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16. Kapitel. Über'n großen Teich.

Am Weihnachtsabend unter dem schneeigen Lichterbaum war Ursel Hartenstein Braut. Neben ihr stand Milton Tavares und empfand den Zauber deutscher Weihnacht, der zum letzten Male die, welche er in sein Sonnenland entführen wollte, umwebte.

Kämpfe hatte es gekostet, bis das Professorenhaus sich dem brasilianischen Schwiegersohne öffnete. Harte Kämpfe. Wie stets, wenn es zu vermitteln und auszugleichen gab, wenn es galt, den Kindern Schweres abzunehmen, hatte die Mutter die Mission, dem Vater Ursels Wahl mitzuteilen und ihn derselben geneigt zu machen. Das waren böse Stunden gewesen. Zum erstenmal in ihrer Ehe verlor Rudolf Hartenstein seine Ruhe. Mehr, als er je gezeigt, hing er an seinem Nestküken, dem Ebenbilde seiner Annemarie. Und nun kam da irgendein brasilianischer Kaffeeprinz, der glaubte, sich alles hier in Deutschland für sein Geld leisten zu können, und wollte ihm sein Kind aus dem Heimatboden reißen. Aber so einfach ging das doch nicht. Da hatte er als Vater auch noch ein Wort mitzusprechen. Unreif und kindisch war Ursel, konnte sich der Tragweite ihres Schrittes noch gar nicht bewußt werden. Von der Bank war sie fortgelaufen, wollte durchaus Gesang studieren und zur Oper. Und jetzt hatte sie auch davon bereits wieder genug. Nun stand ihr Sinn gar nach Brasilien. Unbeständig und wankelmütig in ihren Entschlüssen – wie sollte da feste Treue, unwandelbare Liebe, die allein ihr das fremde Land zur Heimat machen konnten, Wurzel schlagen! Kaum hatte sie die erste Stufe der Kunst erklommen, da war sie derselben schon wieder überdrüssig. Wer sagte ihm, ob es nicht mit ihrer Liebe zu dem Brasilianer genau so gehen würde. Er gab seine Einwilligung zu diesem Bündnis nicht. Er hatte die Verpflichtung als Vater, sein Kind unter solchen Voraussetzungen nicht in die weite Welt hinaus zu lassen. In zweieinhalb Jahren war sie mündig. Dann konnte sie tun und lassen, was sie wollte. War ihre und seine Liebe stark genug, um Zeit und Trennung zu überdauern, nun gut, dann mochte sie dem Brasilianer über den Ozean folgen. Inzwischen hatte sie ja ihre Kunst. Was man einmal begonnen hat, sollte man auch fortführen. Nicht auf halbem Wege stehenbleiben.

Das war der Bescheid, der Frau Annemarie, die mit wehem Herzen ihrem Manne die Eröffnung gemacht, wurde. Sie ließ ihn ruhig auspoltern, nur ab und zu streichelte sie ihm beruhigend die Hand. Doppelt litt sie, fühlte sie doch auch den Schmerz, den sie ihm zufügte, in verstärktem Maße. Dann aber sprach sie begütigende Worte. Sie, die mit allen Fasern ihr Kind in der Heimat hätte halten mögen, ward sein beredter Fürsprecher. Gegen sich selbst, gegen ihr Herz mußte sie sprechen. Aber sie tat es mit einer Selbstentäußerung, wie es nur eine Mutter vermag.

»Hm – du sagst, die letzten Wochen des Zwiespalts und der Kämpfe hätten Ursel gereift, hätten ihre Liebe erstarken und reifen lassen. Schön. Wer gibt uns aber die Garantie, daß dieser junge Herr aus Brasilien nicht halt einer flüchtigen Laune nur folgt, daß seine Liebe zu ihr fest genug ist, um für das ganze Leben standzuhalten?«

»Er ist ein prächtiger Mensch mit warmem Herzen und unserer Ursel würdig, Rudi«, entgegnete Frau Annemarie voller Überzeugung.

»Es ist ein anderer Volksstamm, Kind, anderes Land, andere Sitten, andere Veranlagungen und Gefühle. Heute brennen sie lichterloh, morgen wissen sie nimmer was davon. Wer bürgt uns für das Glück unseres Kindes?«

»Der da oben«, sagte Annemarie leise. »Der, welcher sie auch im fernen Lande schützen wird.«

»Annemie, Frauli, ich fühl' es halt mit dir, daß es dir ganz gewiß nicht leicht wird, so zu mir zu sprechen. Aber sag', mein Herz, bist du dir denn darüber klar, was du in deiner grenzenlosen Opferbereitschaft von mir erbittest? Jammerst du nicht schon oft genug, daß du 's Vronli gar so selten zu sehen bekommst, daß es jedesmal eine Reise nach dem Wedding sei? Und nun willst du dein Nesthäkchen gar bis nach Brasilien hingeben! Weißt du, was das bedeutet? Eine Ozeanreise von fast vier Wochen, ganz abgesehen von den Bahnfahrten. Schau, Annemie, eine Trennung für immer kann das in sich schließen.«

Frau Annemarie hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen. Durch ihre Finger rieselten Tränen. Energisch wischte sie dieselben fort. »Wenn es zum Glück unseres Kindes ist, müssen wir uns auch darin fügen, Rudi«, sagte sie in festem Tone.

