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Sechstes Kapitel.
Bankerott

Ganz L. befand sich in Aufregung; die Kunde des an Jansen au Bord des Ostindienfahrers verübten Raubmordes rief bei allen die regste Teilnahme wach.

Jansen war, wie unsere Leser wissen, bis vor wenigen Jahren einer der geachtetsten Einwohner seiner Vaterstadt, und trotz der vor zwei Jahren über ihn aufgetauchten Gerüchte konnte kein Mensch behaupten, daß er nicht bis zum letzten Moment allen Verpflichtungen aufs Pünktlichste nachgekommen sei.

Der Tod söhnt aus, und so war es denn natürlich, daß auch diejenigen, welche Jansen ehemals um sein Glück neideten und die jede Gelegenheit wahrgenommen hatten, sein Renommee zu schädigen, jetzt schwiegen, da sie sich ihrer wenig edlen Handlungsweise schämten.

Am meisten bemitleidete man seine Tochter, die mm vollständig verwaist stand.

Die Leiche Jansens wurde nach L. überführt und unter großer Teilnahme der Bevölkerung zu Grabe geleitet.

Wenige Tage später, und man sprach kaum noch von dem Verstorbenen; denn so furchtbar entsetzlich auch der Tod in das Geschick der Menschen greift, so schnell werden auch seine Opfer vergessen; der Trieb der Selbsterhaltung läßt uns nicht ewig um einen teuren Verstorbenen trauern. Sein Verlust, der uns heute brennenden Schmerz bereitet, ruft in wenigen Tagen nur ein leise nachhallendes Weh hervor.

Ein Wesen gab es indessen in L., das den Tod Jansens noch lange und tief betrauerte, seine Tochter Ella, die in dem Vater das teilnahmsvollste Wesen verloren, den einzigen Menschen, der sie ihrem ganzen Charakter nach verstand, an dem sie mit doppelter Liebe hing, da es ihr nicht vergönnt war, sich der Liebe einer Mutter zu erfreuen.

Wie hatte sie die Monate, die Tage, zuletzt die Stunden bis zu seiner Rückkehr gezählt! Sie mußte ihm ja so viel vertrauen, was eben ein Kind nur dem Vater anvertrauen kann.

Und nun, da nur noch wenige Stunden sie von dem heiß ersehnten Augenblick trennten, traf jene Schreckensstunde ein, die, einem Blitzstrahl gleich, ihr Glück zertrümmerte.

Lange hatte sie an der Bahre des geliebten Vaters geweilt, und als die Schollen niederfielen auf den Sarg, da war es dem bedauernswerten Mädchen, als ob auch ihr Glück, ihre Zukunft, ja alle Hoffnung, die sie noch vom Leben erwartete, mit eingesargt wäre. Das arme reiche Kind!

War Ella reich? – –

Wieder herrschte in dem Comptoir der Firma Jansen & Sohn eine beängstigende Schwüle; wieder saßen die Comptoiristen scheu über die Bücher gebeugt; wieder wagten sie nur in wenig flüsternden Worten ihre Gedanken auszutauschen.

Auch der Disponent, der alte Jordan, zeigte heute eine nie an ihm wahrgenommene Unruhe – –

Die Firma Jansen & Sohn befand sich in Liquidation. Da kein naher männlicher Erbe vorhanden, hatte der pflichttreue Disponent die Auflösung der Firma beim Handelsgericht beantragt.

Nach den letzten Berichten, die er von seinem Chef aus Kalkutta erhalten hatte, mußte sich das schwierige Geschäft der Liquidation in aller Ordnung vollziehen; denn Jansen brachte ein so bedeutendes Barvermögen mit, daß damit alle Forderungen reichlich gedeckt werden konnten.

Jetzt aber hatte es sich herausgestellt, daß bei der Leiche des Kaufherrn kein Geld gefunden worden war, auch nicht in seinen Reiseeffekten. Es war durch die Aussage des Kapitäns festgestellt, daß Jansen ein sehr bedeutendes Vermögen in Wechseln und Kassenscheinen in einem Portefeuille bei sich führte. Dieses Portefeuille aber war verschwunden, dem Raub Mörder zum Opfer gefallen.

