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15. Kapitel. Schulausflug

Der Rosenmonat war ins Land gezogen, überall hatte er seine duftenden Gaben ausgeschüttet, selbst zwischen den hohen Steinhäusern der großen Stadt. Es blühte und duftete allenthalben. Rosen – Rosen, wohin man auch sah.

Mit der Waldschule hatte es der Rosenmonat ganz besonders gut gemeint. War das ein Blühen da draußen. Schier endlos. Lehrer- und Kinderbeete wetteiferten miteinander. Jeder Morgen brachte neue Rosenpracht. Man ging auf einem rosenroten Blumenteppich. Die Luft, die sonst nur Kiefernduft ausströmte, war durchtränkt vom süßen Rosenhauch.

Bienen summten geschäftig. Kinder liefen noch geschäftiger umher. Rosen blühten auch auf einst bleichen Kinderwangen. Sie waren heute in großer Aufregung, die Waldschulkinder. Herr Fürst und Fräulein Ludwig wollten mit ihnen einen Tagesausflug machen – nach Schildhorn, nach Wannsee und der Pfaueninsel ging es, hurra!

War das ein Durcheinander, bis die ganze Gesellschaft, wohlgefüllte Rucksäcke auf dem Rücken, loszog. Professors Zwillinge mit Lisa, Margot und Paul, mit Klaus, Kurt, Traudchen und Mulle zur langen Kette eingehakt, marschierten voran. Herr Fürst neben ihnen. Er hatte die Führung übernommen.

»Das Wandern ist des Müllers Lust« – so klang es wanderfroh aus jungen Kehlen.

Am Teufelssee machte der Lehrer die Kinder auf die Wasserwerke aufmerksam, welche die Stadt Charlottenburg mit Wasser versorgen. Singend ging es weiter durch den grünen, harzduftenden Wald. Die Vöglein in den Zweigen hielten im Musizieren inne und äugten neugierig auf die vorübermarschierenden kleinen Sänger herab. Die Waldblumen am Wege reckten die Köpfe aus dem Moos, um etwas zu erspähen. Die Glockenblumen läuteten, ganz fein, ganz zart und fein. Aber keiner von den Kindern hörte das. Sie machten selbst viel zu viel Lärm. Nur ein kleines Mädchen, das abseits Blumen zu einem Strauß wand, vernahm das leise Klingen der Blumenglocken.

An Baumschulen ging es vorbei, wo winzige Tannen ihre Kinderstube hatten. Waren die niedlich, die kleinen Babytannen. Schmetterlinge umgaukelten die blonden und braunen Kinderköpfe.

Herbert schwang unternehmungslustig sein Schmetterlingsnetz. Er hatte die grüne Botanisiertrommel an der Seite. Darin krabbelte schon allerlei Waldgetier durcheinander. Eine wundervolle, grünblau glitzernde Libelle, die er gefangen, war sein höchster Stolz. Jeder mußte sie bewundern, vor allem Suse.

Die aber schaute das schöne Tierchen mitleidig an. »Gib ihm doch seine Freiheit wieder, Herbert. Du zerdrückst die zarten Flügel da drin in der Botanisiertrommel. Sieh nur, wie verängstigt das arme Tier ist«, bat sie.

»Du bist wohl ein bißchen –.« Er tippte mit einer nicht mißzuverstehenden Bewegung gegen die Stirn. »Dieses Prachtexemplar von Libelle – das wird der Stolz meiner ganzen Sammlung.« Klapp – da flog die grüne Klappe der Botanisiertrommel wieder zu und ließ die armen Bewohner derselben im Stockdunkeln.

Auf einer Anhöhe der Havelberge, »das große Fenster« genannt, weil man von dort einen besonders schönen Blick auf die silberne Havel bis Spandau hin hat, wurde gelagert.

»Rucksäcke ab – Stullen heraus!« kommandierte Herr Fürst.

Das ließen sie sich nicht zweimal sagen, die Waldschulkinder. Die Münder, die bisher vor Lachen, Schwatzen und Singen nicht stillgestanden, wurden jetzt fleißig zum Futtern gebraucht. Wohltuende Stille herrschte. Aber nicht lange. Dann setzten die Plappermäulchen mit doppelter Kraft wieder ein.

