Edgar Wallace
Die seltsame Gräfin
Edgar Wallace

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17

Lois empfand es als eine Liebenswürdigkeit der Gräfin, daß sie ihr den Nachmittag und den Abend freigab.

»Meine Liebe, ich werde froh sein, wenn ich Sie los bin«, sagte Lady Moron ganz offen. »Dieser niederträchtige Dorn hat mich wirklich aufgeregt. Aber ich will meine Empörung nicht auf Sie übertragen. Gehen Sie aus und vergessen Sie, daß es dieses Haus gibt. Wenn Sie heute abend gerne noch ins Theater gehen wollen, dann tun Sie es ruhig; ich werde dem Bediensteten, der Nachtdienst hat, den Auftrag geben, auf Sie zu warten. Ich habe eben vom Krankenhaus gehört, daß Braime das Bewußtsein wiedererlangt hat – vielleicht wird uns sein Bericht den sonderbaren Vorfall aufklären. Ich habe die Bibliothek durchsuchen lassen, aber man fand nicht das geringste, was in Zusammenhang mit dem Unglücksfall stehen könnte. Ich bezweifle, daß selbst der kluge Mr. Dorn erfolgreicher gewesen wäre«, sagte sie, und ihre Worte hatten einen spöttischen Unterton.

Lois freute sich, daß sie gehen konnte, und ihr erster Gedanke war, ihre Freundin aufzusuchen und ihr all ihre Erlebnisse mitzuteilen. Sie machte sich auf den Weg zum Büro in der Bedford Row, und als sie den ihr so vertrauten Hauseingang erreichte, sah sie den alten Fordwagen vor der Tür. Daneben stand Mr. Shaddles, der sich eben die Handschuhe anzog und fortfahren wollte.

Er wohnte in Hampstead und benützte jeden Tag als erster und als letzter den ausgedienten Wagen. Er schaute sie unfreundlich an, als sie die Treppe hochkam.

»Nun?« fragte er. »Kommen Sie zu uns zurück? Sind Sie mit Ihrer Stellung nicht mehr zufrieden? Ich dachte mir schon, daß Sie sich zur Privatsekretärin nicht recht eignen würden.«

»Ich bin nicht unzufrieden mit meiner Beschäftigung, aber ich gehe trotzdem wieder fort«, sagte sie lächelnd.

»Junge Leute müssen immer Veränderung haben«, erwiderte Mr. Shaddles vorwurfsvoll. »Das ist nun einmal die unruhige Jugend. Wie lange waren Sie bei mir?«

»Ein paar Jahre, Mr. Shaddles.«

»Zwei Jahre, neun Monate und sieben Tage«, entgegnete er schnell. »Das scheint Ihnen vermutlich wie eine Ewigkeit, mein kleines Fräulein? Für mich ist es aber«, er schnippte mit den Fingern, »als ob Sie gestern zu mir gekommen wären. Ich habe Sie von Leith geholt – einer meiner Klienten erzählte mir von Ihnen –, und ich gab Ihnen die Möglichkeit, vorwärtszukommen. Wie?«

»Das ist richtig«, sagte sie und wunderte sich, warum er sich plötzlich an all das erinnerte.

»Ach ja!« Er schaute zum Himmel, als ob er irgendwelche Inspiration oder Zustimmung von dort erwartete. »Also Sie möchten gern wieder Ihre alte Stellung bei mir haben?« Ohne auf ihre Antwort zu warten, fuhr er fort: »Nun gut, Sie können wieder kommen. Ich werde Ihnen drei Pfund wöchentlich geben. Morgen früh um halb neun fangen Sie wieder an.«

Er legte auf die letzten Worte besonderen Nachdruck.