Jordan hatte am Tage vorher davon Kenntnis erhalten, und mit Schrecken sah der alte, wackere Beamte ein, daß es jetzt doch zum äußersten kommen mußte. Weder der Kassenbestand noch die Außenstände reichten hin, das Geschäft der Liquidation auch nur annähernd glatt abzuwickeln. Und so blieb ihm denn als gewissenhaften Kaufmann nichts weiter übrig, als eine Bilanz zu ziehen und beim Handelsgericht den Konkurs der Firma Jansen & Sohn anzumelden.

Es war der schwerste Schritt, den Jordan in seinem Leben gethan. Durch vierzig und einige Jahre gehörte er als der erste Diener dem Hause an; die Ehre desselben war auch seine Ehre.

Ihm war es geglückt, durch geschickte, aber solide Kombinationen der Firma über manche gefährliche Krise hinfortzuhelfen. Und jetzt mußte er es erleben, daß das Renommee des alten Hauses, auf so schmähliche Art zu Grunde ging.

Das erpreßte dem erfahrenen Kaufmann manchen Seufzer, denn wie der Krieger auf die Ehre seiner Fahne, so hält der Kaufmann auf die Ehre seines Hauses, für die er alles einsetzt, seine Thatkraft, sein Streben, leinen Fleiß und oft auch, als letztes Mittel, sein persönliches Wohlbefinden.

Das hatte Jordan durch über vierzig Jahre redlich gethan; ja schon dem Vater seines nun verstorbenen Chefs diente er einst treu. Und jetzt sollten ihn plötzlich die Früchte langjähriger Pflichttreue entrissen werden, in einem Augenblick, wo das Haus durch neue überseeische Verbindungen gerade im Begriff stand, sich mit neuem Glanz zu umgeben.

Vergebens überschlug er die Summe des kleinen Privatvermögens, das er sich im Laufe der Jahre erworben und das ihn einst in seinen alten Tagen vor Not sichern sollte.

Es reichte bei weitem nicht aus, auch nur die Hälfte des Defizits zu decken, und so blieb ihm denn nichts übrig, als den letzten verhängnisvollen Schritt zu thun.

Die Glocke der nahen Kirche hatte eben die Mittagsstunde verkündet. Das Personal schickte sich an, das Comptoir zu verlassen, als der Disponent die Herren in das Privatcomptoir bescheiden ließ.

Sie folgten der Aufforderung willig, wenn auch in gedrückter Stimmung, denn alle von ihnen ahnten bereits, um welche Eröffnung es sich handelte.

»Meine Herren,« nahm der alte Jordan mit vor innerer Bewegung vibrierender Stimme das Wort, »ich habe Ihnen leider eine trübe Mitteilung zu machen. Es ist Ihnen bekannt, daß sich die Firma in Liquidation befindet; die damit verbundenen Arbeiten und Berechnungen hätten immerhin noch ein längeres gemeinsames Wirken erfordert. Leider aber sind Verhältnisse ein getreten, die den sofortigen Schluß des Geschäfts für mich zur zwingenden Notwendigkeit machen.

Ganz bedeutende Summen, welche unser verstorbener Chef bei sich führte, sind gelegentlich des an ihm verübten grausamen Verbrechens abhanden gekommen. Ich bin daher außer Stande, eine ordnungsmäßige Abwicklung unserer Geschäftsverpflichtungen vorzunehmen und gezwungen, den Konkurs der Firma Jansen & Sohn, der ich seit zweiundvierzig Jahren vorstand, und der auch die meisten von Ihnen seit langen Jahren mit Pflichtreue dienten, anzumelden.

Ich wollte nur noch bitten, daß Sie auf die Bekanntmachung des Verwalters demselben Ihre Forderungen an Salair nach Ihren Kontrakten mitteilen, wie ich Sie ferner bitte, unserm verstorbenen Chef, dem ja die meisten unter uns viele Wohlthaten verdanken, ein ehrendes Andenken zu bewahren.

Und nun, meine Herren, wünsche ich Ihnen allen von Herzen eine fernere glückliche Zukunft.«

Der alte Jordan hatte während dieser kurzen Rede die Ruhe und Würde zur Schau getragen, welche den ernsten Worten angemessen waren. Als er aber jetzt einem nach dem andern die Hand zum Abschied reichte, da stahlen sich wider seinen Willen doch Thränen aus den treuen grauen Augen; auch in den Augen der Uebrigen glänzte es feucht, sie waren ja ausnahmslos seit Jahren in dem stolzen Handlungshause beschäftigt und wußten den Schmerz des alten Disponenten zu würdigen.

