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9. Kapitel. »Schuß für ewig«

Mutti stand im Erker und sah nach ihren Zwillingen aus. Der Tag war ihr, trotz mancher Arbeit, die noch vom Umzug her liegen geblieben war, endlos lang geworden. Trotz Bubis rührender Versuche, seine kleinen Freunde zu ersetzen und die Mutter zu zerstreuen. Er fing es wohl auch nicht ganz richtig an. Daß er so lange mit der Gardinenquaste spielte, bis sie abriß, daß er auf alle gehüteten Polstermöbel sprang und ruhelos vom Fenster zur Entreetür lief, immer hin und her, als warte er auf jemand, zeigte der Mutter nur noch deutlicher, daß die Kinder fehlten. Auch Lene vermochte sie nicht heiterer zu stimmen. Als sie die große Suppenterrine, die sonst für die ganze Familie reichte, auf den Tisch setzte und treuherzig meinte: »Ach Jotte doch, Frau Professern, es is doch jrade, als wenn man von 'ner Beerdijung nach Hause kommen tut.«

Das Essen wollte nicht munden. Frau Professor Winter blickte umflorten Auges von dem verwaisten Platz ihres Mannes zu den leeren der Zwillinge – hopp – da saß der vierbeinige Bubi auf dem Platz des zweibeinigen und wedelte aufmunternd mit seinem Schwänzchen.

»Du bist ein guter Kerl – wir haben's heute beide schwer, gelt?« fragte sie seufzend. Und Bubi seufzte ebenfalls und sog dabei gleich den verheißungsvollen Essensduft schnuppernd ein.

Ordentlich weh tat die ungewohnte Stille den Ohren. Die Standuhr tickte, so laut sie nur konnte. Mätzchen jubilierte im Bauer, daß man es drei Zimmer weit hörte. Und doch – die schöne neue Wohnung lag verödet. Die lärmendfrohen Kinderstimmen fehlten.

Am Nachmittag kam die erste Karte aus Italien. Ungezählte Male las sie Frau Professor Winter. Sie brachte Grüße aus Florenz. In knappen und doch so beredten Worten ließ ihr Mann sie teilnehmen an den Schönheiten der wundervollen Renaissancestadt. Heute fuhr er weiter nach Rom. Während ihre Gedanken die Entfernung zu überbrücken suchten, wurde dieselbe in Wahrheit immer größer.

Die Stunden krochen. Aber nun stand die Mutter doch im Erker – viel zu früh – und schaute die Straße hinunter bis zum Reichskanzlerplatz, von wo aus die Kinder heimkehren mußten. Ein Gedanke kam ihr, machte sich immer breiter, wollte sich nicht verdrängen lassen. Vielleicht gefiel es ihren Zwillingen nicht in der Waldschule. Dann würde sie die Kinder wieder abmelden und in eine benachbarte Schule schicken, daß sie ihre Lieblinge nur des Vormittags zu entbehren brauchte. Ja, eigentlich wünschte sie, daß es so sein möge. Um sich gleich wieder selbstsüchtig zu schelten. Es war doch viel wünschenswerter, daß die Kinder sich draußen in der guten Luft, bei der gesunden fröhlichen Kameradschaft mit Altersgenossen wohlfühlten.

Wo blieben sie nur? Schaufenster gab es doch hier draußen so gut wie gar nicht, die mit ihren verlockenden Auslagen die Heimkehr verzögern konnten.

Bogen sie dort nicht um die Ecke? Nein, es waren andere. Schließlich aber tauchte doch ein kleiner Trupp Kinder in dunklen Lodenmänteln auf. Wieder wurde das Mutterauge zweifelhaft. Einen der Zwillinge glaubte es zu erkennen – ob Herbert oder Suse, ließ sich bei der Entfernung noch nicht feststellen. Aber wo steckte denn der andere Zwilling? Die Mutter war so daran gewohnt, die zwei stets beisammen zu sehen, daß sie wiederum an eine Täuschung glaubte. Nein, diesmal war es kein Irrtum. Die Kinder kamen näher. Deutlich unterschied jetzt die Mutter zwischen zwei Mädchen und einem kleineren Jungen ihren Herbert. Um's Himmels willen, wo steckte die Suse? Es war ihr doch nichts geschehen?