»Aber Mr. Shaddles«, sagte das verwirrte Mädchen, »es ist sehr liebenswürdig von Ihnen – äußerst liebenswürdig –, ich würde ja gar zu gern wieder bei Ihnen eintreten, aber morgen früh geht es noch nicht.«

»Um halb neun Uhr morgen früh sind Sie hier. Halten Sie mich jetzt nicht auf, ich habe es eilig.«

Er stieg in den Wagen, und sie sah ihm nach, bis er in dem starken Verkehr der Theobald Street verschwand.

Sie war von der Großzügigkeit ihres Chefs so verblüfft, daß sie Lizzy zuerst das erzählte.

»In den beiden letzten Tagen benimmt er sich ganz merkwürdig«, erwiderte Lizzy. »Wenn er nur nicht an Gehirnerweichung leidet. Hat er nicht auch etwas davon gesagt, daß er mein Gehalt erhöhen will? Aber ich würde mich an deiner Stelle nicht soviel darum kümmern. Morgen hat er wahrscheinlich die ganze Sache vergessen. Drei Pfund wöchentlich – der Mann ist ja verrückt. Ich wette, morgen kommt er im Pyjama ins Büro, spielt Trompete und hält sich für Julius Cäsar.«

Die männlichen Angestellten waren gegangen, nur Lizzy war noch im Büro. Sie war zurückgeblieben, um einen unendlich langen Vertragsentwurf zu schreiben. Aber nachdem sie Lois' Erzählung gehört hatte, schrieb sie ihn an diesem Tage nicht mehr fertig.

»Ich denke, Mike hat recht«, sagte sie und bekräftigte ihre Worte mit einem energischen Kopfnicken. »Das ganze Haus steckt voller Tricks. Ich kann mich an den Gedanken, Selwyn zu verlassen, nicht gewöhnen –«

»Meinst du Lord Moron?«

»Für mich ist er nur Selwyn«, erwiderte Lizzy ruhig. »Ich gehe morgen abend mit ihm ins Kino. Er ist doch ein zu netter Junge. Weißt du, was ihm am meisten fehlt? Die liebende Sorge seiner Mutter. Er hat so etwas nie kennengelernt.«

»Ach so – und du willst seine Mutter sein?« Lois mußte lachen, aber dann sagte sie ernst: »Ich kann nicht gleich fort. Du kannst ja tun, was du willst, aber ich versprach Lady Moron, daß ich noch diese Nacht bleiben würde.«

Lizzy war unangenehm überrascht.

»Ich lasse dich nicht im Stich, aber ich sage dir gerade ins Gesicht, daß ich lieber auf dem Dach einer Leichenhalle in einem Friedhof schlafe, als heute abend am Chester Square. Ich werde mit dir hingehen, aber ich tue es nur deinetwegen – merke es dir genau. Wenn mir jemand anders die Geschichte mit den drei Pfund wöchentlich erzählt hätte, wüßte ich, daß er mich angelogen hätte. Was sagst du dazu, daß wir nun wieder in die Charlotte Street zurückkommen und wieder arme Kirchenmäuse sind?«

Lois war sehr froh, daß sie den Abend wieder in ihrer alten Wohnung verbringen konnte. Nichts hätte sie mehr gefreut. Das alte Zimmer mit den einfachen, ja ärmlichen Möbeln, den verblichenen Kattunbezügen, war ihre Heimat, und selbst das laute Geschrei der auf der Straße spielenden Kinder klang Lois heute angenehm. Früher hatte sie das alles nicht bemerkt. Und dann wurde sie auch noch ganz besonders willkommen geheißen. Der alte Mackenzie sah sie ins Haus gehen und kam sofort heraus, um sie zu begrüßen. Er war ganz empört, als er hörte, daß die Mädchen die Nacht nicht im Haus bleiben wollten. Aber er beruhigte sich wieder, als Lizzy ihm ihre weiteren Pläne auseinandersetzte.

»Wir wollen ihn zum Abendessen einladen«, sagte Lois, als sie auf dem Küchentisch saß und zusah, wie ihre Freundin mit der Bratpfanne hantierte.

Lizzy nickte nur. Sie war mit ihren Gedanken nicht recht bei der Sache.

»Wenn ich es mir nur eher überlegt hätte, dann hätte ich Selwyn eingeladen, der wäre sicher gekommen – er hat eine ganz demokratische Gesinnung, er ist absolut nicht hochmütig. Als du gestern abend hinausgingst, um dir ein Taschentuch zu holen, gestand er mir, daß er sich in meiner Gesellschaft sehr wohl fühle und daß ich das erste Mädchen sei, das ihm gefalle. Da gehört doch was dazu, wenn ein wirklicher Lord so etwas sagt. Und dabei weiß er ganz genau, daß ich ein einfaches Schreibmädel mit fünfunddreißig Shilling wöchentlich bin!«

Ihre Stimme zitterte ein wenig, und Lois betrachtete sie plötzlich mit ganz anderen Augen. Sie kannte Lizzy doch schon seit einigen Jahren, aber sie war bisher noch nie gefühlvoll gewesen.

»Der arme Junge hat noch nie erfahren, wie wohl die Fürsorge einer Mutter tut«, sagte sie wieder bewegt.

Lois erwiderte nichts, obgleich dieser arme Junge mindestens achtundzwanzig Jahre zählte.

»Dieses Weib hat nicht mehr Mitgefühl mit Selwyn als ich mit ihr. Sie muß ein Herz von Stein haben, sie ist –«

»Mr. Mackenzie wird allerdings nur ein schlechter Ersatz für deinen Selwyn sein – aber wollen wir ihn einladen?« fragte Lois wieder.

»Ruf ihn herauf«, war die bündige Antwort.

Mr. Mackenzie war aber doch ein viel unterhaltsamerer Gast, als Lizzy jemals erwartet hätte. Er lauschte gespannt ihrem Bericht über das Haus der Gräfin Moron und das Leben, das sich dort abspielte. Lizzy erzählte alles aus eigener Erfahrung, nur manchmal mußte Lois ihre Worte bestätigen.

»Seidene Vorhänge – wirklich?« fragte der alte Mann.

»Und Portieren aus Atlas! Überall Silberbeschläge! In den Badezimmern sind die Wände aus rotem Marmor – ist es nicht so, Lois? Und ein silbernes Gitter steht vor dem Kamin in dem Salon.«

Mr. Mackenzie seufzte.

»Es muß ein großartiges Leben sein in solcher Umgebung. Aber ich will niemand beneiden. Ist die Gräfin eine liebenswürdige Dame?«

»So würde ich sie nicht nennen«, meinte Lizzy. »Sie ist soweit ganz nett bis auf – sie ist nämlich eine schlechte Mutter, aber eine gute Aufpasserin und Spionin. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«

»Hat sie kleine Kinder?« fragte Mackenzie interessiert.

»Ihr Sohn ist nicht gerade ganz jung«, erklärte ihm Lizzy eingehend, »aber man könnte sagen, daß er in der ersten Jugend steht. Nein, er geht nicht mehr zur Schule«, antwortete sie fast beleidigt auf seine Frage. »Ein ganz wundervoller Mensch! Selwyn möchte zu gern zum Theater gehen, und ich wundere mich, daß seine Mutter es nicht zuläßt.«

»Es ist kein schönes Leben auf der Bühne, das habe ich Ihnen doch schon früher erzählt. Mein Kummer und meine Sorgen kommen nur davon, daß ich früher einmal beim Theater war.« Dann sagte er plötzlich zusammenhanglos: »Sie war ein so schönes Mädchen, und sie hatte ein Gesicht wie eine – wie eine –« »Engel«, schlug Lizzy vor und sah ihn erwartungsvoll mit der aufgerichteten Gabel in der Hand an.

»Ich wollte sagen ›Madonna‹. Für mich ist es immer noch ein großes Wunder, daß sie mich überhaupt angesehen hat. Nehmen Sie doch einmal meine einfache Kleidung. Allerdings lebte ich damals in sehr guten Verhältnissen. Einige meiner Operetten wurden aufgeführt, und ich verfügte über beträchtliche Summen. Glücklicherweise hatte ich mein Geld in Häusern festgelegt. Das war gut, denn sie war ein wenig – extravagant. Aber vielleicht war es auch mein Fehler.«

Ein langes Schweigen trat ein. Er hing seinen Gedanken nach, hatte den Kopf auf die Brust geneigt und seinen Blick auf das Tischtuch gesenkt.

»Ach ja, es ist mein Fehler. Ich sagte es meinem guten Freund Shaddles, als er mir riet, mich scheiden zu lassen.«

Lizzy schaute ihn verwundert an.

»Shaddles ist doch mein Anwalt – so sind Sie doch überhaupt erst meine Mieter geworden. Sie besinnen sich doch sicher darauf, daß Mr. Shaddles Ihnen die Zimmer in meinem Haus empfahl?«

»Shaddles – großer Gott!« sagte Lizzy und schob ihren Teller zurück. »Wenn ich das gewußt hätte, würde ich wahrscheinlich niemals hier in meinem Bett geschlafen haben!«

»Er ist ein guter Mensch und ein treuer Freund«, sagte Mr. Mackenzie.

»Aber auch ein böser, alter Geizhals.« Lizzy übersah die warnenden Blicke Lois'.

»Er ist ein bißchen sparsam«, gab Mr. Mackenzie zu. »Aber das scheint der Beruf mit sich zu bringen. Ich kenne mehrere Anwälte, die diese Eigenschaften haben. Sein Vater war ebenso.«

»Was, Sie kannten auch seinen Vater?« fragte Lizzy. »Hat er denn jemals einen Vater gehabt?«

»Sein Vater und sein Großvater waren auch sparsam. Aber die Shaddles' sind tüchtige Rechtsanwälte und haben große Vermögen verwaltet. Seit Hunderten von Jahren sind sie die Anwälte der Familie Moron.«

»Kennen Sie die Familie Moron?« fragte Lois.

Er zögerte.

»Ich will nicht behaupten, daß ich sie kenne, aber ich weiß einiges von ihr. Den alten Earl von Moron, den Vater des jetzigen Lord Moron, habe ich einmal gesehen – er lebte lange Jahre im Ausland. Ich will nicht gerade sagen, daß er einen schlechten Charakter hatte, aber er führte ein vergnügtes Leben. Er war ein Lebemann, von dem so manche Skandalgeschichte mit Recht oder Unrecht erzählt wurde. Sein Sohn Willy war ein feiner Junge, aber der starb leider. Selwyn, der Sohn seiner zweiten Frau, ist wohl der, von dem Sie mir erzählt haben.«

Selbst auf Lizzy machte seine genaue Kenntnis der Familienverhältnisse der Morons einen gewaltigen Eindruck.

»Es ist für die Familie von großem Wert, daß ein so guter Sohn wie Selwyn da ist. Wenn die Gräfin nur eine Tochter hätte, würde diese den Titel erben, denn die Morons gehören zu den wenigen Familien, bei denen die Tochter den Titel erhält, wenn direkte männliche Erben fehlen.«

Als der Tisch abgeräumt war, holte er seine Violine herauf und spielte ihnen vor. Lizzys Musikverständnis war anscheinend größer geworden, denn sie ertrug sein Spiel mit bewunderungswürdiger Ruhe, ohne etwas zu sagen.

Der Abend ging nur zu schnell vorüber. Um zehn Uhr sah Lois auf ihre Uhr und schaute ihre Freundin an. Lizzy erhob sich mit einem Frösteln.

»Also zurück zu dem Haus des Schicksals«, sagte sie mit Pathos. »Gott sei Dank, es ist die letzte Nacht, die wir dort schlafen!«

Aber weder sie noch Lois Reddle ahnten, daß sie dieses Haus des Schicksals nicht wieder betreten würden.

 


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