Da hatte Rudolf Hartenstein seine tapfere Frau in die Arme geschlossen. »Möge es zum Glück unseres Kindes sein!«

Dann folgten viele Unterredungen des Professors. Die erste mit dem Fräulein Tochter, die mit den Worten begann: »Also auswandern willst halt, Ursele? Weißt du denn auch, daß du aus Brasilien nimmer davonlaufen kannst wie von der Bank und von deiner Kunst?«

Beide Arme hatte Ursel um den Hals des Vaters geschlungen und unter Glückestränen versichert: »Von meinem Mann werde ich ganz gewiß nicht auskneifen wollen, Vaterle. Und meine Kunst, die nehme ich mit 'rüber nach Brasilien.«

»Na, dann schick' mir meinen Schwiegersohn halt her, Kind, daß ich ihm die Flötentöne beibringe. Kommt hier über den großen Teich geschwommen und kapert mir mein Mädel fort.«

Ahnte Ursel es, wie schwer dem Vater sein Scherzen wurde?

Die zweite Unterredung war ungleich ernster. Aber als sie beendigt war, schüttelte der Professor Milton Tavares die Hand in treuväterlicher Zuneigung. »Du hast recht, Annemie,« sagte er danach zu seiner Frau, »es ist halt ein prächtiger Mensch, der für Ursels Glück bürgt, soweit man das vermag.«

Und nun war Ursel Braut. Unter dem Weihnachtsbaum feierte man Verlobung.

Hans war nicht nur sprachlos, nein, geradezu empört. »Was – nach Brasilien willst du mit Milton? Dabei hat er fest versprochen, mich mitzunehmen. Solch eine Gemeinheit!« räsonierte er zur größten Belustigung der Beteiligten.

»Ja, Hansi, frag' doch Milton, ob er dich vielleicht statt meiner mit herüber nehmen will«, lachte Ursel schelmisch.

Aber ihr Verlobter verzichtete darauf, die Antwort in Worten zu geben. Er zog seine Ursel in seine Arme fest, ganz fest, als könne sie ihm wieder koboldartig entschlüpfen.

Der Vater jedoch packte den Studenten an die Ohren: »Untersteh' dich, Junge, und schiel' mir halt etwa nach Amerika 'nüber. Da wird nimmer was draus. 'S ist halt grad' genug, wenn man eins hingibt.«

Bei allen hatte Ursels Verlobung mit dem Brasilianer geteilte Gefühle ausgelöst. Nirgends eine reine Freude. Nur Margarida jubelte: »Oh, jetzt wird mein bestes Freundin Schwester für immer.« Alle empfanden sie als Unterton ihrer freudigen Überraschung das baldig drohende Trennungsweh.

»Mein Urselchen, mein Liebling! Nun bin ich selbst die schuldige Ursache, daß du auf und davon willst von uns und deiner Heimat«, sagte die Großmama, unter Tränen lächelnd.

»Die Ursache zu meinem Glücke bist du, Omama. In deinem Hause habe ich Milton kennengelernt. Du hast ihm hier die Fremde zur Heimat gemacht. Nun wird er mir dort meine Heimat ersetzen.« Keiner hätte der lustigen Ursel so ernste Worte zugetraut.

»Wo man mit seinem Manne glücklich ist, da ist man daheim«, bestätigte Vronli, nach der Hand ihres Gatten greifend. Trotzdem auch ihr das Herz schwer war, daß ihre »kleine Schwester«, die sie als Große stets ein wenig bemuttert hatte, sich aus ihrem Familienkreis löste.

Eine aber gab es an diesem Weihnachtsabend, die war noch empörter als Hansi über Ursels Verlobung. Draußen in der Küche stand sie und kochte die Weihnachtskarpfen. Denn nur die alte Hanne verstand die Weihnachtskarpfen schmackhaft zu kochen. Davor mußte selbst die Lichterfelder Auguste die Segel streichen. Sie rührte die Sauce in einer Wut, als ob sie damit ganz Brasilien zermalmen könne.

»Ich hab's kommen sehen, das Unjlück, ich hab's jewußt. Urselchen hab' ich jewarnt, laß dir mit de Schwarzen nich ein. Nischt Jutes nich kommt dabei raus. Und nu ist's Unjlück da. Nu hat er ihr. Nu will er unser Kind in 'n Urwald unter die Menschenfresser und unter die jroßen Jorillaaffen mitnehmen, wenn er auch sonst 'n janz reputierlicher Mensch is und mit's Trinkjeld nich knausert. Ich aber sage: Bleibe im Lande und nähre dich redlich. Und wenn ich der Ursel ihr Vater, was der Herr Professor is, wäre, nie und nimmer würde ich's zujeben, daß sie mit ihren Milton nach Brasilien macht.« So jammerte die alte treue Seele bei ihren Weihnachtskarpfen.

Die Weihnachtslichter erloschen – das neue Jahr entzündete seine rosenrote Fackel der auf bessere Zeiten hoffenden Menschheit. Frau Annemarie sah das junge Jahr mit bangem Herzen seinen Einzug halten. Ihr konnte es nichts bringen – nur nehmen. Auf Mitte Februar war bereits die Einschiffung festgesetzt. Miltons Vater konnte den Sohn nicht länger entbehren.