Da erblickte sie auf der anderen Seite zwei sich nähernde Kinder, einen Jungen und ein Mädel. Gott sei Dank, da war ja die Suse, heil und gesund. Sie ging mit zur Erde gewandtem Kopf, gar nicht recht vergnügt schaute sie aus. Hatte es ihr in der Waldschule nicht gefallen?

Herbert hatte die Mutter erspäht. Er nickte und winkte, machte aber die auf der andern Seite gehende Schwester nicht aufmerksam. Dann stürmte er die Treppe hinauf.

Selbst Lene fiel es auf, daß die Zwillinge nicht zusammen heimkamen. »Nanu – man bloß einer?« fragte sie erstaunt. »Hast du deine Suse unterwegs verloren?«

»Nee«, machte Herbert rotwerdend und hängte seine Sachen mit ungewöhnlicher Ordnungsliebe an den Garderobenhaken, um sein verlegenes Gesicht abzuwenden.

»Na, denn habt ihr euch woll verkracht?«

Gut, daß Bubi in diesem Augenblick herausgestürzt kam und mit seinem Freudengebell Herbert einer Antwort überhob.

Inzwischen war auch Suse oben angelangt. Mutti schloß ihre Zwillinge in die Arme, als ob sie von einer Reise zurückkehrten. »Mein Bubi – mein Mädichen!« Unangenehm war nur dabei, daß sie mit jedem Arm einen Zwilling umfing. Daß die beiden, die für ewig Feinde waren, sich plötzlich an Mutters Herzen vereint fühlten.

»Na, wie war's, Kinder?«

»Famos war's – ganz famos! Beide Taschen habe ich voll Stahler und Bucker, die habe ich alle gewonnen.« Herbert klopfte sich herausfordernd auf die Hosentaschen. Auch sprach er noch lauter und lebhafter als gewöhnlich, um möglichst forsch aufzutreten. Suse sollte nicht etwa denken, daß ihm sein rasches Wort leid wäre.

Um so stiller war sein Zwilling. Sonst pflegte Suse in Herberts begeisterte Ausrufe einzustimmen, ja, ihn womöglich zu überschreien. Heute barg sie still den Kopf an Mutters Brust. Als müsse dort alles Leid vergehen.

»Na, Suschen, und du? Hat dir's nicht gefallen?« Der Mutter fiel natürlich das gedrückte Wesen des sonst so munteren Töchterchens auf.

»Doch, es ist wunderschön in der Waldschule. Die vielen Kinder und die Lehrer und das Essen, bloß –«, sie schluckte.

»Ei, Suschen, hast du am Ende gar einen Verweis oder einen Tadel bekommen?« versuchte Mutti der verdächtigen Sache auf den Grund zu kommen.

»Nee – i bewahre! Bloß die Alma und die Mistkäfer sind nicht schön in der Waldschule«, half sich Suse schnell aus der Verlegenheit. Beileibe mochte sie nicht sagen, daß die Waldschule schuld war, daß ihr Zwilling sie »treulose Tomate« genannt, daß er ihr »Schuß auf ewig« angesagt hatte.

Herbert atmete auf. Er hatte schon gefürchtet, daß Suse sich bei der Mutter beklagen könnte. Er sollte doch ihr Beschützer sein. Aber nein, das tat die Suse nicht. Die war keine Petze.

»Nun, mit der Alma wirst du auch schon Freundschaft schließen, Suschen«, tröstete inzwischen die Mutter. »Du mußt ihr nur lieb entgegenkommen. Wie es in den Wald hineinschallt, schallt es auch heraus.«

Die Zwillinge sahen sich einen Augenblick betroffen an. Nur einen Moment, um dann gleichgültig das Auge weiter wandern zu lassen. Jeder von ihnen fragte sich, ob er lieb mit dem anderen gewesen wäre.

»Ach, eine Karte von Vater!« rief Herbert da erlöst, denn Gewissensbisse zwicken unangenehm.

»Eine Karte von Vati?« Suse vergaß vor Freude über die erste Nachricht des Vaters, daß sie zu Herbert sprach. Ja, sie machte sogar einen Satz zu ihm hin, um ihm beim Lesen über die Schulter zu sehen. Mittendrin aber hielt sie erschreckt inne und wandte sich verlegen dem vierfüßigen Bubi zu.

Herbert las lange an Vaters Karte. Da stand zum Schluß ein besonderer Gruß für seine Kinder. Immer wieder mußte der Junge diese Zellen lesen.

