Edgar Wallace
Die seltsame Gräfin
Edgar Wallace

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12

Lois betrat das Büro nicht, sondern verließ ihre Freundin an der Schwelle und fuhr zu einer wichtigen Unterredung, die sie sich vorgenommen hatte. Sie ließ das Auto in der Parliament Street warten und ging zu Fuß zum Justizministerium. Sie füllte ein vorgedrucktes Formular aus und wurde in das Wartezimmer geführt.

Sie hatte wenig Hoffnung, daß der mächtige Unterstaatssekretär ihre Bitte um eine Unterredung erfüllen würde, obwohl sie ihrer Anmeldung ein dringendes Schreiben beigelegt hatte: Die Unmöglichkeit wurde ihr immer klarer, und sie schaute verzweifelt schon zum zehntenmal nach der Uhr, als plötzlich ein Diener in der Tür erschien.

»Miss Reddle? Bitte folgen Sie mir.«

Ihr Herz schlug schneller, als sie an der hohen, imposanten Tür klopfte. Dann trat sie ein und nannte ihren Namen. Ein älterer Herr, der am anderen Ende des Zimmers mit dem Rücken nach dem Kamin saß, erhob sich halb von seinem Stuhl. Vor ihm stand ein großer, prachtvoller Schreibtisch.

»Nehmen Sie bitte Platz«, sagte er geschäftsmäßig. »Ich habe Ihren Brief gelesen, und es tut mir leid, daß ich Sie warten lassen mußte, aber ich hatte eben eine wichtige Konferenz.« Dann fuhr er ohne weitere Einleitung fort: »Sie haben mir da geschrieben, daß Mrs. Pinder Ihre Mutter ist?«

»Ja, dessen bin ich ganz sicher.«

Er öffnete das große Aktenstück, das vor ihm lag.

»Ich kenne den Fall persönlich«, sagte der Unterstaatssekretär. »Ich war damals als junger Richter tätig, hatte allerdings selbst nicht direkt mit dem Prozeß zu tun. Ich weiß nicht, was ich für Sie tun kann. Die Strafzeit ist beinahe abgelaufen, und wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich warten, bis sie herauskommt, und keine anderen Schritte mehr unternehmen. Auch andere Leute sind an dem Fall stark interessiert, wie Sie vielleicht wissen – ich habe ihnen denselben Rat gegeben.«

»Aber meine Mutter war unschuldig«, sagte Lois.

Er antwortete nur mit einem fast unmerklichen Achselzucken.

»Schuld und Schuldlosigkeit haben das miteinander gemein, daß es nach zwanzig Jahren sehr schwer sein dürfte, das eine oder das andere zu beweisen. Ich habe damals den Fall mit großem Interesse verfolgt. Meiner Meinung nach gab es zwei wesentliche Punkte bei diesem Fall. Der eine bewies eigentlich ihre Schuld über jeden Zweifel hinaus und der andere ihre Unschuld. Aber sie wurden beide bei der Verhandlung nicht erwähnt.«

»Was war das denn?« fragte Lois schnell.

»Erstens war es der Schlüssel zu dem Kasten, in dem die Juwelen und das Zyankali entdeckt wurden. Hätte man diesen Schlüssel im Besitz Ihrer Mutter gefunden, so wäre der Fall restlos aufgeklärt gewesen. Das war auch die Meinung des Richters, der damals den Fall bearbeitete. Der andere Punkt betrifft den Brief, den die ermordete Frau oder die Frau, die man tot auffand, unweigerlich geschrieben hätte, wenn es sich um einen Selbstmord gehandelt hätte. Sie wissen wahrscheinlich auch, daß man einen Federhalter, Tinte und einen Block Schreibpapier, aber keinen Brief auf dem Tisch fand. Der Papierblock war ganz neu, die tote Frau hatte ihn an demselben Morgen gekauft, und es wurde festgestellt, daß ein Blatt abgerissen war. Der Verteidiger nahm den Standpunkt ein, daß die Frau sich auf ihren Selbstmord vorbereitete und einen Brief schrieb, wie die Leute es in solchen Fällen zu tun pflegen. Aber man hat dieses Schreiben nicht gefunden, obwohl man das ganze Haus sorgfältig durchsuchte.«

Dann begann er sie plötzlich über ihr Leben und ihre Persönlichkeit auszufragen. Als sie ihm mitteilte, warum sie glaubte, die Tochter der Mrs. Pinder zu sein, gab er ihr recht.

»Sicherlich stimmt Ihre Annahme«, sagte er.

»Sogar Mr. Dorn glaubt, daß ich recht habe.«

»Dorn?« fragte er schnell. »Sie meinen doch nicht etwa den früheren indischen Polizeioffizier? Kennen Sie ihn?«

»Nicht gerade gut«, gab sie zur Antwort.

Konnte er auch zu den anderen Leuten gehören, die an dem Fall interessiert waren? Aber sie sah sofort die Unmöglichkeit ihrer Vermutung ein. Er schaute sie scharf an.

»Unter welchen Umständen haben Sie Dorn kennengelernt?« fragte er. Lois erzählte ihm ihre Erlebnisse ganz offen.