Paul lag neben Herbert und Suse im Gras. Er trug keinen Rucksack. Er holte keine Brote vor. Still sah er zu, wie die anderen es sich schmecken ließen.

»Hast du denn keinen Hunger, Paul?« erkundigte sich Suse verwundert.

Paul wurde rot und schüttelte stumm den Kopf.

Das erschien der Suse merkwürdig. »Nimm eine Stulle von mir, Paul«, sagte sie gutherzig. »Unsere Lene hat Landbrot und Schinken aus ihrer Heimat mitgebracht. Ihr Vater war doch krank, aber nun ist er wieder gesund. Du mußt mal kosten, wie fein solche Landbrotstulle schmeckt.« Sie hielt dem Jungen eine verlockende Schnitte hin.

Der streckte die Hand aus, wandte aber trotzdem noch ein: »Dann hast du nicht genug, Suse.«

»Ach, ich habe so viel mit. Eier und Schokolade und Obst. Du kannst die Stulle ruhig nehmen.«

Da biß der Paul auch schon gierig in das Schinkenbrot hinein. Man sah ordentlich, wie verhungert er war.

»Du, Paul, warum hat dir denn deine Mutter nichts mitgegeben?« fragte Suse, ihn beobachtend.

Der Junge schwankte, ob er antworten sollte. Aber als er Suses braune Augen voll Teilnahme auf sich gerichtet fühlte, sagte er leise: »Mutter hat augenblicklich keine Arbeit. Und weil wir sonst doch immer in der Waldschule Essen kriegen, dachte ich –.« Er vollendete den Satz nicht. Aber Suse verstand ihn. Paul hatte gehofft, sie würden Proviant aus der Waldschule mitbekommen. Und nun war er zu stolz, etwas zu sagen. Lieber hungerte er.

Sie gab dem neben ihr sitzenden Bruder, der nichts von der Unterhaltung gehört hatte, denn er war ganz von einer Ameisenstraße, die unweit seines Platzes entlangging, in Anspruch genommen, einen schwesterlichen Rippenstoß.

»Du, Herbert, der Paul hungert –«, flüsterte sie ihm leise ins Ohr.

Herbert wandte seine Augen nicht von den geschäftig ihre Straße ziehenden schwarzen Tierchen. »Dann soll er doch essen«, sagte er gleichmütig.

»Er hat doch nichts, der arme Junge.« Das klang so traurig, daß Herbert nun doch den Blick von den Ameisen zu Paul wandern ließ. Gerade in dem Augenblick, als Paul den letzten Bissen von Suses Schinkenstulle in den Mund schob.

»Na, dem schmeckt's doch ganz gut.« Die Ameisen waren Herbert entschieden wichtiger.

Suse untersuchte ihren Futtersack. Ein Ei war noch drin, mehrere Brote, ein Apfel und ein Stück Schokolade. Aber das sollte bis zum Abend ausreichen. Ganz gleich, sie mußte mit dem Freund teilen.

Das Ei bestimmte sie für Paul, dem war das entschieden nötiger als ihr. Sie erhielt ja jeden Abend daheim ein Ei. Die Brote, die Schokolade, alles wurde in zwei Teile geteilt. Nur der Apfel ließ sich nicht durchbrechen. Aber Herbert hatte ja ein kleines Taschenmesser.

»Die Suse, das ist eine verständige kleine Hausfrau«, sagte Fräulein Ludwig, die auf Suses merkwürdiges Gebaren aufmerksam wurde. »Die teilt sich ihren Proviant für den Tag ein. Ihr anderen futtert am liebsten alles auf einmal auf.«

»Mamsell hat ja noch Reservestullen mitgegeben«, rief eins der Kinder.

»Ei, seht mal an, wie schlau ihr doch seid. Die sind für Herrn Fürst und für mich«, lachte Fräulein Ludwig. »Aber vielleicht lassen wir euch großmütig noch etwas übrig. Besonders hungrige Seelen dürfen sich an uns wenden.«

Suse schob Paul seine Provianthälfte zu. »Das ist für dich, Paul.«

»Nein, Suse, ich esse dir nicht alles fort.« Paul schüttelte möglichst energisch den Kopf.