»Meinem Bubi und meiner kleinen Mädi einen Kuß. Denken sie auch an ihr Versprechen, das sie mir bei der Abreise gegeben haben?«

Das war eine recht fatale Anfrage. Was hatte er denn nur versprochen? Genau erinnerte sich Herbert nicht mehr. Daß sie der Mutter in Abwesenheit des Vaters nur Freude machen wollten – na ja, tat er doch auch. Wieder zwickte es irgendwo in der Brust unbehaglich. Ob sich die Mutter darüber wohl freuen würde, daß er mit seiner Suse schuß war? Noch dazu für ewig! Und hatte er nicht auch versprochen, als einziger Mann im Hause der Beschützer der Frauen zu sein, vor allem Suses Beschützer in der Waldschule. Hatte er sie nicht beim Murmelspiel laufen lassen und auch beim Heimweg sich nicht um sie gekümmert? Herbert legte Vaters Karte schnell aus der Hand, als könne er damit auch die unbequemen Gedanken abtun. Die aber folgten ihm. Ob er sich mit Bubi auf der Erde herumkegelte, ob er für seinen Laubfrosch auf die Fliegenjagd ging. Ja, sogar als er seine Zuflucht bei dem eigenhändig in der Kinderstube angelegten Radio suchte. So laut die Orchestermusik ihm auch in die Ohren dröhnte, lauter war die Stimme seines Gewissens. Der leere Stuhl, auf dem Suse ihm sonst gegenüber zu sitzen pflegte, um mit ihm gemeinsam die Funkkapelle zu hören, sah ihn anklagend an. Ebenso Suses Lieblingspuppe, die Schwarzwald-Lotti. Mit ihren blauen Augen blickte sie vorwurfsvoll zu ihm herüber. Was ging denn das überhaupt die dumme Puppe an!

Inzwischen saß Suse an Muttis Seite geschmiegt auf dem kleinen Ecksofa und ließ sich liebhaben. Ach, wie wohl das tat! Muttis weiche Hand, die über ihr Haar strich, schien alles Schwere, was Suse heute belastete, fortzustreichen. Das kleine Mädchen fühlte, wie der Druck, der ihm auf dem Herzen lag, nachließ. Wie das Knäuel zurückgedämmter Tränen in der Kehle, das einen nicht frei und fröhlich sprechen und lachen ließ, wich.

Sie vermochte jetzt ausführlich von der Waldschule zu berichten. Von all den hübschen Stunden, von dem netten Fräulein Ludwig und von der Margot, von der Lisa und dem armen blassen Paulchen. Von der Wippe und dem Buddelplatz, von Türko, der aber gar nicht beißt, von den süßen Küken und von der Mamsell.

»Und ein Aquarium haben wir, Muttichen, und noch so ein Ding, mit einer Eidechse, die beinahe wie eine Schlange aussieht und mit einer Kröte drin, die aber zum Glück nicht zum Vorschein gekommen ist. Ich habe mich nur ganz wenig davor gegrault. Ich glaube, es heißt auch Aquarium.«

»Quatsch mit Soße – Terrarium heißt es!« erklang es da aus dem Nebenzimmer, von wo aus Herbert den Bericht der Schwester mit anhörte. Er pflegte immer alles besser zu wissen. Daß sie »schuß für ewig« waren, änderte nichts daran.

Suse wurde rot und wiederholte leise: »Ach ja, Terrarium.«

Mutti aber rief laut: »Warum steckst du denn da drin, Herbert? Komm doch herein! Ich habe euch doch den ganzen Tag nicht gehabt.«

»Bubi und der Laubfrosch auch nicht«, gab Herbert, dem es im Zusammensein mit seiner Suse heute unbehaglich war, gar nicht nett zur Antwort.

Suse empfand das feinfühlend. Sie schlang, um den Fehler ihres Zwillings gutzumachen, die Arme um Mutters Hals.

»Warst du doll allein, Muttichen? Ist dir sehr bange nach uns – nach mir gewesen?« verbesserte sie sich schnell. »Dann kann ich ja auch morgen bei dir bleiben.«

»Und Herbert soll allein in die Waldschule gehen? Ein Zwilling ohne den anderen? Das ist doch unmöglich.« Mutti blickte das kleine Mädchen dabei ernst an. Längst hatte sie gemerkt, daß da irgend etwas nicht stimmte. Aber sie sagte nichts weiter. Sie hatten sich ja lieb, ihre beiden, da mußten sie von selbst wieder zueinander zurückfinden.