»Hm – das sieht Dorn ganz ähnlich. Ich meine, er würde nicht hinter einer jungen Dame her sein, wenn nicht noch irgend etwas anderes dabei im Spiel wäre. Er ist ein Mann von größter Ehrenhaftigkeit und Unbescholtenheit«, sagte er sehr bestimmt, und aus irgendeinem Grund war es ihr sehr angenehm, dieses anerkennende Urteil über den Mann zu hören, über den sie sich schon oft geärgert hatte.

Als sich der Unterstaatssekretär erhob und damit das Ende der Unterredung andeutete, drückte er ihr die Hand und sagte noch: »Wenn Ihre Mutter aus dem Gefängnis kommt, wird sie Ihnen sicher noch viel mehr mitteilen können als irgend jemand von uns. Zum Beispiel ist noch eine Frage offen, wer Ihr Vater war, der ein oder zwei Wochen vor dem Verbrechen verschwand und nie wieder gesehen wurde. Was ist ihm zugestoßen? Ich entsinne mich sogar, daß die Staatsanwaltschaft damals überlegte, ob man nicht Ihre Mutter für sein Verschwinden verantwortlich machen solle.«

»Wie schrecklich!« rief Lois empört.

»Ja – es muß schrecklich gewesen sein.«

Aus dem Ton seiner Worte schien Lois herauszuhören, daß er die ganze Angelegenheit nicht nur vom offiziellen Standpunkt aus beurteilte.

»Bei Verbrechen, mein liebes Fräulein, muß die Staatsanwaltschaft die schrecklichsten Dinge annehmen, und leider hat sie gewöhnlich damit recht.«

Lois war durch diese Unterhaltung nicht viel weiter gekommen, aber sie hatte wenigstens die Genugtuung, einen Anfang gemacht zu haben. Merkwürdigerweise hatte sie sich noch nie eingehend mit der Frage nach ihrem Vater oder mit seinem Verschwinden beschäftigt. Das schien ihr so unwesentlich im Vergleich zu den furchtbaren Qualen ihrer Mutter.

Der Brief und der Schlüssel! Das waren die beiden neuen Punkte, von denen sie vorher nichts gewußt hatte. Sie kehrte mit einer gewissen Befriedigung zum Chester Square zurück und kam gerade zurecht, um einen der seltsamsten Vorfälle mitzuerleben, der sich jemals abgespielt hat.

Als sie die Tür zum Wohnzimmer öffnete, hörte sie die schrille, kreischende und ärgerliche Stimme des jungen Grafen und wollte sich zurückziehen. Aber die Gräfin, die sie in der Tür gesehen hatte, rief sie in den Raum.

Selwyn war außer sich vor Wut, sein Gesicht war kreidebleich.

»Das tue ich nicht – das tue ich unter gar keinen Umständen!« brüllte er. »Ich rufe die junge Dame als Zeugin an. Sagen Sie bitte, Fräulein, ist es recht, daß ein Mann in meiner Stellung tun muß, was irgendein verrückter, betrunkener Doktor ihm vorschreibt? Glaube nicht, daß ich mich vor diesem gräßlichen Kerl fürchte – bestimmt nicht! Auch ich kenne das Gesetz, bei Gott!«

»Braime hat nur seine Instruktionen ausgeführt«, sagte die Gräfin mit ihrer dröhnenden Stimme.

Sie stand an ihrem Schreibtisch, spitzte langsam einen Bleistift mit einem kleinen Federmesser und sah von ihrer Beschäftigung nicht auf.

»Es macht mir nichts aus, mein Zimmer einer jungen Dame abzutreten – jeder Gentleman würde das tun. Nebenbei ist auch mein Studierzimmer sehr nett und wohnlich. Aber wenn ich allein ausgehen will, dann will ich allein ausgehen, aber ich will nicht, daß irgendein schrecklicher Verbrecher von einem Butler mich begleitet, selbst wenn alle gräßlichen Ärzte der Welt es vorschreiben. Ich habe schon genug ausgehalten, Mutter!«

Er drohte der Frau mit vor Aufregung zitterndem Finger. Aber sie blieb anscheinend ganz ruhig und spitzte ihren Bleistift weiter.

»Ich habe genug ausgehalten – du magst meinethalben diesen niederträchtigen Chesney Praye heiraten, diesen fürchterlichen, teuflischen Lumpen! Da staunst du – ich weiß das alles, und ich weiß noch viel mehr Dinge, von denen du im Traum nicht ahnst, daß ich sie erfahren habe! Du kannst mein Geld ausgeben, wie es dir gerade paßt, du kannst ihm auch Geld leihen –«

Lois sah, wie Lady Morons Hand sich erhob und liebkosend über das Gesicht ihres Sohnes strich.

»Du bist ein unnützer Junge«, sagte sie lächelnd.

Plötzlich schrie er vor Schmerz auf, taumelte zurück und hielt die Hand auf seine heftig blutende Wange.

Lois wollte ihren Augen nicht trauen, aber sie sah nur allzu deutlich einen langen, geraden Schnitt in seinem Gesicht. Das kleine Messer, mit dem die Gräfin ihren Bleistift gespitzt hatte, war rot von Blut.

 


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