»Dann sage Fräulein Ludwig, daß du nichts zu essen mitgenommen hast.«

Aber davon wollte Paul noch weniger hören. Er schämte sich. »Ich bin überhaupt schon ganz satt«, behauptete er. Trotzdem ließ er sich das Ei, das Suse ihm einfach in die Tasche schob, dankbar schmecken.

Man spielte »Dritten abschlagen«, »Verwechsle, verwechsle das Bäumchen« und »Faules Ei«. Das war ein Lachen, Kreischen und Juchzen im grünen Wald.

Beim Weiterwandern schlang Suse den Arm um ihren Zwilling. »Du, Herbert, Zwillinge müssen doch alles miteinander teilen, nicht wahr?«

»Hm«, machte der Bruder. Er wußte noch nicht recht, wo es hinaus sollte.

»Du, dann mußt du dem armen, hungrigen Paulchen auch was aus deinem Rucksack abgeben. Ja?«

»Paul ist doch nicht mein Zwilling.«

»Nee, aber ich. Und ich habe schon alles mit ihm geteilt. Seine Mutter hat keine Arbeit. Und Stullen hat er überhaupt nicht mit, der arme Junge.« Suses Braunaugen standen voll Tränen.

Auch Herbert fühlte Mitleid mit Paul. »Ich würde ihm gern was von mir geben, Suse, aber – ich habe schon alles aufgefuttert«, sagte er schließlich ein bißchen beschämt. »Wir wollen es doch Fräulein Ludwig sagen.«

»Das ist dem Paul sicher nicht recht, Herbert.«

»Wenn Fräulein Ludwig doch aber Reservestullen mit hat. Die Alma und der Mulle haben schon was von ihr bekommen, und die sind dick und fett genug. Ich bitte sie.« Energisch, wie er alles anpackte, wollte er seine Worte sogleich in die Tat umsetzen. Suse hielt ihn zurück.

»Vorläufig habe ich noch etwas im Rucksack –«

»Und nachher haben die anderen alles weggeschnappt.« Ganz ärgerlich war der Herbert auf seine schüchterne Schwester.

Fräulein Ludwig hatte die beiden beobachtet. Sie mochte die netten Kinder besonders gern. »Ei, sind unsere beiden Unzertrennlichen heute nicht ein Herz und eine Seele?« fragte sie lächelnd.

»Doch – natürlich – bloß die Suse –«

»Nicht doch, Herbert.« Suse hielt ihm den Mund zu.

»Ei, Suse, wir sind doch gute Freunde, denke ich. Hast du kein Vertrauen zu mir?« Fräulein Ludwig nahm den Arm des kleinen Mädchens.

Da sah Suse ein, wie lächerlich ihre Scheu war. Sie erzählte Fräulein Ludwig, die es doch so gut mit ihnen meinte, rückhaltlos alles von Paul.

Als sie geendet, sagte die Lehrerin ernst: »Was seid ihr für dumme Kinder, daß ihr aus falscher Scham oder Schüchternheit nicht gleich zu mir gekommen seid. Mamsell hat genug eingepackt, daß noch ein Dutzend satt werden können. Auch für Pauls Mutter will ich mich verwenden, daß man ihr wieder Arbeit verschafft.«

Wie froh war die Suse darüber. Sie mußte es gleich ihrem kleinen Freunde, den Fräulein Ludwig inzwischen mit Broten versorgte, mitteilen.

An der Havel ging es entlang. Die Jungen blieben öfters zurück, um Frösche und Kaulquappen zu fangen. Die Mädel, um Erdbeeren zu suchen oder Blumen zu pflücken.

»Nicht zurückbleiben, Kinder. Vorwärts – vorwärts!« rief Fräulein Ludwig. »Das Blumenpflücken hat noch keinen Sinn. Die Sträuße welken bis zur Heimfahrt in der heißen Hand. Oder ihr werdet ihrer gar überdrüssig und werft sie fort. Denkt daran, daß jede Blume eine Seele hat, die ihr nicht mutwillig zerstören dürft.«

Erschreckt blickte Suse auf den Waldstrauß in ihrer Hand. Wirklich – Fräulein Ludwig hatte recht. Vergißmeinnicht, Gänseblümchen, Löwenmaul, Wiesenschaumkraut und Himmelsschlüsselchen hingen bereits matt die Köpfe.