Eine Stunde später waren die weiten Räume, die sonst von Gehenden und Kommenden erfüllt waren, verödet.

Die Handlungsbücher lagen unter Verschluß, die Hauptbücher aber, die der Disponent durch lange Jahre wie ein Heiligtum gehütet und in die er auch dem vertrautesten Freunde nie einen Einblick gewährt hätte, waren dem Handelsgerichte eingeliefert.

Von alledem wußte Ella nichts. Wer sollte auch den Mut haben, dem jungen, von so harten Schicksalsschlägen getroffenen Mädchen noch diese grausame Mitteilung zu machen, ihr zu sagen: sei gefaßt, bereite Dich auf das Härteste vor; denn wisse, nach wenigen Tagen mußt Du alle Pracht, die Dich umgiebt, für immer meiden. Du bist nicht mehr reich, Du bist arm, sehr arm geworden.

Und dennoch, einer mußte diesen Mut haben, und gerade der, dem es am schwersten fiel. Jordan, der Ella liebte, als wäre sie sein eigen Kind, der sie von frühester Jugend an wie ein Vater gehütet, er war gezwungen, dem unglücklichen Mädchen auch diese letzte Schreckenspost zu überbringen.

Der Soldat, der gemeinschaftlich mit seinen Kameraden eine Festung verteidigt, er erträgt das Geschick, wenn die Festung gefallen, mit Tausenden seiner Kameraden, im Bewußtsein treuer Pflichterfüllung geduldig. Doch der herbste Schmerz, die Armee mit eiserner Ruhe, ohne zu zucken, dem Kommandierenden des feindlichen Heeres zu übergeben, dieser Schmerz bleibt nur dem General vorbehalten, der in solchem furchtbaren Augenblick für die Tausende seiner Untergebenen die Schmach erduldet.

Die Angestellten des Hauses Jansen & Sohn hatten das Comptoir längst verlassen, als der alte Disponent vom Handelsgerichte zurückkehrte.

Es war ihm eröffnet worden, daß nach Lage der Sache auch das Privatvermögen seines verstorbenen Herrn zur Masse herangezogen werden müsse, und er hatte danach die notwendigen Dispositionen zu treffen.

Ella befand sich mit ihrer Freundin in dem reizenden Boudoir, das der Kaufherr Jansen mit allem erdenkbaren Luxus für sie ausgestattet hatte.

Tiefer Ernst lagerte auf den Gesichtszügen der beiden jungen Mädchen. Ella schien nicht mehr jene sorglose Natur, die mit ihrer Keckheit eine Welt herausfordern konnte. Das Unglück hatte sie gereift, und wenige Tage sie an Erfahrung um Jahre reifer gemacht.

Die prächtige Umgebung, die ihr sonst Freude bereitete, beachtete sie nicht mehr, ebenso waren die tröstenden Worte der treuen Freundin, die sich bemühte, ihr den schweren Verlust wenigstens zum Teil vergessen zu machen, erfolglos. Ellas Gedanken schweiften immer wieder von der Pracht, die sie umgab, ab und zu einem kleinen Hügel hin, der sich in der ersten Reihe des Friedhofes befand und alles barg, was ihr im Leben teuer war. Ein kleiner Raum, und wie viel unendliche Liebe vermag er für immer zu fassen:

Noch einmal rief sich Ella jedes, auch das winzigste Ereignis aus dem Leben ihres Vaters zurück. Sie sah ihn vor sich wie an jenem Tage vor zwei Jahren, wie er sie noch einmal liebend in die Arme schloß, bevor er die Reise antrat. Die lebhafte Phantasie der Jugend kam dem armen Kinde dabei zu statten; festere und festere Züge nahm die Gestalt des teuren Verstorbenen an; sie meinte ihn wirklich zu sehen; sie erhob sich ihm entgegen zu eilen.

Da plötzlich wurde sie durch Jordan unterbrochen, der leise, fast unbemerkt eingetreten war.

Freundlich grüßte der Alte die beiden jungen Mädchen und deutete dabei Anna durch einen Blick an, ihn mit Ella allein zu lassen.

