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1. Kapitel. Geographiestunde

»Klinglinglingling« machte die Schulglocke. Da war die Frühstückspause zu Ende. Flinke Beine hielten mitten im Laufen auf dem Schulhof inne. Kleine Schreihälse dämpften plötzlich ihre hellen Stimmen. Ganz geschwind noch einmal vom Frühstücksbrot abgebissen, dann verschwanden die Brote in Blechbüchsen und Ledertäschchen.

»Zu zweien antreten«, rief die Lehrerin, Fräulein Giesicke, die an der Treppe heute die Aufsicht führte. Ja, Fräulein Giesicke hatte gut rufen. Immer wieder erwischte sie ein dreiblätteriges, ja sogar vierblätteriges Freundschaftskleeblatt, das sich nicht einmal auf der Treppe trennen mochte. Besonders die Mädel hingen wie die Kletten zusammen, während es den Jungen gleichgültiger war, neben wem sie gingen.

»Die nächsten schreibe ich unter Tadel.« Fräulein Giesicke war mit Recht ungehalten.

»Suse Winter, was habe ich eben gesagt? Kannst du denn nicht hören, Kind?« Die Lehrerin hielt ein kleines, etwa neunjähriges Mädchen, das, zu vieren eingehakt, gerade an ihr vorbeischlüpfen wollte, fest.

Die Braunaugen der Kleinen sahen erschreckt zu der erzürnten Lehrerin auf. Nein, die Suse, Traumsuschen, wie sie oft genannt wurde, hatte mal wieder nichts gesehen und gehört.

»Ja, ich muß dich jetzt unter Tadel ins Klassenbuch als ungehorsam schreiben, Suse Winter.«

In den braunen Augen des kleinen Mädchens begann es zu flimmern. Tränen stiegen heiß empor, und da überfluteten sie auch schon das rosige Kindergesicht.

»Meine Suse kann ja gar nichts dafür, daß wir zu vieren gehen«, rief da der kleine Junge, der sie untergeärmelt hatte, mit blitzenden blauen Augen. »Wenn wir doch Zwillinge sind! Die gehören immer zusammen. Und jeder hat einen Freund und eine Freundin, den Klaus und die Steffie, das macht vier«, erklärte er eifrig.

Um die Lippen der Lehrerin zuckte es belustigt. »Ei, Herbert, wenn du dich nicht von deiner Schwester trennen magst, dann müssen eben der Klaus und die Steffie allein zu zweit gehen. Hör' nur jetzt auf zu weinen, Suse. Diesmal werde ich dir den Tadel noch schenken«, begütigte Fräulein Giesicke.

Dankbar drückte Suse die Hand des neben ihr gehenden Bruders. »Wie gut, daß wir Zwillinge sind, Herbert«, sagte sie, die Tränen trocknend.

»Du hättest auf keinen Fall den Tadel bekommen, Suse. Dann hätte ich ihn mir geben lassen. Es kann Fräulein Giesicke doch gleich sein, wer den Tadel kriegt, du oder ich. Jungs müssen gegen Mädels immer ritterlich sein, sagt Vater.«

Damit nahmen sie ihre Plätze nebeneinander auf der Schulbank ein.

Die nächste Stunde war Geographiestunde. Die große Landkarte von Deutschland hing an der Wand. Die Klasse erhob sich. Dr. Tiedemann, der Geographielehrer, war erschienen. Er griff nach dem großen Zeigestock und fragte wie stets zu Anfang der Stunde: »Na, Kinder, wohin wollen wir heute reisen?«

»Ins Riesengebirge.« – »Nein, lieber in den Harz.« – »Nach München.« – »An der Ostsee ist's noch viel schöner.« – »Im Schwarzwald, da ist's am allerfeinsten«, überschrie einer den andern.

»Kinder, macht nicht solchen Krach – mein Trommelfell platzt.« Der Lehrer hielt sich die Ohren zu. »Ruhe – mäuschenstill! So – nun werde ich euch mal einen Vorschlag machen. Erst nehmen wir uns eine Rundreisekarte durch Deutschland und wiederholen dabei zur Klassenarbeit für die Osterzensuren. Denn wir wollen doch alle gute Zeugnisse bekommen. Und dann – ja, dann habe ich als Belohnung eine Überraschung für euch.«

»Au fein.« – »Was ist es denn?« – »Herr Tiedemann ist der allernetteste!« so schwirrte das wieder von Jungen- und Mädchenstimmen durcheinander.

Aber als der Lehrer jetzt mit dem Zeigestock gegen die Tafel klopfte, waren sie wirklich mäuschenstill. Denn alle hatten sie den netten Lehrer, der ihnen manche Freiheit ließ, dafür aber auch volle Aufmerksamkeit forderte, gern.

