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17. Kapitel. Am Meeresstrand

Die Rosen verblühten. Der Juli atmete seinen heißen Dunsthauch über die Großstadt aus. Selbst in der Waldschule war es heiß. Die Kinder waren schlapp von der tagelangen Hitze. Sie paßten in den Unterrichtsstunden nicht genügend auf. Es setzte manche Ermahnung, ja sogar Tadel. Gut, daß die großen Ferien vor der Tür standen. Da nahm man es nicht mehr ganz so ernst. In der letzten Stunde fragte der Lehrer, wo seine Sexta die Sommerferien zubringen würde. Da reisten manche an die Ostsee und andere ins Gebirge. Gerhard und Margot waren zu Verwandten auf dem Lande eingeladen. Traudchen und Mulle wurden von der Ferienkolonie verschickt. Wer nicht verreiste, durfte in der Waldschule bleiben, wo die Kinder sich ohne Unterricht in den Ferien glänzend erholen konnten. Der einzige, der davon keinen Gebrauch machte, war Paul.

»Nun, Paul, dir würde es auch nichts schaden, wenn du in den Ferienwochen bei uns draußen bliebst. Dick bist du immer noch nicht geworden. Was hast du denn in dem heißen Berlin während der Ferien. Will deine Mutter dich nicht hierlassen?« erkundigte sich Herr Fürst.

Paul wurde rot und schüttelte den Kopf. Der Lehrer forschte nicht weiter. Aber es tat ihm leid, daß das schmächtige Jungchen die gute Waldluft und das kräftige Essen in der Waldschule für die Erholungsferien entbehren sollte.

Von allen ihren Freunden nahmen die Kinder Abschied. Da war das Vogelnest mit den Rotschwänzchen im Balken der Liegehalle. Man hatte die jungen Rotschwänzchen aus dem Ei kriechen sehen und beobachtet, wie sie flügge wurden. Ja, Herbert hatte sogar der ängstlich piepsenden Vogelmutter ein aus dem Nest gefallenes Vogelkind wieder als glücklicher Finder heimgebracht. Die Rotschwänzchen flatterten heute aufgeregt in der Liegehalle umher, als ob sie es ahnten, daß der größte Teil ihrer kleinen Freunde für lange Wochen zum letztenmal hier in den Liegestühlen lag. Da waren die selbstgezimmerten Starwohnungen an den Bäumen, deren Bewohner den Waldschulkindern vertraut und lieb waren. Das Bienenhaus mit seinen vielen Zellenwohnungen und den emsig Honig tragenden Bienen. Da war Jakob, das zahme Eichhörnchen, das den Kindern Nüsse aus der Hand fraß. Türko, der treue vierbeinige Wächter. Und vor allem die lieben Gesichter der Menschen, die für ihr geistiges und körperliches Wohl getreulich sorgten.

Herbert trennte sich am schwersten von dem Aquarium und Terrarium; Suse von ihren Blumenbeeten. Der Wächter, der in der Waldschule wohnte, hatte ihr zwar versprochen, fleißig zu gießen und nach dem Rechten zu sehen. Aber Suse wußte ja, daß Blumen eine Seele haben. Sicher würden sie ihre liebevolle kleine Pflegerin vermissen.

»Morgen um diese Zeit sind wir schon am Meer«, sagte Herbert beim Heimweg zu seinen Schulkameraden. »Da werde ich feine Muscheltiere fangen.«

»Beißen die einen nicht beim Baden?« erkundigte sich Suse unbehaglich.

»Du mußt ihnen dein Bein nicht gerade hinhalten, Suse«, lachte Herbert seinen Zwilling aus. »Ob die Großeltern aus Freiburg und Onkel Ernst schon angekommen sind?«

»Um sieben ist der Zug in Berlin. Fein, daß wir alle zusammen nach Rügen fahren. Nur Vati müßte noch dabei sein.« Das dämpfte ein wenig Suses Freude. Sie bangte sich immer noch nach ihrem fernen Vater.

»Onkel Spaß ist beinahe ebensogut wie Vater«, meinte Herbert. Von klein auf nannten Professors Zwillinge Muttis Bruder Ernst seiner ulkigen Witze wegen »Onkel Spaß«.