Auch Anna hatte den alten Disponenten lieb; sie kam deshalb seinem Wunsche gern nach und verließ wenige Minuten später unauffällig das Zimmer.

Jordan stand eine kurze Zeit unschlüssig, denn es fehlte ihm an Mut, seinen Auftrag auszuführen. Und doch, – es mußte sein! Unmöglich durfte er abwarten, bis fremde Leute dem armen Kinde vielleicht schonungslos eine Mitteilung machen, die er doch wenigstens in ihrer Wirkung abschwächen konnte.

»Fräulein Ella,« begann er endlich, während er die Hand des jungen Mädchens ergriff und sie, einem Vater gleich, in der seinen hielt, »Sie haben vieles, unersetzliches verloren, doch Ihr Glaubensmut bewährte sich. Eines ist Ihnen geblieben, es ist das Vertrauen auf Gott und dieses Bewußtsein allein giebt mir Mut, Ihnen noch eine traurige Mitteilung zu machen.«

»Sprechen Sie, Herr Jordan, sprechen Sie!« rief Ella, während ein Thränenstrom ihren schönen Augen entglitt. »Sie haben recht, ich habe Mut und Vertrauen. Ich hatte ja die Kraft, den schwersten Verlust zu ertragen, und ich lebe noch.«

»Weinen Sie nicht, Fräulein Ella,« bat Jordan, »sprechen Sie nicht verzweiflungsvoll, sonst brechen Sie mit altem Manne fast das Herz und nehmen mir die Kraft, Ihnen das mitzuteilen, was Sie doch einmal erfahren müssen.«

»Es ist wahr, lieber Herr Jordan,« Unterbrach ihn Ella, ich war der Verzweiflung nahe. Mit kindischem Trotz wollte ich vom Schicksal etwas zurückerzwingen, was keine Macht der Erde wiedergeben kann. Aber das Toben der Verzweiflung verstummte; der kindische Trotz ward im Hinblick auf die Zukunft gebrochen; auch die Thränen werden bald versiegt sein, denn weinen sollen ja nur Kinder, und ich bin kein Kind mehr. Ich bin nicht mehr das heitere junge Mädchen; sie haben ja meinen Frohsinn vor wenigen Tagen hinausgetragen und bei dem Vater gebettet.«

»Sie armes, gutes Kind,« sprach Jordan, nur mit Mühe die Thränen zurückhaltend. »Und doch steht neuer Kummer Ihnen bevor. O, Fräulein Ella, seien Sie dem alten treuen Freund nicht böse; man hat mich gezwungen, es Ihnen zu sagen: Sie müssen diese Räume innerhalb dreier Tage verlassen.«

Ella schnellte von ihrem Sitz empor; halb herausfordernd, halb ungläubig blickte sie auf den alten Disponenten.

»Diese Wohnung sollte ich verlassen? Diese Zimmer, die noch das einzige sind, was mich an die Güte meines armen Vaters erinnert? Und weshalb? Wer kann mich zwingen, aus diesen Räumen zu scheiden, in denen sich an jeden Gegenstand, den ich erblicke, die liebsten, teuersten Erinnerungen knüpfen?«

Ella hatte recht; sie war kein Kind mehr. Und als sie jetzt hoch aufgerichtet, mit glühenden Wangen und blitzenden Augen, als wolle sie eine Welt zum Kampfe herausfordern, vor dem alten Disponenten stand, hätte kein Mensch in ihr das freundliche, anmutige Mädchen vermutet, das noch bis vor kurzem durch seine Drollerieen, durch sein heiteres Wesen alle entzückte, die in ihre Nähe kamen.

»Fassen Sie sich, Fräulein Ella,« bat Jordan bewegte »Es ist einmal nicht zu ändern. Ich trage ja auch nicht die Schuld und bereite Sie wahrhaftig nur gezwungen auf den Wechsel Ihrer äußeren Verhältnisse vor.«

»Wer verlangt diesen Wechsel? Wer hat ein Recht, mir auch das letzte, das Vaterhaus, zu rauben?«

»Das Gericht, armes Fräulein,« erwiderte der Alte mit vor Schmerz vibrierender Stimme.