Und nun ging's los. Schneller als der Blitzzug fuhr der Zeigestock durch Deutschland. Jetzt war er an der Ostsee, segelte von Stettin die Oder hinab nach Breslau – hopp, ins Riesengebirge hinauf zur Elbquelle – weiter gesaust an den Rhein. Nun machte er in Köln Station.

»Welches herrliche Bauwerk wollen wir hier in Köln besuchen? Das kann uns mal die Suse Winter sagen.«

Traumsuschen fuhr empor. Es war mit seinen Gedanken im Riesengebirge, im Elbgrund, den es im letzten Sommer mit den Eltern und dem Bruder durchwandert hatte, kleben geblieben. Nun hatte es den Anschluß bei der eiligen Reise verloren. Hilflos blickte es zu dem nebensitzenden Bruder. Von dort pflegte immer Rettung zu kommen.

Suse irrte sich nicht. Herbert ließ sein Zwillingsschwesterchen nicht im Stich.

»Den Dom – Dom«, raunte er ihr zu.

»Rom«, sagte Suse erleichtert.

Unbändiges Gelächter folgte. Die Klasse wieherte vor Vergnügen, besonders die Jungen wollten nicht aufhören. Suse war ein wenig empfindlich. Die Tränen hingen schon wieder locker.

Da klopfte zum Glück Dr. Tiedemann mit dem Stock auf den Klassentisch. »Ich kann das gar nicht lustig finden,« sagte er, nachdem wieder Ruhe eingetreten war, »wenn einer vorsagt und der andere falsch versteht. Ich finde es traurig, daß ihr euren Lehrer täuschen wollt.«

Herbert machte ein bestürztes Gesicht. Er hatte doch den netten Herrn Tiedemann nicht täuschen wollen – nein, ganz gewiß nicht! »Die Suse ist doch mein Zwilling«, stieß er zu seiner Entschuldigung hervor.

»Ich wollte nur hören, was der eine Zwilling weiß, nicht, was sie alle beide zusammen wissen«, sagte Herr Tiedemann, mit dem Finger drohend. »Sonst muß ich euch beide auseinander setzen.«

»Das geht nicht«, sagten die Zwillinge wie aus einem Munde. Nein, das erschien ihnen ganz unmöglich. Hatten sie doch vom ersten Schultage an als kleine Abcschützen immer getreulich nebeneinander gesessen.

Der Zeigestock sauste weiter durch Deutschland; Suses Gedanken jetzt eifrig hinterdrein. Sie war ein fleißiges kleines Mädchen und bemühte sich, ihre Unaufmerksamkeit wieder gutzumachen.

Da gab es noch manche Entgleisung auf der Reise. Steffie verlegte Hamburg an den Rhein, und der Peter gar die Schneekoppe in den Harz. Lenchen meinte, die Wartburg sei berühmt durch Luthers Tintenfleck. Und von Wittenberg wußte der Hans nur, daß es dort besonders guten Apfelkuchen gab. Aber im ganzen konnte Herr Tiedemann mit der Klasse zufrieden sein. Sie hatten etwas gelernt.

»Nun die Belohnung – jetzt kommt die Belohnung!« riefen die Kinder, als der Zeigestock reisemüde haltmachte.

»Richtig.« – Der Lehrer rollte eine Karte, die auf dem Klassentisch lag, auseinander und hängte sie an den Landkartenständer. Darauf sah man lauter Kreise, Linien und Punkte. Viele Hunderte, große und kleine.

Die Jungen und Mädchen machten enttäuschte Gesichter. Das war doch keine Belohnung!

»Wer kann mir sagen, was diese Karte vorstellt? Nehmt mal all euren Grips zusammen, Kinder«, sagte Dr. Tiedemann.

»Das ist ein Irrgarten.« – »Das sind lauter Flüsse mit großen Schiffen und kleinen Booten.« – »Ach wo, das ist der Zoo mit großen und kleinen Tieren«, überschrie sie Rudi, der mit seinen Gedanken stets im Zoologischen Garten war.

»Immer nur einer, Kinder. Wer es weiß, der melde sich, wie es sich gehört. Bis jetzt hat es noch keiner geraten«, sagte der Lehrer.

Herbert und Suse Winter sahen sich beide an. »Das ist doch –.« »Ja, natürlich –,« und da durchbohrten auch schon beider Zeigefinger die Luft.

»Na, Suse oder Herbert, wer von euch weiß es richtig?«

»Das ist der Sternenhimmel«, riefen die Zwillinge wie aus einem Munde.