Beim Abendbrot sah die Mutter ihre Vermutung bestätigt. Eins von den Kindern saß links von ihr, das andere rechts. Sonst ging das lustige Geplauder der zwei immer über sie hinweg. Heute war es Herbert allein, der die Kosten der Unterhaltung trug. Er sprach so viel und so lebhaft, damit man nur nicht merken sollte, wie still und gedrückt die Suse an Mutters anderer Seite saß. Die Zwillinge reichten sich nicht wie sonst den Brotkorb und das Salz zum Ei herüber, sondern machten lieber einen Bogen um den Tisch herum, um es sich selber zu holen.

Mutti blickte traurig von einem zum andern. Es tat ihr weh, daß ihre Kinder sich entzweit hatten. Daß die einzige gemeinsame Mahlzeit am Tage nicht so heiter verlief, wie sie gehofft hatte.

Auch Bubi roch Lunte. Er sprang von Herbert zur Suse und von der Schwester wieder zurück zum Bruder. Er sah jeden von ihnen erwartungsvoll bittend an, wedelte ermunternd mit dem Schwänzchen, zerrte an Suses Kleidern, blaffte dann wieder kurz den Herbert an, als wollte er sagen: »Schämt ihr euch denn gar nicht? Und das wollen Zwillinge sein!«

Nach dem Abendbrot brachte Suse als gute Puppenmutter ihre glasäugigen Kinder, die sie heute den ganzen Tag hatte vernachlässigen müssen, ins Bett. Ihr Liebling, die Schwarzwald-Lotti, sah sie dabei merkwürdig mitleidig an.

»Weißt du's schon, Lotti?« flüsterte Suse der Puppe ins Ohr. Und die Puppe klappte ihre Augenlider zu, als wolle sie von einer so schlechten Welt, in der selbst Zwillinge uneins werden konnten, nichts mehr sehen und hören.

Bald darauf sagte auch Suse der Mutter, die einen langen Brief an den Vater nach Italien schrieb, Gutenacht. Das war noch nie dagewesen, daß eins der Kinder ohne Aufforderung ins Bett ging. Schlafengehen – das betrachteten Professors Zwillinge als größten Mangel der Weltordnung. Es gab immer einen, wenn auch scherzhaften Kampf, bis sie sich bequemten, der Aufforderung, ins Bett zu gehen, Folge zu leisten. Mutti sah denn auch ihr Töchterchen, das den braunen Kopf zum Gutenachtsagen zärtlich an den ihren preßte, prüfend an. Es war doch nicht etwa krank? Nein, die Stirn war kühl, wenn auch die sonst so klaren Braunaugen etwas trübe dreinblickten.

Herbert saß bei seinen Klebarbeiten, bei denen Suse ihm sonst so gern half. Er hob den Kopf nicht, als sie unwillkürlich ihren Schritt einen Augenblick an seinem Platz hemmte. Aber da der Bruder gar keine Notiz von ihr nahm, als ob sie niemals mit ihrer kleinen Schere die zierlichen Häuser, Kirchen und Gartenanlagen ausgeschnitten habe, zog sie traurig weiter.

Gut, daß sie jetzt während Vaters Abwesenheit bei Mutti im Schlafzimmer schlief. Die Tür zur Kinderstube blieb freilich offen. Was gaben sie sonst beim Schlafengehen an, die beiden. Das war ein Lachen und ein Juchhei, daß Mutter manches Mal die Ausgelassenheit dämpfen mußte.

O Gott, war das heute still hier. Beinahe unheimlich. Das verhangene Licht der Ampel ließ überall Schatten in den Ecken und Winkeln erstehen. Noch nie war Suse in der neuen Wohnung allein schlafen gegangen. Das Häschen begann sich zu fürchten. Knisterte es da nicht in der Ecke? Lief da nicht irgend etwas über den Fußboden?