Gut, daß sie reichlich Arbeit vor der Hochzeit hatte, daß ihre Gedanken nicht Wege gingen, die zu nichts führten. Freilich war alles anders, als vor Vronlis Verheiratung. Wie hatte Frau Annemarie bei ihrer Ältesten überlegt und gesorgt, genäht und gestickt, um ihr eine schöne praktische Aussteuer zusammenzustellen. Derbe, gute Wirtschaftswäsche, wie sie selbst sie bekommen. Feiner Tafeldamast lag noch von ihrer eignen Aussteuer her unangetastet. Für jede ihrer Töchter hatte Frau Annemarie die schönsten Stücke ihrer Wäsche zurückgelegt. Jetzt bei Ursel wurde nicht überlegt, nichts gespart. Milton Tavares kaufte, was Ursel schön fand, und das war nicht immer das Praktische. »Oh, billig, serr billig, in S. Paulo alles viel mehr teuer«, pflegte er zu sagen, wenn seine Schwiegermutter der Verschwendung steuern wollte. Da wurden große Kisten mit der schönsten Wäsche, mit Kristall und Tafelservice, mit allem, was ein eleganter Haushalt braucht, vollgepackt. Denn wenn man auch in das Haus der Eltern mit einzog, in Brasilien war alles weniger geschmackvoll und viel teurer. Sogar einen Flügel aus Tropenholz schenkte Milton seiner Braut zur Hochzeit, der in einer Riesenkiste transportiert wurde. Auch bei Ursels Wäscheausstattung mußte Frau Annemarie umlernen.

»Muzi, was soll ich denn bloß dort drüben mit wollenen Sachen?« lachte Ursel. »Ich gehe doch nach Brasilien und nicht nach Sibirien. So leicht und luftig wie möglich muß alles sein. Nur Batist und Seide mit Spitzen. Schwere Stoffe kann man dort drüben gar nicht ertragen, sagt Margarida.«

»Das ist eine Wäscheausstattung für eine Prinzessin und nicht für eine Bürgerstochter«, meinte die Mutter, durchaus nicht einverstanden.

»Die Ursel ist auch immer unser Prinzeßchen gewesen«, neckte Hansi. »Nun heiratet sie wirklich einen Prinzen, wenn es auch man bloß ein Kaffeeprinz ist.«

Ja, wie ein Prinzeßchen wollte Milton Tavares auch seine Ursel gehalten haben. Nicht nur, daß er sie in verschwenderischster Weise mit kostbaren Geschenken verwöhnte. Er hatte auch energisch dagegen Front gemacht, daß sie, wie Vronli, bei der Mutter kochen lernen sollte.

»Nicht in Küche gehen. Mein Urrselchen muß sitzen an Klavier. Nicht anfassen mit zarte Fingerchen schwarrze Kochtopf. Altes Mulattin ist da für Küche. Brraucht Urrsel nicht zu kümmern. Soll tun nur, was macht ihr Frreude.«

»Na, das fehlt dem verwöhnten Fräulein halt bloß noch«, hatte der Professor lachend geäußert, als Annemarie ihm ihr Leid geklagt hatte, daß sie eine Tochter heiraten lassen sollte, die knapp wußte, wann das Wasser kocht.

»Französischen und portugiesischen Sprachunterricht soll sie nehmen und ihre Gesangstunden bei Professor Lange soll sie bis zuletzt beibehalten, hat Milton gebeten. Als ob ein Mensch davon satt werden kann. Ich habe genug Lehrgeld in meiner eigenen Ehe zahlen müssen, trotzdem ich bei Hanne regelrecht kochen gelernt habe. Die alte Mulattin ist halt auch nur ein Mensch und kann krank werden«, ereiferte sich Frau Annemarie.

»Da wird halt eine junge Mulattin für sie einspringen, Annemie. Wer A gesagt, muß auch B sagen. Wenn du dein Kind einem Kaffeeprinzen nach Brasilien gibst, muß es sich den Gepflogenheiten der Familie und des Landes anpassen.«

»Wenn sie sich nur wohlfühlt bei solchem Faulenzerleben, unser Urselchen. Es ist doch schließlich unser Kind, das in einem Boden der Arbeit und Pflichterfüllung groß geworden ist«, sorgte die Mutter.

»Das hättst dir halt vorher überlegen müssen, Weible, als du mich rumgekriegt hast für Brasilien. Jetzt gibt's nur noch ein Vorwärts, nimmer ein Rückwärts«, war des Professors ernste Antwort.

Ursel selbst fand es ganz herrlich, von Milton verwöhnt und verhätschelt zu werden, sich nicht mit Mehlschwitzen und Puddings abquälen zu müssen. Sie trieb fleißig ihre Sprachstudien, denn sie mochte den neuen Verwandten und den Freunden des Tavaresschen Hauses nicht wie ein Gänschen erscheinen. Auch hatte sie ja bei Marga gesehen, wie vereinsamt sich dieselbe in Deutschland gefühlt hatte, bis sie die Sprache einigermaßen beherrschte. All ihre Energie bot Ursel auf, um ihr Ziel zu erreichen. Und wenn Milton sie dankbar zärtlich in die Arme schloß, sobald sie ihn mit einer neugelernten portugiesischen Wendung begrüßte, war ihr das immer wieder ein Ansporn zu neuem Eifer. So unlustig sie in der Schule Französisch getrieben, so zielbewußt lernte sie jetzt. Auch für ihre Gesangstunden, die sie nach wie vor bei Professor Lange nahm, arbeitete sie mit aller Energie. So viel wie irgend möglich wollte sie in der kurzen Zeit noch von dem fördernden Unterricht profitieren. War der alte Professor doch geradezu betrübt gewesen, daß solch ein wertvolles Material, das man nur selten in die Hände bekam, ihm genommen wurde, noch ehe er es in die Form höchster Kunstvollendung gezwungen hatte.

