassen haben, und ein Auto, das im Freien steht, konnte die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich ziehen. Es war auch möglich, daß er nicht allein gekommen war. Aber obwohl der Doktor eine Meile im Umkreis alles absuchte, konnte er nichts entdecken und kehrte müde zu dem Haus zurück.

Die Gewißheit hatte er freilich: nie wieder würde der Gedanke an Michael Dorn wie ein drohendes Gespenst seine angenehmen Zukunftsträume stören.

Er triumphierte.

 


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