»Das Gericht, sagen Sie, lieber Herr Jordan?« fragte Ella mit dem Ausdruck des Zweifels. »Das Gericht?« wiederholte sie gedehnt. »Ja, was haben denn die Richter mit einer armen Waise zu schaffen?«

»Auch das muß ich Ihnen sagen, obzwar es mir unendlich schwer fällt,« sprach er bewegt. »Bei dem Tode Ihres armen Vaters war es auf einen Raub abgesehen; und diesem Raube fielen Summen zum Opfer, die sich trotz aller Mühe und Anstrengungen nicht ersetzen ließen, deren Fehlen aber die Sicherheit des Hauses gefährdetet. Vergebens, liebes Fräulein, appellierte ich an die Hilfe mehrerer Geschäftsfreunde, die in der Stunde der Gefahr nur leere Ausflüchte für uns hatten. Da blieb mir denn nichts anderes übrig, als die Zahlungsunfähigkeit bei Gericht anzumelden. Und von dem Augenblick einer solchen Anmeldung ist der gesamte kaufmännische und Privatbesitz, so verlangt es das Gesetz, zu Gunsten der Gläubiger dem Gericht verfallen.«

»Das also ist es? Bankerott!« sprach Ella mehr für sich, während sie fast unwillkürlich die Hände rang. »Auch das noch! So bin ich denn eine Bettlerin!«

Sie sprach diese Worte resigniert, und doch zitterte ein Schmerz daraus hervor, der dem alten Jordan tief ins Herz schnitt.

»Nicht doch,« entgegnete er, aufs neue die Hand des unglücklichen Mädchens ergreifend, »Sie sind keine Bettlerin, liebes Fräulein. Sie verlassen nur diese prächtigen Räume, um sie mit einfacheren zu vertauschen, in denen Ihnen aber zwei Herzen entgegenschlagen, unter deren Treue und Sorgfalt Sie vielleicht bald den nutzlosen Tand, der Sie hier umgiebt, vergessen werden.«

»Sie sprechen in Rätseln, Herr Jordan; Verwandte habe ich kaum, und wer würde sich entschließen, die verwöhnte Tochter eines Unglücklichen bei sich aufzunehmen?«

»Wie können Sie noch fragen?« erwiderte Jordan fast gekränkt. »Sehen Sie, gutes Fräulein, seit über zweiundvierzig Jahren diene ich Ihrem Hause,« fuhr er fort; »ich war schon bei Ihrem Großvater, als Ihr leider nun verstorbener Vater, sich noch in fremder Herren Länder vergnügte, um die Sitten und Gebräuche anderer Völker kennen zu lernen und womöglich nutzbringende Verbindungen anzuknüpfen. Ich bezog ein Salair, welches mir wohl gestaltete, bei Sparsamkeit etwas zu erübrigen. Und so habe ich denn im Laufe der Jahre eine schöne Summe zurückgelegt, genug, um mit meiner Frau ein sorgloses Leben zu führen. Kinder haben wir nicht; ist es denn da nicht natürlich, wenn wir beide einig darin sind, die Tochter des Mannes wie unser Kind zu halten, dem wir alles, was wir besitzen, verdanken? Also, liebes Fräulein Ella, kommen Sie zu uns und seien Sie versichert, daß wir alles aufbieten werden, Ihren Schmerz zu lindern und Ihnen den schweren Verlust, so weit das möglich ist, zu ersetzen. Also, Fräulein Ella, schlagen Sie ein,« rief er, ihr treuherzig beide Hände entgegenstreckend, »betrachten Sie mein schlichtes Haus als einen Nothafen, aus dem Sie vielleicht bald wieder froh und glücklich in die glänzende Welt hinaussteuern werden, wenn die ersten Schrecken des Schicksalsturmes überwunden sind.«

Ella ergriff die Hände des biedern Mannes und lehnte gleich darauf ihr schönes Köpfchen, gleichsam als Zeichen kindlichen Vertrauens an seine Schulter.

Plötzlich aber fuhr sie erschreckt empor und während sie Jordan ängstlich fragend anblickte; sprach sie im Flüsterton für sich, aber laut genug, daß auch der Alte es vernehmen konnte:

»Und Anna? Wo soll sie bleiben? Wer wird sich ihrer in der fremden Stadt annehmen?«

»Ich hatte diese Frage erwartet,« erwiderte Jordan, »denn ich kannte ja Ihr Herz, das zu gut ist, um die Freundin im Unglück zu verlassen. Doch seien Sie unbesorgt; auch für Anna wird Rat geschafft werden. Vorläufig bleibt sie bei uns, bis sie eine Stellung gefunden, was bei ihren Kenntnissen nicht schwer halten dürfte. Doch nun kommen Sie, liebes Fräulein, damit meine Frau endlich die Freude hat, Sie in unserer Wohnung willkommen zu heißen.«

»O, Sie sind zu gut,« rief Ella, von neuem die Hände des treuen Dieners innig drückend. »Ja, ich gehe mit Ihnen! Ich will diese Räume meiden, die für mich ja doch nur das prächtig geschmückte Grab meiner Hoffnungen bedeuten. Ich will alles zurücklassen, was ich der großen Liebe meines Vaters verdanke. Auch den Schmuck will ich ablegen,« fuhr sie, ein mit Brillanten reich besetztes Collier abstreifend, fort; »man soll nicht sagen, daß ich den Gläubigern des Hauses Jansen & Sohn etwas entzogen habe!«

»Behüte!« rief Jordan, fast erschreckt; »berauben Sie sich nicht auch noch der letzten unschuldigen Freuden, der letzten Erinnerungen an die Liebe des Vaters. Ja, ja, liebes Fräulein,« fügte er hinzu, »das Gesetz ist unerbittlich; aber Kinder und Waisen schützt es dennoch. Kein Gesetz kann Sie zwingen, sich Ihres Privatbesitzes zu entäußern, der mit dem Ihres verstorbenen nichts gemein hat.«

»Nein, nein!« erwiderte Ella abwehrend, »ich darf diesen Schmuck nicht tragen, denn man würde ja mit Fingern auf mich zeigen. Ich opfere diesen kostbaren, aber unnützen Tand gern, wenn es mir nur glückt, den ehrlichen Namen meines armen Vaters auch nur in den Augen eines einzigen unbefleckt zu erhalten, Ach, so jung ich bin und so wenig ich vom Geschäftsleben verstehe, ich habe ja schon oft genug gehört, wie die Welt in ähnlichen Fällen urteilt.«

»Nicht doch, Fräulein Ella,« beschwichtigte Jordan; »Sie sehen zu schwarz. Glauben Sie mir, nicht einer, der Ihren Vater näher kannte, wird ihn verdammen. Wohin ich komme, begegne ich nur aufrichtigem Bedauern, aufrichtiger Teilnahme. Doch nun, liebes Fräulein, darf ich Sie wohl nach Ihrem neuen Heim begleiten; nehmen Sie die Versicherung, daß wir, so weit es alte Leute imstande sind. Ihnen eine liebe und angenehme Stätte schaffen werden.«

»O, wie soll ich Ihnen danken, Herr Jordan, für das, was Sie an mir thun? Gewiß, ich will Ihnen folgen, aber nicht wie eine Fremde, sondern wie eine Tochter, welche durch eine an Kindesliebe grenzende Verehrung für Ihre Opferfreudigkeit erkenntlich sein will. Aber noch wenige Minuten müssen Sie mir gönnen; sie sind einer heiligen, unsichtbaren Pflicht gewidmet; dann bin ich wieder bei Ihnen und will auf Gott vertrauend, mich unter Ihren Schutz stellen.«

Sie verließ das Boudoir und begab sich in das anstoßende Gemach.

Hier entnahm sie einem prächtigen Album ein Bild, welches die Züge eines stattlichen jungen Mannes wiedergab. Lange betrachtete sie die Photographie; es schien, als könne sie sich davon nicht trennen.

Dann jedoch nahm sie an dem zierlichen Schreibtisch Platz, griff nach der Schreibmappe, öffnete dieselbe und begann zu schreiben.

Sie schrieb lange, und manche Thräne netzte das Velinpapier, bis sie endlich die Arbeit beendet hatte. Dann couvertierte sie den Brief und schloß ihn, nachdem sie noch das Bild hinzugefügt hatte.

Ein schwerer Seufzer entrang sich ihrer Brust, während sie gleich darauf im Ton der Resignation sprach:

»So ist denn auch das letzte schwere Werk gethan. Er hat sein Wort zurück; ich durfte sein Geschick nicht an das der Tochter des Bankerotteurs fesseln!«


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