»Kleinchen, Sie sind ein aufgehender Stern am Musikhimmel. Sind Sie sich denn auch klar darüber, daß Sie Ihrem Zukünftigen nicht nur Ihre Heimat opfern wollen, sondern vor allem Ihre Kunst? Das Höchste, was nur begnadeten Sonntagskindern beschieden ist. Wofür Sie der Menschheit auch verantwortlich sind. Das alles wollen Sie unserm deutschen Vaterlande entziehen und dort in unkultiviertem Lande verkümmern lassen?« Der alte Herr schüttelte unzufrieden das weiße Haupt.

»Herr Professor, Sie stellen sich S. Paulo, meine zukünftige Heimat, nicht ganz richtig vor«, wandte Ursel belustigt ein und mußte an Hannes »Urwälder mit de Jorillaaffen« denken. »S. Paulo ist eine durchaus kultivierte, vollständig nach europäischem Muster eingerichtete Kolonie. Es wird dort viel und gute Musik gemacht. Ich werde weiter Stunden nehmen und fleißig studieren.«

»Ach, wer weiß, was für einem Stümper Sie da als Schülerin in die Hände fallen, der Ihnen Ihre Stimme verhunzt. Für uns, für Deutschland sind Sie jedenfalls verloren.«

Ursel ließ den alten Professor knurren und brummen, fühlte sie daraus doch nur sein Interesse und sein Bedauern über ihr Fortgehen.

In der Hochschule hatte man fast Kopf gestanden, daß das Hartensteinchen auswandern wollte. »Sie sind ja schön dumm, Hartensteinchen, wo sie bereits auf bestem Wege dazu sind, Karriere zu machen. Warten Sie doch noch zwei, drei Jahre, dann können Sie als europäischer ›Star‹ ja gleich eine Tournee nach Amerika machen.« So hatten die Hochschüler sich geäußert.

Aber so lange wollten weder Ursel noch Milton Tavares warten.

Die Tage jagten sich förmlich. Einer fraß den andern auf. Kaum war es Montag, so war auch die Woche schon wieder um. Es war gut, daß Ursel durch die Sprachstunden und durch ihre Musik so stark in Anspruch genommen wurde. Da hatte sie keine Zeit daran zu denken, daß bereits die Februarsonne durch die Fenster in ihr Mädchenstübchen schaute.

Aber Frau Annemarie dachte um so mehr daran. Als sie die ersten Schneeglöckchen im Gartenwinkel pflückte, die sie sonst stets als vorzeitigen Lenzboten freudig begrüßt hatte, betaute sie dieselben in diesem Jahre mit ihren Tränen. Nun war es soweit.

Ja, nun galt es, sich für die Vorbereitungen zur Hochzeit zu tummeln; denn wenn dieselbe auch nur im Familienkreis daheim im Lichterfelder Professorenhaus begangen wurde, an der Waterkant ließ man es sich nicht nehmen, vollzählig zu Ursels Ehrentag zu erscheinen. Auch die Freundinnen Edith und Ruth mußten dabei sein.

Ein Vorfrühlingstag war es, einer von den ersten, Erdgeruch und neues Werden in sich tragend, als Frau Annemarie ihrem Nesthäkchen das Myrtengrün in das Goldhaar drückte. Allererstes Frühlingsahnen lag draußen über Baum und Strauch. Frühlings- und Glückesahnen schaute aus den Augen der jungen Braut. Da drängte Frau Annemarie mit Gewalt das sich jäh aufbäumende Weh in ihrer Seele zurück. Da zog sie ihr Kind mit inniger Liebe, ohne Tränen, an ihre Brust: »Mein Herzenskind, mögest du mit deinem Manne so glücklich werden, wie deine Mutter es stets gewesen ist.«

Die übermütige, ausgelassene Ursel war keine so strahlende Braut, wie man sich das wohl vorgestellt hatte. Bei allem tiefen Glücksempfinden webte die Wehmut des Scheidens einen neuen Reiz um sie. So schritt sie am Arm des Geliebten aus dem schützenden Elternhause hinaus in unbekanntes, fernes Land.

Dann kam ein Tag, an dem Frau Annemarie all ihre Willenskraft, all ihr energisches Wollen treulos im Stich ließ. In Hamburg war's, auf St.-Pauli-Landungsbrücken. Als die Schiffssirene zur Abfahrt aufheulte, als sich die weinende Ursel aus dem Arm der Eltern lösen mußte; da gab es einen, der lauter heulte als die Schiffssirene, einen, der sich nicht von seiner Freundin zu trennen vermochte. Cäsar war nicht dazu zu bewegen, das Schiff zu verlassen. Umschlungen vom Arm ihres Mannes, klammerte sich Ursel fest an den Hals des treuen Gefährten ihrer Mädchentage, der ihr in fremdes Land hinüber folgte. – – –

Frau Annemarie sah ihres Nesthäkchens wehendes Tüchlein nicht mehr vor dem Tränenschleier, der ihr ihren Blick trübte. Hand in Hand mit ihrem Manne versuchte sie die schwerste, die bitterste Stunde ihres Lebens zu zwingen.