In Wannsee war Mittagsrast. In einem netten, am See gelegenen Gartenlokal saßen die Waldschulkinder an langen Tafeln. Sie bekamen Milch oder Limonade zur Erquickung. Es war doch gut, daß Mamsell so viele Reservebrote mitgegeben hatte. Das Wandern machte Appetit. Auch Paul ließ es sich schmecken. Dann kam das Schönste. Eine Überraschung, von der Herr Fürst vorher noch nichts verraten hatte. Sie durften mit dem Dampfer fahren. Jubelnd wurde das große, Wasserschaum aufwirbelnde Dampfschiff von den Kindern begrüßt.

»Langsam, Kinder – ihr kommt alle mit, nicht drängen!« An der Schiffsbrücke stauten sich die Scharen.

»Herbert« – gellte es plötzlich voller Angst. Suse, die immer ein wenig verträumt war, hatte nicht acht gehabt, wohin sie trat. Statt auf die Dampferbrücke war sie nebenbei getreten. Mit einem Fuß hing sie über dem Wannsee und schrie wie am Spieß.

Herbert, der bereits auf dem Dampfer war, machte Miene, die Jacke abzuwerfen und ins Wasser zu springen, um seinen Zwilling zu erretten. Da aber fühlte sich Suse schon gepackt. Von einer Seite zog Paul, von der anderen die Alma. Aber sie hatten nicht genug Kraft, die beiden. Erst als der Schiffsjunge zusprang, gelang es, die zwischen Himmel und Wasser schwebende Suse wieder emporzuziehen.

Ganz blaß sah die Suse vor Schreck aus. Herbert umarmte und streichelte sie, als ob sie ihm neu geschenkt sei. Alma und Paul erhielten von Herrn Fürst die Rettungsmedaille in Form einer Tafel Schokolade. Suse aber eine Ermahnung, künftig vorsichtiger und aufmerksamer zu sein.

Sie reichte der gegenübersitzenden Alma dankbar die Hand. Sie waren jetzt gut Freund miteinander.

Die Wasserfahrt war wundervoll. Wie lustig die Wellen schäumten und spritzten. So klar war das blaue Wasser, daß man beinahe die Nixen unten auf dem Grunde sehen konnte.

Herr Fürst zeigte den Kindern, wo die Havel den Wannsee bildete. Er machte sie auf den Kaiser-Wilhelms-Turm aufmerksam und auf die Insel Schwanenwerder. An der Pfaueninsel legte man an. Diesmal behielt Fräulein Ludwig die Suse beim Verlassen des Dampfers an der Hand. Im Falle es sie wieder nach einem kalten Bade gelüsten sollte. Mit der Fähre wurden sie übergesetzt.

War das herrlich auf der Pfaueninsel! Erst wurde das Schlößchen bewundert; dann der Park durchstreift. Aber die Pfauen, der Hauptanziehungspunkt für die Kinder, wollten sich nicht sehen lassen.

Plötzlich hörten Professors Zwillinge dicht neben sich merkwürdiges Schreien, hoch und schrill. Suse packte ängstlich Herberts Arm. Der aber spähte angelegentlich durch das Gebüsch.

»Da sind die Pfauen, Suse. Leise, daß wir sie nicht verscheuchen. Au, ist der fein, der wundervolle, grünblaue Federfächer. Wie er in der Sonne flimmert. Er ist beinahe so schön wie meine Libelle.«

»Der Pfau schlägt ein Rad, Herbert«, erklärte ihm der Lehrer. »Sieh nur, wie eitel er ist, wie er sich dreht und wendet. Die Weibchen haben nicht solch ein schönes Gefieder. Die sind unansehnlich. Diesmal sind die Männchen die eitlen Gesellen«, scherzte er.

Die Kinder begannen die Pfauen zu füttern. Sie waren zahm und kamen dicht heran. Das war Suse höchst unsympathisch. Lieber pflückte sie inzwischen Blumen. Ihren Strauß hatte sie bei der Rutschpartie von der Dampferbrücke verloren.

Oh, standen hier wunderbare Blumen. Niemals hatte Suse so schöne gesehen. Ganz große, tiefblaue Vergißmeinnicht. Das wurde ein herrlicher Strauß für Mutti. Immer noch schönere, Stiefmütterchen, ja sogar noch Maiblumen. Suse konnte nicht aufhören zu pflücken. Sie achtete nicht darauf, daß sie sich dabei immer weiter von den Gefährten entfernte. Die ganze Insel hatte das kleine Mädchen, ohne es zu wissen, beim Blumensammeln durchquert. Suse befand sich auf der anderen Seite der Insel. Sie war erhitzt und müde. Die Nachmittagssonne brannte heiß.

Ach, hier am Wasser unter der großen Linde war es kühl und schattig. Hier wollte sie ein bißchen ausruhen und ihren Strauß ordnen, bis die anderen nachkamen. Sicherlich mußten sie hier vorbei, wenn sie zur Fähre zurückgingen. Die Linde war ja unweit des Ufers.

Die kleine, dumme Suse dachte nicht daran, daß sie sich auf einer Insel befand und daß dieselbe von allen Seiten von Wasser umgeben ist. Sie glaubte, wo Wasser ist, müsse auch die Fähre sein. Dabei befand sich dieselbe in entgegengesetzter Richtung.

Nachdem sie den Moosboden genau untersucht hatte, ob auch nirgends Ameisen herumkrabbelten, schmiegte sie sich in das grüne Moosbettchen. Tat das gut nach dem heißen Tage. Suse blinzelte in das von Sonnenstrahlen durchflimmerte grüne Lindenhaus. Da gab es ja schon Lindenblüten. In Goldbüscheln hingen sie über Suses Haupt, süßen betäubenden Duft ausatmend. Ehe das kleine Mädchen noch sich dazu aufraffen konnte, den Strauß zu ordnen, schlossen sich die blinzelnden Braunaugen. Suse war eingeschlafen.

Keiner vermißte sie. Die Kinder waren von den wundervollen zahmen Pfauen so stark in Anspruch genommen, daß keiner auf den andern achtete. Erst als Herr Fürst zum Aufbruch blies, da man den Dampfer nach Potsdam erreichen wollte, fragte Herbert wie gewöhnlich: »Wo ist denn Suse?«

»Die ist schon mit Paul und Margot vorausgegangen«, sagte Lisa. »Ich habe ihr rotweißgepunktetes Kleid gesehen.« Sie dachte nicht daran, daß noch mehrere Kinder ähnliche Kleider trugen.

Man kam gerade noch rechtzeitig zum Abgang des Dampfers. Der Lehrer löste schnell Fahrkarten für die ganze Gesellschaft, während die Gören bereits verladen wurden.

»Tu–u–ut«, machte das Dampfschiff und setzte sich in Bewegung.

»So, da haben wir noch mal Glück gehabt«, sagte Herr Fürst, sich die feuchte Stirn wischend. »Seid ihr auch alle da?«

»Ja, natürlich!« schrien die Kinder.

»Auch unsere kleine Wassernixe? Diesmal ist sie hoffentlich nicht wieder von der Landungsbrücke abgerutscht«, sagte Fräulein Ludwig.

»Wo ist denn die Suse?« fragte Paul, nach seiner kleinen Freundin Umschau haltend.

Herbert lief bereits das ganze Dampferdeck auf und ab – wo steckte denn bloß sein Zwilling?

»Paul – Margot, die Suse war doch bei euch – sie ist doch mit dem Dampfer mitgekommen?« Herbert bekam es plötzlich mit der Angst.

»Nee, bei uns war sie nicht. Wir haben sie überhaupt nicht gesehen«, sagten die erschreckt.

»Herr Kapitän – Herr Kapitän – halten Sie!« schrie Herbert aus Leibeskräften in das Surren, Brausen und Schnaufen der Schiffsmaschine hinein. »Meine Schwester ist nicht da – wir müssen umkehren!« Seine Stimme wurde von dem Rauschen des Wassers, von dem Arbeiten der Maschine übertönt. Unbekümmert um die Aufregung des Jungen zog der Dampfer seine silberne Bahn.

»Suse Winter ist nicht da – die Suse ist verloren gegangen!« Von Mund zu Mund pflanzte sich die Schreckenskunde fort. Erst scheu und heimlich, dann laut, immer lauter.

»Was ist denn los, Kinder, was habt ihr denn?« Fräulein Ludwig wurde aufmerksam.