»Richtig! Es wäre ja auch eine Schmach, wenn Professor Winters Zwillinge das Handwerkszeug ihres Vaters nicht kennen würden. Habt ihr beim Vater schon solche Himmelskarten gesehen?«

»Ach, wie viele!« rief Herbert. Und Suse setzte wichtig hinzu: »Unser Vater zeichnet doch selber welche.«

»Schön. Da werdet ihr am Ende schon ganz gut da oben Bescheid wissen. Die andern Kinder in der Klasse und ich, wir wollen aber auch was vom Sternenreich kennenlernen. Darum nehmen wir uns jetzt ein Luftschiff, und hast du nicht gesehen, geht's durch die Lüfte. So – angelangt! Aussteigen, meine Herrschaften! Nun sind wir mitten im Sternenland. Da gibt's Sterne, die fest angewachsen sind, die nennt man Fixsterne. Wer weiß, welches der bekannteste Fixstern ist, um den sich alle anderen Sterne bewegen?«

»Der Abendstern.« – »Der große Bär«, rief es hier und dort, während die meisten Kinder ziemlich dumme Gesichter machten.

»Falsch! – Ei, Suse und Herbert Winter, wißt ihr es auch nicht?« Suse sah fragend auf den Bruder. Wenn der es nicht wußte, dann brauchte sie es auch nicht zu wissen. Er war ja zwei Stunden älter. Herbert dachte eifrig nach, so daß er ganz rot wurde vor Anstrengung, und sagte schließlich: »Die Sonne.«

»Hahaha – hahahaha! –« Tumultartiges Lachen folgte. Diesmal war es Herbert, der von der Klasse ausgelacht wurde. Suse blickte beschämt drein, als ob es ihr selbst gelte. Es war doch ihr Zwilling, den man auslachte.

»Hahaha! – Die Sonne – das ist doch überhaupt kein Stern, die scheint doch am Tage. Ist der Herbert aber dumm!« rief ein vorlauter kleiner Bursche.

»Seid ihr jetzt fertig mit lachen?« fragte der Lehrer. »Dann will ich euch erzählen, daß ihr euch alle selbst ausgelacht habt. Was der Herbert gesagt hat, war gar nicht dumm, sondern ganz richtig. Die Sonne ist der bekannteste Fixstern, obgleich sie am Tage scheint. Die andern Sterne scheinen auch am Tage – ja, ja, wenn ihr auch so ungläubige Gesichter macht, Kinder. Das ist kein Scherz von mir. Es ist wirklich so. Wir können die Sterne nur nicht sehen, weil das Licht der Sonne viel heller strahlt als das Licht der Sterne. Na, was willst du noch fragen, Max?« Ein tintenbeschmierter Zeigefinger hatte sich zweifelnd erhoben. Bei Herrn Tiedemann durfte man stets Fragen stellen. Der wurde nie überdrüssig, sie zu beantworten.

»Dann müßte die Sonne doch auch in der Nacht heller sein als die Sterne, so daß man die Sterne auch nachts nicht sehen könnte«, gab Max zu bedenken.

Schon wieder machte die Klasse Miene, in Lachen auszubrechen.

Aber der Lehrer bändigte zum Glück noch den Sturm. »Ilse Kunze, warum lachst du?«

»Weil die Sonne doch nachts überhaupt nicht zu sehen ist.«

»Warum ist sie nicht zu sehen?«

»Weil sie abends untergeht«, rief die Klasse wie aus einem Munde.

»Was bedeutet das, wenn wir sagen, die Sonne geht unter? Ist sie wirklich nicht mehr am Himmel?« fragte der Lehrer.

Da gingen die Meinungen wieder sehr auseinander.

»Die Sonne liegt nachts im Meer drin – ich hab's ganz deutlich gesehen, wie wir letzten Sommer in Horst waren«, rief der Klaus.

»Ist ja gar nicht wahr, ganz hinten im Wald ist sie untergegangen; der Wald sah aus, als ob er brannte«, ließ sich eine andere hören.

»Nun, Steffie, was hast du noch dazu zu sagen?«

»Hinter den Bergen ist die Sonne nachts. Im Riesengebirge konnte man das ganz deutlich sehen«, sagte das kleine Mädchen eifrig.

»Und ich war neulich mit meinem Vater in Mecklenburg, und da ist die Abendsonne in den Wiesen untergegangen«, meldete sich wieder einer.

»Ja, das ist doch eine höchst merkwürdige Geschichte, Kinder«, meinte der Lehrer lächelnd. »Der eine sagt, die Sonne sei nachts im Meer, der andere, hinter den Bergen. Die Lisbeth hat sie im Walde untergehen sehen und der Fritz in den Wiesen. Wie mag das wohl nun zusammenhängen?«

»Die Sonne geht überall unter«, sagte die Klassenerste.