*

Zum zweiten Male blühte die Linde seit jenem Tage. Unter den süß duftenden Blütenbüscheln saß Frau Annemarie. Die Arbeit ruhte im Schoße. Es gab jetzt nicht mehr soviel zu nähen und zu flicken, seitdem das Nest leer geworden. Seitdem der Sohn auf eine andere Universität gegangen war; in Würzburg studierte er jetzt, wo seine Eltern sich dereinst kennengelernt hatten.

Still war es in dem Lichterfelder Professorenhause geworden. Ganz still. Seitdem auch Cäsar seinem Vaterlande untreu geworden war und keine mißliebigen Überfälle mehr auf das Biedermeierzimmer unternahm. Am Vormittag, wenn der Professor in seiner Klinik war, hatte Frau Annemarie viel Zeit zum Denken und Sinnen. Da zogen ihre Gedanken auf die Wanderschaft. Über den Atlantischen Ozean schwammen sie, in das Tropenland zu ihrem fernen Nesthäkchen. Dann öffnete sie den Lederkasten, der Ursels Briefe, sorgfältig nach ihrem Datum geordnet, enthielt. Das war alles, was ihr noch von ihrem Kinde geblieben.

Zärtlich strich die Hand der Mutter über das feine, knisternde Überseepapier. Viel Glück enthielten sie, erfülltes Frauenglück. Aber auch manche heimliche Träne entdeckte die Mutter, die mit tausendfach verfeinerten Sinnen dem Gefühlsleben ihres fernen Kindes nachspürte, zwischen den Zeilen. Besonders die ersten Briefe auf brasilianischem Boden erzählten der Mutter von manchem Sehnsuchtsgedanken der Tochter. Niemals ausgesprochen, Ursels Briefe waren stets heiter und übermütig, ein getreues Abbild ihrer selbst. Jeder andere als die Mutter las darüber hinweg.

Da waren zuerst die Briefe vom Schiff, voller Begeisterung über das Leben und Treiben auf solch einem großen Überseedampfer.

»Auf dem Deck geht man wie auf einer Kurpromenade spazieren. Oh, Muzi, was sieht man da für elegante Toiletten. Trotzdem findet Milton seine Frau stets am schönsten von allen. Er ist rührend lieb zu mir, auch Margarida. Wenn er merkt, daß ich mal über das große Wasser nach Norden zurückblicke – wo ich Europa vermute –, dann versucht er stets mich durch Liebkosungen oder irgendeine Zerstreuung wieder froh zu stimmen. Hilft das noch nicht, so ruft er Cäsar herbei. Der ist Miltons bester Bundesgenosse. Wenn Cäsar mich mit seinen treuen Augen anschaut, dann vergesse ich es, daß ich nicht mehr daheim bei Euch in Lichterfelde bin, sondern auf dem Atlantischen Ozean. Cäsar ist wie ein Stück Heimat für mich. Unsere Grüße aus Lissabon und Madeira, wo wir an Land gingen, habt Ihr wohl erhalten. Oh, wie herrlich ist die Welt! Nun schwimmen wir schon vierzehn Tage auf dem großen Teich. Aber man hat gar keine Langweile. Es ist auf dem Schiff, als ob man in einem eleganten Seebade wäre. Am schönsten ist es abends. Jeden Abend Musik und Tanz. Milton tanzt wundervoll. Da muß ich mich stets so schön wie irgend möglich machen. Neulich wurde ich gebeten, zu singen. Die Passagiere waren fast noch dankbarer und begeisterter als das Publikum bei meinem ersten Konzert. Ich fange sogar schon an portugiesisch zu sprechen, allerdings noch recht mangelhaft. Ihr könnt Euch nicht denken, wie stolz Milton auf mich ist. Vaterle denkt jetzt sicher, was ist das für ein unnützes Drohnenleben. Und auch meine kleine Muzi meint, solch ein elegantes Luxusdasein hat dem Prinzeßchen nur gefehlt. Hab' ich's erraten, mein kleiner Muz?« – – –

Jeder Brief brachte ein photographisches Bildchen von Ursel. Das war der Gruß, den der Schwiegersohn, der eifrig den Knipskasten handhabte, den deutschen Eltern mitsandte. Da war die Ursel im Reisehütchen mit wehendem Schleier – dort am Klavier. Hier in eleganter Promenadentoilette neben Cäsar. Dort am Teetisch mit Milton und Margarida zusammen. Und überall strahlte Glück und Heiterkeit aus ihren Augen. Nein, da durfte Frau Annemarie keine Sehnsucht aufkommen lassen.

Ein Brief vom 3. März: »Sturm – toller Sturm. Drei Tage lang. Unser Schiff schaukelte wie eine Nußschale. Man konnte an Schreiben nicht denken. Hansi, das wäre was für dich gewesen. Ich bin nicht seekrank geworden, trotzdem mir manchmal zumute war, als ob ich gelb und grün nicht mehr voneinander unterscheiden könnte. Milton sagt, ich hätte mich sehr tapfer gehalten. Aber Cäsar, den armen Kerl, hat's arg gepackt. – –«

»Bahia, den 7. März.