Flink abgeseift und ins Bett, daß sie nichts mehr sah und hörte. So, nun noch das Nachtgebet. Aber das wollte gar nicht so recht über die Lippen. »Hab' ich Unrecht heut getan –«, da stockte sie. Sie begann sich zu prüfen. Hatte sie nicht unrecht gehandelt, daß sie gleich beleidigt gewesen und fortgelaufen war von dem gemeinsamen Spiel? Und hätte sie nicht erst mit dem Bruder, wie sonst stets, beraten müssen, ehe sie sich zur Übernahme eines Pflegebeetes gemeldet hätte? Sicher, sie hatte nicht nett gegen Herbert gehandelt, und es war ihr ganz recht, daß er sie »treulose Tomate« nannte, daß ihr Zwilling nichts mehr von ihr wissen wollte.

Tränen netzten das Kopfkissen. Bis plötzlich blendend heller Schein ihre Augen traf. Er kam vom Fenster. Sie hatte vergessen, den Vorhang zuzuziehen. Aha, das im Kreise herumlaufende Licht an dem Funkturm. Jeden Abend hatte sie den Scheinwerfer gemeinsam mit Herbert bewundert. Ach, und da war ja auch der große Bär. Drüben über dem Haus, in dem die Lichtschen Kinder wohnten, stand er und blinzelte mit seinen Strahlenaugen merkwürdig erstaunt herunter. Sicher wunderte er sich, nur einen von Professors Zwillingen zu erblicken.

Ob das wirklich wahr war, daß Vater in Italien den großen Bär auch sehen konnte? Suse vermochte es sich bei der großen Entfernung kaum vorzustellen. Aber Vater mußte es ja besser wissen, denn er war ja Sternenprofessor. Früher konnten die Leute aus den Sternen allerlei deuten, hatte ihnen der Lehrer in der Schule mal erzählt. Ob Vater am Ende aus dem großen Bär ersah, daß seine Kinder, die ihm Freude machen sollten, »schuß für ewig« miteinander waren?

Wieder flossen die Tränen. Bis eine Tür nebenan knarrte und Lichtschein aus der Kinderstube ins Schlafzimmer fiel. Dem Herbert hatte seine Kleberei ohne die Schwester auch keine rechte Freude bereitet. Unaufgefordert hatte er zusammengepackt und Gutenacht gesagt.

Suse stopfte das Deckbett gegen den Mund, um sich nicht durch ihr Schluchzen zu verraten. Auch dem Bruder war es eigentümlich zumute. Im Puppenwinkel schlief alles. Für den Laubfrosch war es bereits Mitternacht. Mätzchen hatte das Köpfchen unter die Flügel gesteckt und schlummerte. Suse hatte vergessen, ihn zuzudecken. Auch Bubi, der eben erst in sein Körbchen gesprungen, schnarchte sofort. Ob die Suse auch schon schlief?

Sollte er mal ganz leise auf den Zehenspitzen an ihr Bett schleichen? Aber wenn sie noch munter war? Nein, das vertrug sich mit seiner Jungenehre nicht.

Um nur nicht wieder auf solch einen Gedanken zu kommen, machte er, daß er ins Bett kam. Ja, aber das Einschlafen war nicht so einfach. Merkwürdig, daß man im Dunkeln immer sein Unrecht fühlt, wenn man sich vorher auch noch so großartig vorkommt. Wie häßlich hatte er sich heute gegen sein Schwesterchen benommen. Gar nicht wie ein Bruder, noch viel weniger wie ein Zwilling. Morgen wollte er der Suse sagen, daß er nur schuß auf drei Tage mit ihr sein wollte – das war auch lange genug.

Da – ein Schluchzen, ein ganz leises, unterdrücktes aus dem Nebenzimmer. Aber Herbert hatte es aufgefangen. Da gab es gar keine Überlegung, keine Jungenehre mehr – seine Suse weinte – sie weinte seinetwegen. Auch Herberts Tränen begannen zu fließen, trotzdem er ein Mann war. Wie der Wind war er aus dem Bett. Und da im gleichen Augenblick – denn sie war ja sein Zwilling – auch die Suse den Entschluß gefaßt hatte, den Bruder zu bitten, doch nicht mehr böse mit ihr zu sein, so trafen sich plötzlich auf der Schwelle zwei weinende kleine Hemdenmätze. Ihre Tränen mischten sich. In einem Versöhnungskuß fanden die entzweiten Zwillinge wieder zueinander.

Am samtdunklen Nachthimmel aber stand der große Bär und segelte eilig weiter gen Süden, um dem fernen Vater zu erzählen, was er in der Kinderstube erschaut.


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