»Die Suse Winter ist weg!« Wie aus einem Munde gellte es der erschreckten Lehrerin entgegen.

»Meine Suse ist verloren gegangen – halt, Herr Kapitän, halt!« Eine weinende Jungenstimme übertönte die anderen.

»Das ist ja gar nicht möglich. Es war kein Kind mehr an der Dampferanlegestelle. Ich habe mich umgesehen«, stellte Herr Fürst fest.

»Das Kind wird doch nicht wieder ins Wasser gefallen sein?« fragte Fräulein Ludwig entsetzt. Schwer fiel es ihr aufs Herz, daß sie vorhin damit ihren Scherz getrieben hatte.

»Das hätte bemerkt werden müssen.« Herr Fürst verlor seine Ruhe nicht. Ich glaube eher, daß sie sich in der Kajüte oder im Maschinenraum versteckt hat. Sucht nur mal.«

»Das tut meine Suse nicht. Da hat sie viel zu große Angst«, schluchzte Herbert. Er dachte nicht daran, daß ein Sextaner nicht mehr weinen durfte. Seine Suse war weg – unaufhaltsam flossen die Tränen aus den blauen Jungenaugen.

»Suse Winter – – –!« Herr Fürst rief es mit erhobener Stimme. »Suse Winter – Suse – – –!« fiel der ganze Kinderchor angstvoll ein.

Vergebens. Suses braunes, kurzgeschorenes Köpfchen über dem rotweißgepunkteten Musselinkleid tauchte nirgends auf. Nur ein paar angeheiterte Studenten, die sich auf dem Dampfer befanden, begannen mit lauten Bierstimmen lachend zu singen: »Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh?«

Herr Fürst überlegte. Passiert konnte der Suse kaum etwas sein. »Wo habt ihr sie zuletzt gesehen?« forschte er.

»Bei den Pfauen« – »nee, an der Fähre« – »ich glaube, an der Dampferanlegestelle war sie auch noch« – – die Ansichten gingen auseinander.

Herr Fürst sprach leise mit der verängstigten Lehrerin. So ruhig, wie er sich den Anschein gab, war er schließlich auch nicht. Er hatte doch die Verantwortung für die Kinder. »Es hilft nichts, wir müssen umkehren. Die Kleine ist sicher zurückgeblieben und befindet sich noch auf der Pfaueninsel.« Er wandte sich an den Kapitän.

Der schob seine blaue Mütze in den Nacken und kratzte sich den sonnenverbrannten Schädel. »Umkehren, das ist nicht möglich, Herr. Ich muß meinen Kurs steuern. Das einzige, was ich tun kann, ist, daß wir in Moorlake, wo wir sonst nur Sonntags halten, anlegen. Von da müssen Sie zu Fuß zurück.«

Das war eine schlimme Geschichte. Die Kinder, die heute schon tüchtig marschiert waren, schienen müde, waren von der Hitze des Tages und von der Aufregung erschöpft.

»Ich denke, das beste ist, Fräulein Ludwig, Sie fahren mit den Kindern ruhig weiter nach Potsdam und von dort, wie geplant, mit der Eisenbahn nach Berlin zurück. Ich werde mit Herbert und einigen größeren Jungen nach der Pfaueninsel zurückgehen und die kleine Ausreißerin dort in Empfang nehmen«, überlegte Herr Fürst.

Aber davon wollten weder Fräulein Ludwig noch die Waldschulkinder etwas hören. Ohne die Suse Winter, die sie alle gern hatten, nach Hause fahren – ausgeschlossen. Keiner fühlte mehr Müdigkeit. Alle, vor allem Paul und Alma, baten Herrn Fürst, sich an dem Nachforschen nach der verlorengegangenen Suse beteiligen zu dürfen.

»Also meinetwegen«, sagte dieser schließlich. »Es ist mir auch lieber, wir bleiben zusammen. Herbert, Junge, höre auf zu heulen. Es kann deiner Schwester nichts auf der Pfaueninsel passieren.«

»Doch, die Pfauen, die großen Pfauen! Suse hat bestimmt dolle Angst vor ihnen. Am Ende fällt sie sogar noch ins Wasser vor lauter Angst. Meine arme Suse!« So jammerte Herbert um seinen verlorenen Zwilling.


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