Nun haben wir den ersten brasilianischen Hafen erreicht. Nach fast drei Wochen. Das ist ein ganz merkwürdiges Gefühl, wenn man wieder festen Boden unter sich hat. Also jetzt wären wir ›drüben‹. Die Küstenflora hier ist märchenhaft schön. Wir pflücken uns von den Bäumen Orangen und Bananen, so groß, so wundervoll, wie ich sie in meinem Leben nicht gesehen habe. Bahia ist die Apfelsinenstadt, wo es die größten und herrlichsten Früchte gibt. Das wächst hier alles wild, wie bei uns im Grunewald die Kiefern. Mit einem Fahrstuhl geht es vom Hafen in die obere Stadt. Das ärmere Viertel ist eine richtige Negerstadt. Nackte, kleine Negerkinder krabbeln überall im Sande vor den Hütten herum. Bei unserm Nahen verstecken sie sich hinter Palmenstämmen und Buschwerk und lugen mit kohlrabenschwarzen Augen wie Äffchen daraus hervor. Affen habe ich auch schon zu sehen bekommen. Zwar nicht im Tropenwald, wohl aber auf dem Markt zu Bahia, wo junge Äffchen verkauft werden. Aber ›Jorillas‹ gibt's in Brasilien nicht, nur eine kleine Art von Affen. Bitte dies der alten Hanne mit einem schönen Gruß von mir zu bestellen. Milton hat mich ausgelacht, weil ich vor den Farbigen ein wenig bange bin. Cäsar knurrt jeden Schwarzen feindselig an. Es ist ihm wohl auch nicht so ganz geheuer dabei zumute.«

   

»Rio de Janeiro, den 12. März.

Der zweite Hafen, an dem wir anlegen. Rio de Janeiro, die Palmenstadt, ist das schönste, was ich bisher gesehen habe, mit seinen jäh aus dem Meer aufsteigenden Felsen, seinen Prachtbauten, und vor allem mit seinen herrlichen Palmen. Man glaubt ein Märchen zu erleben, wenn man abends an dem von tausenden und abertausenden von Lichtern bestrahlten Kai im Auto entlangfährt. Ein Autokorso ist das jeden Abend. Das ist eine Buntheit von Rassen, ein babylonisches Sprachdurcheinander und eine farbenprächtige Eleganz. Die Damen in seidenen Balltoiletten in den leuchtendsten Farben mit Pelzhüten bei einer Tropentemperatur von beinahe 40 Grad. Und plötzlich ist das Weltgetriebe und Gebrause wie abgeschnitten. Man ist draußen. Im Mondschein stehen Palmen und Kakteen, riesengroß, ganz starr und leblos, ganz tot und still. Das wirkt herzbeklemmend. Aber dann ist hier wieder ein Blühen, ein Duft und eine Farbensymphonie von wunderbaren fremdartigen Blüten. Schlingpflanzen, Riesenfarn und seltsame Kakteen. Im ›Wald‹, in dem wir mit dem Auto spazierenfuhren – kultivierter Urwald –, schaukeln sich Papageien und Kolibris in den grellsten Farbentönen. Nicht einmal Cäsar wagt, auf sie Jagd zu machen. Er ist etwas gedrückt, seitdem wir das Tropenland betreten haben. Ob es die Backofenhitze ist oder die fremde Pflanzen- und Tierwelt, er fühlt sich als Europäer und findet sich vorläufig hier noch nicht zurecht. Manchmal denke ich, er weint seinem verlorenen Vaterlande nach. Ich selbst bin noch ganz betäubt, ganz verwirrt von all dem Neuen, Fremden. Mir ist, als sei hier alles, ich selbst einbegriffen, auf den Kopf gestellt. Das macht wohl die Temperatur, an die ich mich erst gewöhnen werde. Dabei ist es so unwirklich schön hier, daß man froh und dankbar sein muß, wenn man all das an der Seite seines Mannes genießen darf. Cäsar ist eben eine unvernünftige, undankbare Kreatur und hat deutsche Sentimentalität im Blute.«

   

»S. Paulo, den 25. März.