»Wir reisen übermorgen. Einen ganzen Tag fahren wir, über München ins bayerische Hochgebirge. Süße Dirndlkleider haben wir bekommen«, erzählten die Lichtschen Kinder.

»Und ich einen niedlichen Tiroler Anzug«, rief der kleine Werner. Paul ging stumm neben den lebhaften Schulkameraden her. Er sagte gar nichts.

Suse hatte die Herzensgabe, sich in die Seele eines anderen hineinfühlen zu können. Sie empfand, daß Paul sich zurückgesetzt vorkommen mußte.

»Tut es dir leid, daß du nicht in der Waldschule bleibst, Paul?« fragte sie halblaut.

Paul schüttelte den Kopf.

Nanu – das hatte Suse nicht erwartet. »Ja, ist es dir denn nicht langweilig allein zu Hause während der Ferien?«

»Ich muß Geld verdienen.«

Suse blickte den Schulfreund mit ungeheurer Hochachtung an. »So ein kleiner Junge wie du? Wie willst du das denn anfangen?«

»Das weiß ich noch nicht. Vielleicht kann ich Zeitungen austragen oder Milch oder Semmeln.«

»Fräulein Ludwig wollte deiner Mutter doch Arbeit verschaffen, Paul«, sagte Suse beklommen. Es bedrückte sie, daß Paul in den Ferien Arbeit haben sollte, während sie alle Erholung und Vergnügen erwartete.

»Das hat sie auch getan. Aber Mutter ist nicht gesund. Sie soll nicht immer bis in die Nacht hinein nähen. Ich kann auch was verdienen. Ich bin ja schon groß.«

»Du bist ein guter Junge«, sagte Suse. Sie schämte sich beinahe, daß sie nicht auch in den Ferien arbeiten und Geld verdienen wollte.

Aber als sie dann heimkam, als »Onkel Spaß« die Zwillinge mit lautem Hallo begrüßte und die Freiburger Großeltern meinten, sie hätten den Bubi und die Mädi kaum wiedererkannt, so groß seien die in den drei Jahren, wo man sie nimmer gesehen, geworden – ja, da hatte Suse keine Zeit mehr, an den armen Schulfreund zu denken. Trotzdem sie in den drei Jahren so gewachsen war, saß sie doch noch wie früher bei der großen Omama – so hieß sie zum Unterschied zur kleinen Omama – auf dem Schoß und ließ sich verhätscheln. Herbert aber zeigte dem Großvater mit ungemeinem Stolz sein Terrarium in der Käseglocke. Beim Freiburger Großpapa fand er sicher volles Verständnis. War dieser doch selbst Professor der Tierkunde und hatte seine Vorliebe für alles Getier auf seinen kleinen Enkel vererbt.

Onkel Ernst aber meinte augenzwinkernd: »Das kann mir gar nimmer imponieren, Bubi. Wenn du nicht mal dressierte Flöhe hast.«

Herbert wußte wohl, daß es nur Spaß war. Aber er ärgerte sich doch darüber. Und vor allem, daß man ihn noch »Bubi« nannte.

»Onkel Spaß, wir sind jetzt Sextaner, die Suse und ich. Da dürft ihr uns nicht mehr ›Bubi‹ und ›Mädi‹ nennen«, sagte er, sich in die Brust werfend.

»Verzeihung, das habe ich nicht gewußt.« Onkel Ernst machte ein ganz zerknirschtes Gesicht. »Schau, wie muß ich denn jetzt sagen? Am Ende gar ›Herr und Fräulein Winter‹?«

»Ach, Onkel Spaß, du mußt auch mal Ernst machen«, bat sein kleiner Neffe. »Wir heißen Herbert und Suse – punktum.«

»Für mich bleibt ihr halt der Bubi und die Mädi bis zu eurer Hochzeit«, lachte der Großpapa.

Mutter und Lene hatten heute alle Hände voll zu tun. Denn morgen in der Frühe sollte es schon fortgehen an die Ostsee. Hatte der Großvater doch etwas früher Ferien genommen, um den Urlaub mit seiner Tochter und den Enkeln zubringen zu können. Da durfte man keinen Tag verlieren.

Die Koffer waren schon gepackt. Allerliebste Badeanzüge waren darin für Professors Zwillinge. Aber Herbert wollte durchaus trotz Muttis Einspruch noch sein Terrarium auf die Kleider packen. Er meinte, der Freiburger Großpapa würde es übelnehmen, wenn er es daheim ließe. Erst das Versprechen des Großvaters, daß sie sich in Sellin ein neues Terrarium bauen wollten, beruhigte Herbert.

Suse aber trennte sich nicht von ihrer Schwarzwald-Lotti, welche die Freiburger Omama ihr einst geschenkt hatte. Lotti mußte mit an die Ostsee. Das Kind war blaß von der vielen Stubenluft. Die große Omama hatte ihre Freude daran, wie nett und ordentlich ihre kleine Landsmännin noch ausschaute. Ja, Suse war eine gute Puppenmutter geworden. Sie schnitt ihrem Kinde sogar noch die schwarzen Zöpfchen ab. Das war viel bequemer für die Reise, und Bubenkopf war ja modern. Bald war auch der Puppenkoffer gepackt, und die Schwarzwald-Lotti thronte, den Hut auf der neuen Jungstolle, bereits im Samtmantel reisefertig auf ihrem Koffer.

Professors Zwillinge hätten es am liebsten ebenso gemacht wie die Puppe und sich reisefertig auf die Koffer gesetzt, um nur ja nicht den Zug zu versäumen. Sie waren heute wieder mal aus Rand und Band und nicht ins Bett zu kriegen. Und als die Großen endlich auf dem Balkon saßen, um in der Spätdämmerung friedlich zu plaudern, da erschienen plötzlich zwei Hemdenmätze und jagten sie wieder aus ihrer Ruhe auf. Die Großeltern und Onkel Ernst mußten unbedingt noch die größte Sehenswürdigkeit von Charlottenburg, den Scheinwerfer auf dem Funkturm, bewundern.

Trotzdem waren die Zwillinge morgens ganz ausgeschlafen. Am Reisetag kennt man kein Herumräkeln in den Betten. Die Autofahrt zum Stettiner Bahnhof in der frischen Morgenluft war schon das größte Reisevergnügen. Schöner konnte es gar nicht mehr kommen, fand Herbert. Er saß vorn neben dem Chauffeur. Allerdings ohne seinen Zwilling. Suse war zwischen Mutti und Omama verstaut.

Wie im Fluge verging die Eisenbahnfahrt nach Stralsund. Die Zwillinge hatten so viel im Gang des D-Zuges und draußen in der vorüberfliegenden Landschaft zu sehen, daß sie nur zur Fütterung im Abteil erschienen. Einmal rief Suse begeistert: »Eine Waldschule, Herbert!« Es waren aber wohl wandernde Ferienkinder. Windmühlen griffen mit gespreizten Armen in die Silberwolken des blauen Sommerhimmels. Blutigroter Mohn säumte den Bahndamm. Ach, und die blauen Vergißmeinnichtaugen drüben am Bach. Niedliche, kleine Bauernhäuschen trugen feuerrote Ziegeldächerkappen. Aus schwarzem Schornstein stieg kerzengerader Rauch in die Luft. Dort kochte man wohl jetzt Mittagbrot, überall Menschen, die man nicht kannte. Barfüßchen, die das Schnupftuch oder die Mütze in der Luft schwenkten und den Vorübersausenden ein lautes Hurra zubrüllten. Kleine Nackedeis planschten mit den Enten um die Wette im Dorfteich.

Dann tauchten altersgraue Türme auf. Man war in Stralsund. Onkel Ernst trat zu den Zwillingen. »Nun paßt auf, Kinder. Jetzt wird der ganze Zug auf einen Trajekt gesetzt. Das ist eine Art Fähre, die über das Meer führt und das Festland mit der Insel Rügen verbindet«, erklärte er ihnen.

»Wer kann denn die schwere Eisenbahn mit all den vielen Menschen heben und auf einen Trajekt setzen?« erkundigte sich Suse erstaunt.

»Bist halt ein Dummerchen! Der Zug wird natürlich nicht gehoben, sondern hinübergeleitet«, lachte Onkel Ernst sie aus.

»Natürlich«, sagte auch Herbert von oben herab. Weibliche Zwillinge waren doch entschieden dämlicher als männliche.

Auf der Insel Rügen hieß es umsteigen und mit der Bimmelbahn weiter nach Sellin fahren. Bei einem Haar hätte Traumsuschen ihre Schwarzwald-Lotti im D-Zuge vergessen. Oben im Gepäcknetz schlief sie und meldete sich nicht. Suse war so benommen von dem Schaukeln und Rattern der Eisenbahn, von all dem Neuen, was auf sie einstürmte, daß sie nicht an ihre Mutterpflichten dachte. Erst als die Bimmelbahn bereits die flache Insellandschaft durchquerte, rief sie plötzlich entsetzt: »Der Zug muß halten. Wo ist die Notbremse? Meine Lotti ist im D-Zug vergessen worden.« Sie weinte fast vor Aufregung.

Herbert sprang sofort auf die Bank und angelte dienstbereit nach dem Griff der Notbremse. Das hatte er sich längst schon glühend gewünscht, mal die Notbremse ziehen zu können. Solche gute Gelegenheit durfte man sich nicht entgehen lassen, wenn man auch noch so verächtlich auf den Puppenkram herabblickte.

Aber ehe er noch dazu kam, die Notbremse zu ziehen, fühlte er sich selbst gezogen, und zwar höchst energisch am Bein von der Bank herunter.

»Büble, bist net g'scheit!« rief der Großpapa halb lachend, halb erschreckt. »Die Puppe mag ja eine allerliebste junge Dame sein, aber doch wohl net wichtig genug, um einen Zug zum Halten zu bringen.«

»Wenn meine Mutti mich oder den Herbert im D-Zug vergessen hätte, würde sie auch die Notbremse ziehen«, rief Suse, in ihren heiligsten Muttergefühlen gekränkt. Tränen tropften aus braunen Augen.

»Dein Puppenkind hat's gut«, tröstete jetzt Onkel Ernst. »Das reist jetzt sicher nach Schweden. Das schaut sich halt die Welt an.«

Suses Tränen flossen schneller. Einen Vater in Italien und ein Kind in Schweden – es brach ihr das Herz.

Da fühlte sie etwas Merkwürdiges zwischen den Händen. Aus Onkel Ernsts Manteltasche war es gekommen. Samtweich war es, dabei kühl wie Porzellan – geschwind die Tränen von den Augen gewischt, um sehen zu können.

»Lotti – meine Lotti!« Jauchzen entrang sich Suses Mutterherzen, und da hatte sie ihrem wiedergefundenen Liebling im Wiedersehensglück einen Kuß auf die Zelluloidlippen gedrückt.

»Und das will ein Sextaner sein!« sagte Herbert empört.

Überhaupt der Junge hielt sich während der Ferienwochen viel mehr zu den Männern als zu seinem Zwilling. Er baute wohl Burgen mit Suse am Strande, spritzte sie auch beim Baden gehörig naß, tauchte sie und hatte einen diebischen Spaß, wenn sie erschreckt loskreischte. Aber es muß leider gesagt werden, daß er sich mehr zu den Herren zugehörig fühlte als zu seiner Suse. Er watete mit dem Großvater nach allerlei »Seeungeheuern«, wie Suse die Quallen und Muscheltiere ängstlich nannte, und legte in einer Burg ein großartiges Terrarium an. Er machte mit dem Großpapa und Onkel Ernst weite Wanderungen die Dünen entlang bis nach Gören, während Suse bei Mutti und der Großmama am Strande blieb. Dort spielte sie mit kleinen Mädchen aus Lübeck und Rostock und ihrer Schwarzwald-Lotti. An den Dünenmärschen der Herren lag ihr nicht viel. Trotz der herrlichen Buchenwaldungen fand sie es viel schöner, am Meeresstrand zu liegen und dem unermüdlichen Wogenrollen des Meeres zuzuschauen. Ob das Mittelländische Meer, wo Vater war, wohl ebenso ausschaute?

Einmal hatte man sie nach Binz mitgenommen. Aber da war unglücklicherweise ein Gewitter aufgezogen. Mitten im Walde war's. Nachtschwarz war der Himmel. Schwefelgelbe Blitze zuckten wie Feuerschlangen über das brüllende Meer. Krachen dröhnte aus den Lüften. Die alten Buchen ächzten und bogen sich im Gewittersturm. Regen peitschte hernieder. Unweit von den Wanderern fuhr der Blitz in einen Baumriesen und spaltete ihn in zwei Teile. Laut aufgeschrien hatte das Banghäschen. Donnern und Krachen hatte ihren Angstschrei verschlungen. Sie hatte sich an Onkel Ernst geklammert und war nicht dazu zu bewegen gewesen, weiter zu gehen. Bei dem nächsten Schritt fürchtete sie, selbst vom Blitz erschlagen zu werden. Der Onkel wußte keinen anderen Ausweg, als das verängstigte Kind in seine Arme zu nehmen, seinen triefenden Wettermantel um Suse zu schlagen und das große Mädel heimzutragen. Während Herbert tapfer nebenher stampfte und seiner Zwillingsschwester noch Mut zusprach. Er war es auch, der, als man glücklich, ohne vom Blitz getroffen zu sein, bei der sorgenden Mutter und Großmama daheim anlangte, kurz und bündig erklärte: »Die Suse nehmen wir nicht mehr mit. Solche Touren sind nur was für Männer.« Auch Onkel Ernst hatte genug von seiner Last. Nur der gute Großpapa bat für sein Mädichen. Aber die Mutter hatte zu sehr während des Gewitters um sie gesorgt. Ihr Suschen behielt sie künftig bei sich. Suse hatte allein genug von derartigen Ausflügen. Aber es kränkte sie, daß ihr Zwilling es war, der den Vorschlag machte, sie ferner zurückzulassen, daß er sich hier so leichten Herzens von ihr trennte.

Um so freudiger begrüßte sie einen Dampferausflug nach Saßnitz, an dem auch die Großmama und Mutti teilnehmen wollten. Vorn am Bug des Schiffes standen Professors Zwillinge und blickten über das endlose Meer.

»Jetzt reisen wir nach Amerika, Herbert«, sagte Suse.

»Du und nach Amerika reisen«, meinte dieser lachend. Aber als er sah, daß sein Schwesterchen ein gekränktes Gesicht machte, schlang er gutmütig den Arm um ihre Schulter. »Weißt du noch, Suse, wie wir das Ietztemal Dampfer gefahren sind? Auf der Havel war es beim Waldschulausflug, und nachher war ein gewisses Fräulein Suse verschwunden. Heute halte ich dich fest, daß du nicht wieder durchbrennen kannst.« Wirklich, der Herbert war heute wieder nett zu seinem Zwillingsschwesterchen, wie er es früher stets gewesen. Sie bewunderten gemeinsam die herrlichen weißen Kreidefelsen, welche jäh ins Meer abstürzten, auf die der Großpapa sie aufmerksam machte. Sie kletterten in Saßnitz von der Kurterrasse zu dem bergig gelegenen Ort auf Entdeckungsreisen empor, freundeten sich mit weißblonden Fischerkindern an und beobachteten ein Wasserflugzeug, das gerade wie eine Riesenmöwe sich aus dem Meer in die Lüfte schwang. Herbert war voller Bewunderung.

»Und ich muß doch noch mal fliegen!« rief er begeistert.

»Nein, Herbert, bitte, bitte nicht!« Suse hielt den Bruder krampfhaft fest, als ob er sofort die Absicht hatte, in die Lüfte zu steigen.

»Hab' keine Angst, Mädi. Unser Bubi fliegt allenfalls mal aus dem Zimmer«, neckte Onkel Ernst.

»Ist ja gar nicht wahr. In der neuen Wohnung bin ich noch kein einziges Mal rausgeflogen«, verteidigte sich der Junge.

»Weil du halt den ganzen Tag in der Waldschule draußen bist«, lachte der Onkel.

»Also was willst mal werden, Büble? Flieger?« erkundigte sich der Großpapa.

»Nee, ich werde Professor wie mein Großpapa und mein Vater«, rief Herbert, ohne zu überlegen.

»Und ich werde Frau Professor.« Suse wollte nicht hinter ihrem Zwilling zurückstehen.

»Nehmt's euch halt nur gut vor, ihr zwei beiden«, schmunzelte der alte Herr.

Während die Zwillinge sich angelegentlich mit der Schokolade und Schlagsahne beschäftigten, welche die Großeltern den Enkelchen geben ließen, hatte sich die Sonne hinter dicken, dunklen Wolkentüchern verkrochen.

»Gibt's wieder ein Gewitter?« Suse blickte mißtrauisch über das Meer, das gar nicht mehr blau aussah, sondern schwarz und drohend.

Nein, ein Gewitter gab es nicht, aber Sturm. Wie eine Schaukel flog das nach Sellin zurückgehende Schiff auf dem brandenden Meere auf und nieder.

Herrlich! Professors Zwillinge fanden das Schaukeln wunderbar. Omama und Mutter schienen anderer Meinung. Sie sahen alle beide recht bleich aus. Je weiter man sich von der Küste entfernte, um so schlimmer wurde der Sturm. Schleier flatterten, Mützen und Haare flogen. Die Großmama und Mutti mußten sich unten in der Kajüte hinlegen. Sie waren seekrank. Die Kinder waren rührend um die Mutter und Großmama bemüht. Sie hüllten sie in warme Tücher ein, brachten ihnen zur Stärkung das Kognakfläschchen von Onkel Ernst. Sie hatten ja ihrem Vater versprochen, für die Mutti in seiner Abwesenheit zu sorgen.

Aber die Damen schickten die Kinder wieder hinauf in die frische Luft, damit sie nicht auch noch etwa seekrank wurden.

Nein, die Zwillinge hielten sich tapfer. Suse hatte Herbert untergefaßt, denn ein wenig fürchtete sie sich doch, wenn das große Schiff wie ein Ball in die Luft flog.

»Ich bin kein bißchen seekrank, ich kann noch Saßnitz ganz deutlich sehen«, sagte sie stolz.

Da aber wurde sie tüchtig von Onkel Ernst ausgelacht: denn die Seekrankheit kommt nicht vom Sehen, sondern von der See.

Sie hätte doch lieber bei Mutti in der Kajüte bleiben sollen. Es wurde recht kalt auf Deck. Suse schauerte zusammen und schmiegte sich fester an Herbert. Beiden Zwillingen war die Freude über die feine Schaukel vergangen. Sie jauchzten nicht mehr, sondern wurden still und stiller. Ganz grün sahen Suses sonst so rosige Bäckchen aus. Sie vermochte nicht mehr in die Wellen zu sehen. Sie heftete ihre Blicke krampfhaft an eine dicke Wolke. Aber die segelte schnell, noch schneller als das Schiff – es wurde Suse schwarz vor den Augen und übel zumute. Onkel Ernst brachte sie zu Mutti in die Kajüte hinunter. Nun war sie doch seekrank geworden.

Und Herbert? Der wollte sich nicht ergeben, wenn ihm auch noch so elend war. Nein, ein Mann durfte nicht seekrank werden. Aber als die weißen Strandhotels von Binz auftauchten, als die Häuser an der Küste vor seinen Blicken auf und nieder schwankten, da war es trotz aller energischen Vornahmen auch um Herbert geschehen.

»'s Büble schaut gottsjämmerlich aus«, sagte der Großpapa mitleidig.

»Ja, Bubi, und du willst fliegen?« zog ihn Onkel Ernst auf. Dem armen Jungen war jetzt alles einerlei. Auf der einen Kajütenbank lag Suse, auf der anderen Herbert als getreuer Zwilling. Arm in Arm schwankten und wankten sie in Sellin ans Land.


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