»Du meinst das Richtige, Anneliese, wenn du es auch noch nicht ausdrücken kannst. Die Sonne geht nicht überall unter, sondern wir sehen sie nach unserem jeweiligen Standpunkt verschieden, bald im Meer, bald hinter den Bergen oder auch in Wald und Wiesen untergehen. Nun, was haben die Winterschen Zwillinge noch dazu zu äußern?«

Herbert und Suse renkten sich schon seit geraumer Zeit die Arme aus. Aber der Lehrer hatte mit Willen erst die Ansicht der anderen Kinder eingeholt. Da der Vater der Zwillinge Professor der Sternenkunde war, mußten die zwei ja besser Bescheid wissen als die anderen.

Wie aus einem Munde riefen sie jetzt: »Die Sonne geht überhaupt nicht unter, die steht immer am Himmel fest. Wir nennen das bloß so, weil wir sie nicht mehr sehen«, setzte Suse noch erklärend hinzu.

»Schön. Wenn ihr so schlau seid, müßt ihr uns aber noch verraten, warum wir die Sonne des Nachts nicht sehen können, wenn sie am Himmel feststeht«, verlangte Dr. Tiedemann.

Das war eine schwierige Frage. So weit gingen Suses Kenntnisse nicht. Sie erinnerte sich wohl, daß der Vater ihnen das mal erklärt hatte, aber Traumsuschen hatte wohl nicht genügend aufgepaßt.

Ob Herbert besser Bescheid wußte? Ja, Herbert meldete sich. »Weil die Erde sich dreht und der Sonne des Nachts die andere Hälfte zuwendet, auf der wir nicht sind.«

»Wie heißt denn die Erdhälfte, die des Nachts von der Sonne beschienen wird, Herbert?«

»Amerika!« Das riefen die Zwillinge wieder zusammen.

»Stimmt. Also nun wissen wir's. Die Sonne steht fest, ist also ein Fixstern. Die Erde dreht sich, daher haben wir Tag und Nacht. Wenn es bei uns Tag ist, haben die Menschen in Amerika Nacht, weil die Sonne dann unserer Erdhälfte ihr Licht zukommen läßt. Habt ihr das alle begriffen?«

»Ja – natürlich – bloß –«

»Na, was gibt's da noch für ein bloß?«

»Ist's denn in Amerika auch dunkel, wenn es dort Nacht ist?« fragte einer, der noch nicht ganz klug daraus geworden war.

»Wer will dem Hans das erklären?«

»Ich.«

»Nein, ich.«

»Also schön, unsere Erste, die Anneliese.«

»Bei Nacht ist es immer dunkel, weil die Sonne dann die andere Seite der Erde bescheint, wo es Tag ist.«

»So ist's. Nun will ich euch noch zum Schluß verraten, daß unsere Erde kein Fixstern ist, sondern ein Planet, auch Wandelstern genannt. Und jetzt seid ihr für heute klug genug, Kinder. Das nächste Mal haben wir wieder Himmelskunde. Da gehen wir dann auf Fixsterne, die man in Sternbilder einteilt, und auf Planeten näher ein. Ich bin sicher, ihr kennt schon eine ganze Menge davon. Nicht nur der Herbert und die Suse Winter. Na, Herbert, hast du immer noch etwas auf dem Herzen? Schnell, schnell – unser Luftschiff geht gleich wieder ab. Wir müssen zurück auf die Erde.«

»Unser Vater hat gesagt, es gibt ein Sternenbild bei den Fixsternen, das gehört mir und der Suse. Es heißt nach uns«, teilte Herbert wichtig mit.

»Der Tausend«, lachte der Lehrer, während die Klasse halb bewundernd, halb neidisch lauschte. »Davon ist mir ja gar nichts bekannt.«

»Die Zwillinge – das sind zwei Sterne, die immer beieinander stehen. Die gehören uns beiden und heißen nach uns«, gab Herbert Auskunft.

»Na, mein Junge, ich glaube, daß die Zwillinge am Himmel doch etwas älter sind als ihr beide hier unten. Die haben schon vor Tausenden von Jahren am Himmel gestanden, als ihr noch nicht auf der Welt wart. Aber wenn das euer Namensstern ist, dann will ich wünschen, daß es ein Glücksstern für euch bedeutet.«

Klinglingling – war das die Glocke des Luftschiffes, die zur Abfahrt läutete? Nein, es war ja bloß die Schulglocke, die den Schluß der Stunde anzeigte. Was war die Himmelskunde heute für eine hübsche Unterrichtsstunde gewesen. Die ganze Klasse freute sich schon auf die nächste Geographiestunde bei dem netten Herrn Dr. Tiedemann, wo sie wieder ins Sternenreich reisen würden.


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