Nun sind wir daheim. Das ist eine seltsame Empfindung, wenn einen alles so fremd anmutet. In Santos, dem bekanntesten Kaffeehafen Brasiliens empfing uns Miltons Vater, der sehr gut und lieb zu mir war. Als er seine Kinder nach der langen Trennung in die Arme schloß, mußte ich weinen. Da nahm er mich ebenso zärtlich an sein Herz. Und wenn wir uns auch sonst zuerst schwer verständigten, das habe ich begriffen, daß er mich als sein Kind begrüßte. Mit der Bahn in weißleinen bezogenen Rohrsesseln fuhren wir von Santos über das Gebirge hierher nach S. Paulo. Es war eine wunderbare, dreistündige Fahrt. Diese von den Engländern erbaute Gebirgsbahn vom Hafen nach S. Paulo soll die großartigste Bahn der Welt sein. Und nun sind wir daheim. Wir wohnen in der vornehmsten Gegend S. Paulos, in der Avenida Paulista. S. Paulo ist eine Bergstadt, die zwischen zwei Bergen liegt. Die Villenstraßen ziehen sich die Berghänge hinauf. Zwei gewaltige Viadukte sind von Berg zu Berg über die untere Stadt geschlagen. Dadurch bietet S. Paulo ein ganz eigenartiges Bild. Neben der Tropenvegetation gibt es hier viele herrliche Obstanpflanzungen, besonders Pfirsich, und Feigenbäume. Die Blumen, teilweise europäische Blüten, die hier eingeführt sind, werden fünf-, sechsmal so groß wie bei uns. S. Paulo ist eine ganz nach europäischem Muster angelegte Kolonie, in der natürlich vorwiegend Europäer ihren Wohnsitz haben. Da gibt es große Warenhäuser, wo alles für unsere Begriffe entsetzlich teuer ist. Das Kino und das Kaffeehaus spielt eine große Rolle. Aber auch Theater und Museum gibt es hier bereits. Unser Haus trägt italienischen Charakter; es ist reich mit Marmor verziert. ›Kennst du das Haus, auf Säulen ruht sein Dach‹ – ist es wirklich erst vier Wochen her, daß ich dieses Lied daheim bei Euch sang? Ach nein, jetzt bin ich ja hier daheim. Dem Cäsar sowohl wie mir muß ich es soundso oft am Tage sagen, sonst glauben wir es allebeide nicht. Manchmal macht er mich mit seinen feuchten Hundeaugen ganz traurig. Aber wenn Milton kommt, ist alles wieder gut. Miltons Mutter verwöhnt mich fast noch mehr als er selbst. Von allen Verwandten bekam ich große Brillanten als Empfangsgeschenk. Alle, alle waren sie in rührender Weise bemüht, mir das Einleben zu erleichtern. Von Miltons Eltern an bis zu Teresa, der liebenswürdigen, alten Mulattin, vor deren freundlichem Zähnefletschen ich zuerst allen Respekt hatte. Bis zu Chico, dem ältesten Neger hier im Hause. Ich glaube, sein Vater war noch Sklave der Tavares. Er selbst ist jetzt natürlich frei, hängt aber mit geradezu hündischer Treue an der Familie. Auch auf mich hat er sie übertragen. Cäsar ist bereits eifersüchtig auf ihn.«

   

»12. Juni.

Winter ist es jetzt hier. Bei Euch in Lichterfelde blühen die Rosen. Die Wintertemperatur beträgt hier immer noch etwa 18 Grad. Dabei frieren die Leute, denn Ofen und Heizungen kennt man hierzulande nicht. Ich fühle mich viel frischer bei dieser Temperatur. Ein Vierteljahr bin ich nun schon in Brasilien. Mir ist es, als läge ein ganzes Menschenleben dazwischen, daß ich Europa verlassen habe. Ich bin jetzt vollständig in S. Paulo eingelebt. Sogar das Nationalessen, das jeden Mittag und jeden Abend bei reich und arm auf den Tisch kommt, schwarze Bohnen mit Tomatenreis, worauf man sich noch ›Farinha‹, eine Art Grieß streut, habe ich essen gelernt. Ich muß meinen Magen hier vollständig umstellen. Denn das Essen spielt eine große Rolle und dauert für gewöhnlich eine Stunde. Aber man muß es den Negern lassen, daß sie vorzüglich zu kochen verstehen. Die schwarze Teresa mit ihrer weißen Mütze macht sogar unserer alten Hanne starke Konkurrenz. Gut, daß ich in Brasilien bin – bis hierher höre ich wenigstens Hannes Schimpfen, daß man sie mit den ›Schwarzen‹ zu vergleichen wagt, nicht. Es ist jedesmal ein wahres Hochzeitsessen, das man herunterfuttert. Die Mittagsmahlzeit findet bereits um elf Uhr statt. Denn man steht früh schon um sieben auf. Milton nimmt das Mittagbrot meistens unten in Santos ein, wo sich das Geschäftsbureau befindet und wo er die Kaffeebörse besucht. Hansi, jetzt sehe ich es dir an, daß du gern wissen möchtest, wie solch ein brasilianisches Menü sich zusammensetzt. Ich kenn' doch mein verfressenes Brüderchen. Also, ich will Euch erzählen, was heute mittag bei uns auf den Tisch kam: Zuerst gab's eine gute Suppe. Dann eine Hühnerpastete und eine Krabbenpastete mit rohen Oliven. Die Pasteten versteht Teresa meisterhaft zu bereiten. Nun folgten die obligaten Bohnen, die ich aber meistens vorübergehen lasse. Das gebratene Huhn, ›Gallinha‹ genannt, mit ›Farosa‹, einer aus gebräuntem Mehl, Tomaten, Zwiebel und Oliven bestehenden Beilage, mundete mir um so besser. Das Beef mit Pommes frites, das danach serviert wird, ist meist hart wie Schuhleder. Sie braten es am Rost. Cäsar pflegt sich daran gütlich zu tun. Nun kommt das allerbeste: die ›Doces‹ – Süßigkeiten. Die spielen hier die größte Rolle und sind dementsprechend auch vorzüglich. Heute gab es ›Pecegada‹, eine Art festes Pfirsichgelee, zu dem die Brasilianer einen ganz zarten, geruchlosen Käse essen. Ich kann mich zu dieser Zusammenstellung noch immer nicht recht verstehen. Den Schluß macht ein Täßchen schweren Mokka mit sehr vielem Zucker. Manchmal denke ich, von einem solchen Menü leben wir daheim in Europa eine ganze Woche. Wie gern möchte ich meiner Vronli, die sich stets den Kopf zerbrechen muß, was sie Billiges zu Mittag kochen könnte, von diesem Überfluß etwas zukommen lassen. Abends ist es beinahe noch reichhaltiger und großartiger, weil die Männer daran teilnehmen. Teresa und ihre drei Negerinnen haben den ganzen Tag nur zu kochen und zu braten. Du siehst, meine kleine Muzi, es hätte wirklich keinen Sinn gehabt, wenn ich zu Hause kochen gelernt hätte. Ich habe die Küche hier noch gar nicht betreten.«

   

»Ribeirâo Preto, 3. Dezember.

Wir sind jetzt auf unserer Fazenda, das ist unsere Kaffeeplantage, wo wir ein Sommerhaus haben. Bei uns ist nämlich augenblicklich Hochsommer. Ich muß mir immer wieder klarmachen, daß wir im Weihnachtsmonat sind. Unsere Fazenda liegt etwa acht Bahnstunden von S. Paulo entfernt. Ich war sehr begierig auf die Kaffeeplantage und eigentlich heimlich enttäuscht. Meilenweit erstrecken sich die Anpflanzungen, in gleichmäßigen Abständen säuberlich angelegt. Ich hatte mir ein rötliches Blütenmeer vorgestellt, etwa wie deutsche blühende Heide. Aber von Blüten sieht man nicht viel. Nur die glänzenden, immergrünen Blätter wie aus Leder, unter denen sich die Blüte versteckt. Die Samenkörner der Blüte, das sind die Kaffeebohnen. Es soll eine sehr mühevolle Arbeit sein, den Boden mit Kaffee anzubauen. Acht Jahre dauert es, bis er zum erstenmal Frucht trägt. Eine einzige Reifnacht – auch Frost soll hier ausnahmsweise im Juli vorkommen – kann die jahrelange Mühe vernichten. Auf der Fazenda arbeiten Italiener und auch deutsche Auswanderer. Diese mir ganz fremden Menschen sind hier meine Brüder und meine Schwestern, mir verbunden durch die Sprache der Heimat. Milton hat es nicht gern, wenn ich mit den deutschen Arbeitern spreche. Ob er meint, daß ich dadurch vielleicht Sehnsucht bekommen könnte?« – – –

Das Papier in den Händen der lesenden Mutter knisterte stärker. Sie überflog die Zeilen, die von Reitunterricht, von Tennis und Sportvergnügen, von Autofahrten und Geselligkeit berichteten, schneller. Nun vertiefte sie sich wieder in einen der Bogen. Er brachte ein Bildchen, Ursel im Bambusschaukelstuhl unter einem Mangabaume.

»Jetzt erst, hier in dem Lande, wo die Frauen so sehr verwöhnt werden, habe ich einsehen lernen, welch ein Segen in der Arbeit steckt. Glaubt Ihr's, daß ich, Eure faule Ursel, die sich zu Hause von jeder Tätigkeit am liebsten gedrückt hat, mich hier nach Arbeit gesehnt habe? Aber wo ich auch eingreifen wollte, nirgends werde ich gebraucht. Stets ist die Dienerschaft zur Hand. Die brasilianischen Damen machen Besuche oder Handarbeiten, sie unterhalten sich den ganzen Tag. Ich flüchte mich an meinen Flügel. Die Stunden bei meinem italienischen Maestro machen mir die größte Freude. Aber immer füllen sie mich nicht aus. Für Filethandarbeiten, wie Marga sie viel fabriziert, habe ich weder Geduld noch Ausdauer. Da kam ich auf die Idee, für die deutschen Auswandererkinder eine Weihnachtsbescherung vorzubereiten. Ach, was hat es mir für Freude gemacht, all die Puppen und Spielsachen in dem großen Warenhause mit Milton und Margarida zusammen einzukaufen. Ein kleines Püppchen ist hier viel, viel teurer als bei uns die schönsten und größten Puppen. In Gemeinschaft mit Margarida habe ich die Püppchen angekleidet. Aber auch für die Kinder selbst habe ich Röckchen und Kleidchen genäht. Ich war wirklich fleißig – zum erstenmal in meinem Leben! Und da klebt Milton die im Schaukelstuhl faulenzende Ursel als Motto auf diesen Brief. So 'ne Gemeinheit!«

Den nächsten Brief studierte Frau Annemarie noch langsamer als seine Vorgänger. Am 24. Dezember, dem Weihnachtsheiligabend, war er geschrieben.

»Ich habe mich vor dem Heiligabend gefürchtet. Ich war bange, daß die Erinnerung an daheim mich überkommen könnte. Und nun war es so schön – so schön. Anders als zu Hause. Vor allem herrschte eine Gluthitze. Aber abends war es erträglich. Da brannte eine Art von Tannenbaum mit vielen, vielen Lichtern, mit Zuckerwerk und Silberkugeln geschmückt.

Darunter war die lange Tafel für meine deutschen Auswandererkinder aufgebaut. Milton und Marga haben mir beim Aufbau geholfen. Wir waren selbst so ausgelassen wie Kinder dabei. Als die Kleinen an der Hand der Mütter den Raum betraten, spielte und sang ich: ›Stille Nacht, heilige Nacht.‹ Alle fielen sie ein, selbst Miltons Eltern sangen die Melodie mit. Mir war feierlicher zumute als an jedem früheren Weihnachtsabend. Das Weihnachtslied überbrückte jede Entfernung. