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Achtes Kapitel.
Ein Begegnen

Ella befand sich bei Jordan, und dieser sowie seine wackern Frau suchten dem schwergeprüften Mädchen nach Kräften den Verlust des teuren Vaters zu erleichtern, den brennendsten Schmerz zu lindern.

Vergeblich; das Rot kehrte nicht mehr auf die lieblichen, fast kindlichen Wangen zurück. Das heitere Lächeln war verstummt und das Auge blickte schwermütig trübe.

Das Herz der jugendlichen Dulderin war gebrochen; sie hatte dem Teuersten entsagen müssen, der ersten, einzigen Liebe.

O, nur der vermag diesen Verlust zu begreifen, welcher dieses mächtige Gefühl in seiner ganzen, süßen, alles überwindenden Macht an sich selbst erfahren.

Ella hatte an jenem Tage, als sie Eduard ihr Versprechen zurückgab, eine kühle, fast stolze Resignation zur Schau getragen. Es war die Resignation eines zum Tode verurteilten Märtyrers, der zwar keine Hoffnung mehr in diesem Leben hat, aber bereits in seinem Geiste eine andere Welt schaut, die ihn für sein Martyrium entschädigen wird, und der daher mit Aufbietung aller Kraft seinen männlichen Stolz zeigt.

Und Eduard? Von Entsetzen erfüllt, las er immer und immer wieder die flüchtigen Zeilen, aus denen, trotz der sichtlichen Hast, mit der sie niedergeworfen waren, doch unendlicher, namenloser Schmerz sprach.

Er sollte entsagen? Nein, er vermochte es nicht. Was wäre dann auch seine Liebe gewesen, wenn äußere Verhältnisse seine heiligsten Gefühle beeinflussen sollten! Er konnte nicht von Ella lassen, denn ein Leben ohne ihren Besitz schien ihm zwecklos, verloren. Seitdem er sie gesehen, war ihm eine neue Welt aufgegangen, eine Welt, voll tausend lachender Freuden; mit ihrem Jawort hatte Leben und Schaffen ein Ziel erhalten.

Sie weilte im Geiste bei ihm, wenn er die prächtigsten Gebilde auf die Leinwand warf, sie führte seine Hand, wenn sein Pinsel in wundervollem Kolorit die reizvollen Schönheiten der Natur wiedergab.

Er kannte den Stolz und das Vorurteil ihres Vaters. Es galt diesem Stolz mit gleichem Stolz zu begegnen, durch wahren, echten Künstlerruhm das Vorurteil des reichen Kaufherrn verstummen zu machen.

Und jetzt sollte er aus kleinlichen Gründen, nach dem Tode ihres Vaters, seinem teuren, heiligen Ideale entsagen? Nimmermehr!

Vergebens beschwor er Ella, sich von dem traurigen Geschick nicht erdrücken zu lassen, demselben nicht auch noch sein Leben zu opfern; vergebens war er sofort nach Empfang des verhängnisvollen Briefes nach L. gereist. Ella, die ihm so oft freudestrahlend entgegengeeilt war, wenn beide sich auf der Promenade begegneten, war für ihn nicht einmal zu sprechen. Unter nichtigen Vorwänden wies sie die Bitte um eine letzte Unterredung zurück und versagte ihm somit den Trost, dessen er so dringend bedurfte.

Gebrochen an Thatkraft, verließ er L., um wieder nach der Residenz zu fahren, Ella fast im Herzen grollend; er kannte ja nicht die edlen Motive ihres Handelns, er wußte ja nicht, daß auch ihr Herz unter dem herben Schmerz der Trennung verblutete.

Nicht der Verlust des Vermögens war es, welcher es dem edlen Mädchen zur Pflicht machte, ihn seines Wortes zu entbinden, – denn Eduard, das wußte sie, war ihr in aufrichtiger Liebe zugethan und Genie genug, um sich durch sein künstlerisches Schaffen bald Achtung und Reichtum zu erwerben.

Aber nach dem Tode des Vaters waren jene unglücklichen Gerüchte wieder aufgetaucht, die diesem bereits Jahre seines Lebens verbittert hatten; sie blieben auch nicht nur Gerüchte, denn durch die eröffnete Kriminaluntersuchung wurde festgestellt, daß das, was man bisher nur als Verleumdung betrachtet, Wahrheit; daß der einst in bedrängter Lage befindliche Kaufherr eine Urkundenfälschung begangen, oder, was noch schlimmer, einen seiner Angestellten zur Begehung dieses Verbrechens verleitet oder gewissermaßen moralisch gezwungen hatte, das war offenbar.

Die Tochter des verarmten Kaufmanns konnte unbehelligt um seinen Ruf dem edelsten Jüngling die Hand am Altar reichen; die Tochter des Fälschers durfte es nicht, wollte sie nicht ihrem Zukünftigen als Morgengabe ein Brandmal zutragen, das keine Macht der Welt verwischen konnte.

Das fühlte Ella; deshalb entsagte sie, deshalb vermied sie ein letztes Begegnen, um nicht noch einmal die Wunde gewaltsam aufzureißen, die auch in seinem Herzen, sie wußte es, nie vernarben würde. –

Der Mörder des Kaufherrn Jansen befand sich in Haft; die Untersuchung wurde mit vollem Eifer geführt. Fast täglich brachten die Zeitungen neue Berichte über den Gang des Prozesses und alle diese Nachrichten, welche Ella freilich meist aus indirektem Wege erfuhr, erfüllten sie mit neuem verzehrenden Schmerz, versetzten dem ohnehin gekränkten Stolz des Mädchens neue Schläge, erfüllten sie mit jener Menschenscheu, die so häufig die Folge unverschuldeten Unglücks zu sein pflegt.

Die letzten Tage hatte sie einsam auf dem kleinen, traulichen Zimmer zugebracht, das ihr in dem Jordanschen Hause zur ausschließlichen Benutzung überwiesen war. Hierher ließ auch der treue Diener ihres Vaters die vielen, zum Teil kostbaren Kleinigkeiten schaffen, die Ella als ihr Privateigentum verbleiben mußten, und welche sonst das Herz eines jungen Mädchens mit Freude erfüllten.

Ella hatte keinen Sinn dafür, und selbst der kleine gelbgefiederte Sänger, dessen Pflege ihr sonst die glücklichsten Stunden bereitete, wurde vernachlässigt. Er fühlte es; denn stundenlang ließ er traurig das Köpfchen hängen, selten nur noch entquollen metallische Töne der kleinen Kehle, und diese glichen dann der Klage um das verlorene Glück.

Und wenn draußen heller Sonnenschein lachte, wenn das Vöglein im Bauer zu schlagen begann, fühlte Ella ihr Unglück doppelt. Für sie gab es nicht Sonnenschein, nicht Frühling mehr, bei ihr war die Freude an lustigen Liedern versiegt; in ihrem Herzen tönte nur noch ein Gesang nach, der in schaurigen Tönen verhallte. Es war der Choral am Grabe des Vaters, der auch gleichsam den Grabgesang ihres irdischen Glückes bildete.

Gewiß hing Ella mit ganzer Liebe an ihren treuen Pflegern; gewiß hätte sie ihnen so gern wenigstens durch ein freundliches Lächeln den Dank abgestattet für ihre liebevolle Hingebung; sie vermochte es nicht. –

Jordan und sein wackeres Weib aber wußten den Schmerz der Bedauernswerten zu würdigen, und wenn sie dann doch wohl einmal einen herzlichen Blick, einen Druck der zarten, weichen Hand empfingen, schien ihnen das schon überreicher Lohn.

Ella hatte sich von der Außenwelt zurückgezogen; kaum sah man ihre anmutige, in glücklichen Zeiten oft bewunderte Gestalt in den Straßen der Stadt. Nur in den Abendstunden, wenn die Dämmerung bereits ihren Schein warf, eilte das bleiche und in ihrer Trauer doppelt schöne Mädchen oft durch einzelne entlegene Gassen dem Thore zu. Scheu, wie eine Verfolgte, suchte sie auch dann einer Begegnung auszuweichen und atmete erst befreit auf, wenn sie das Thor durchschritten, wenn das städtische Gewühl hinter ihr lag und nur noch wie das ferne Murmeln aufgeregter Meereswogen an ihr Ohr drang.

Dann schlug sie einen Weg ein, der von der Hauptstraße links abführte. Der Weg war wenig gepflegt und glich bei oberflächlicher Betrachtung einer endlosen Reihe niedriger Sandhügel. Eigentümlich stach er von der mit äußerster Sorgfalt gepflegten Kunststraße ab, welche die Stadt mit einem nahe gelegenen Sommersitz verband.

Zu beiden Seiten des Weges zogen sich Trauerweiden hin, die ihre langen Zweige melancholisch der Erde zuneigten; sie bildeten das bezeichnendste Symbol der Bestimmung des Weges selber. Führte er doch nach dem Friedhof, und nur Trauernde pflegten ihn zu benutzen, um einem teueren Hingeschiedenen das letzte Geleit zu geben, um das Grab eines Geliebten aufzusuchen und an der Stätte, die der Tod geweiht, zu weinen, vielleicht eine Versöhnung zu feiern, lautlos stumm, jedem Lauscher, der das heilige Gelöbnis entweihen könnte, unverständlich.

An jedem Abend wandelte Ella diesen Weg; er war ihr lieb geworden. War es doch der einzige, auf dem sie Frieden fand, auf dem nicht zudringliche Freundschaft ihr mit Beteuerungen nahte, die ja doch nur einem leeren Schall glichen.

Sie suchte das Grab des Vaters auf, um dort wenige Minuten zu verweilen und Trost zu finden für ihre Leiden. Die Trauerweiden grüßten sie, lieben Schwestern gleich, durch stilles Neigen der Häupter. O, sie glichen der Schwergeprüften gar wohl; auch sie strebten nicht mehr dem Sonnenlicht zu, ihre Zweige senkten sich zur Erde, gleichsam als wollten sie dort Trost und Erlösung suchen für ihr gedrücktes Dasein.

Wenn Ella am Grabe des Vaters stand, wenn der laue Abendwind durch die Blätter der Bäume fuhr, wenn die Käfer surrend heimkehrten zum Nest; da war es ihr, als ob aus dem Rauschen der Blätter, aus dem Surren der Käfer die Stimme des geliebten Toten zu ihr drang, sie tröstend und erhebend.

Dann löste sich der wilde Schmerz in wohlthuende Thränen und neu gestärkt verließ sie den teuren Hügel.

Deshalb weilte sie so gern am Grabe des Vaters, deshalb scheute sie den weiten Weg nicht, auf welchem sie keine Begleitung, auch nicht die Jordans oder seiner wackeren Frau liebte. –

Lange hatte sie an der Gruft des Vaters gestanden; dann kniete sie nieder, um in einem inbrünstigen Gebet gleichsam zu dem Entseelten zu sprechen. Tiefe Stille herrschte umher, kaum durch einen Lufthauch gestört, tiefe, wohlthuende Stille.

Die Vöglein hatten bereits ihr Nest in den Zweigen gesucht, Käfer und Bienen waren heimgekehrt, auch das Zirpen der Grille verstummt und nur leise klang aus dem Lispeln der Blätter und Blumen das tröstende Wort vom Wiedersehen.

Ella hatte sich erhoben; noch ein letzter Blick auf die teure Stätte, dann wollte sie den Heimweg antreten.

Erschreckt, fast gelähmt, fuhr sie plötzlich zurück, ihre Augen halb vorwurfsvoll, halb bittend auf einen Herrn richtend, der sich ihr, ohne daß sie es bemerken konnte, genaht hatte und gleichsam aus dem Erdboden hervorgeschossen schien.

Sie wollte sprechen; sie vermochte es nicht.

Der Fremde kam ihr zuvor.

»Mein Fräulein,« tagte er mit einer Stimme, aus deren Wohllaut inniges Mitgefühl klang, »o, zürnen Sie mir nicht, wenn ich Sie unbewußt in Ihren heiligsten Gefühlen verletzte.«

Ella lauschte. Wer auch der Fremde sein mochte, ein böser Mensch war er nicht, das fühlte sie. Und dieses Bewußtsein gab ihr den Mut zur Gegenrede, wenngleich auch nur zu einer verweisenden.

»Mein Herr,« erwiderte sie, »ich halte Sie für einen ehrenhaften Charakter und deshalb bitte ich Sie, achten Sie die Gefühle einer Waise, die an der Gruft desjenigen betet, der ihr alles auf Erden war.«

Es zitterte ein so tiefer Schmerz aus diesen Worten; es sprach ein so kindliches Flehen aus ihren Blicken, daß der Fremde tief ergriffen schien.

»Nicht ehrlose Neugier, mein Fräulein, ist es,« antwortete er bescheiden, »die mir gebot, Ihren Weg zu kreuzen. Nein, auch ich habe hier so manchen Hügel, der ein treues Herz birgt. Nach langjähriger Abwesenheit von der Heimat trieb es mich heute, wo es mir vergönnt ist, einen Tag in der Vaterstadt zu weilen, ebenfalls hierher, um wieder einmal jene Stätten zu besuchen, die, zwar in stummer Sprache, mir von einem längst entflohenen Jugendglück erzählen.«

Die letzte Spur von Furcht war von Ella gewichen. Die wenigen schlichten Worte des Fremden drangen ihr tief zu Herzen; sie glaubte zu fühlen, daß so nur ein braver, schuldloser Mensch zu sprechen vermag.«

»Ich glaube Ihren Worten, mein Fräulein,« fuhr der Fremde fort, »wie dürfte ich ein unlauteres Gefühl hegen an einer Stätte, die schon naturgemäß jede menschliche Leidenschaft verstummen macht, die in ihrer Erhabenheit Zeugnis ablegt von der Vergänglichkeit all unserer Schmerzen und unserer Hoffnungen?«

»Unserer Hoffnungen,« repetierte Ella fast unbewußt, während sie bemüht war, den ausbrechenden Schmerz zu bekämpfen.

»Weinen Sie nicht, Fräulein; lassen Sie mich nicht vermuten, daß mein Erscheinen an der Ihnen so lieben Stätte der Grund zu Ihrem Schmerz ist! Als ich Sie in so andachtsvoller Stimmung an der Gruft knieen sah, als ich die wenigen inbrünstigen Worte vernahm, die sich Ihren Lippen entrangen, da war es mir, als wäre ein Engel herniedergestiegen, der auch meinem gefolterten Herzen Trost bringt. Deshalb, mein Fräulein, wer Sie auch sein mögen, zürnen Sie mir nicht ob dieser Begegnung und gestatten Sie, als Zeichen der Verzeihung, daß ich Ihre Hand ergreife, um Ihnen an der Gruft des Teuren, dessen Verlust Sie beklagen, die Versicherung zu geben, daß nur wirkliche Teilnahme und Mitgefühl mich veranlassen konnten, Ihre Andacht zu stören.«

Er ergriff nach diesen Worten die Hand des jungen Mädchens und führte sie fast schüchtern, ehrfurchtsvoll an die Lippen.

Ella ließ es geschehen.

Sah sie doch in dem Fremden einen Leidensgenossen, der, wie sie, den Friedhof aufgesucht hatte, um neue Kraft, neuen Trost zu finden.

Sie duldete auch, daß der Fremde ihr bis zum Stadtthor das Geleite gab.

Sie mußte es dulden, denn wider Erwarten hatte sie bis zur Dämmerstunde auf dem Friedhofe zugebracht, und da bot ihr die Begleitung des Fremden gleichsam Schutz.

Fast schweigend schritt sie an seiner Seite dahin, bis sie das Thor erreichten.

Mit einem stummen, wortlosen Gruß verabschiedete sie sich von ihrem Begleiter, der gleich darauf in dem Straßengewühl verschwunden war.

»Ein selten schönes Mädchen,« sprach dieser, seinem Hotel zueilend, für sich. »Freilich, ich spiele eine gewagte Partie, aber das Glück war dem Spiel stets hold, und ich will hoffen, daß es mich auch diesmal nicht im Stiche lassen [wird].


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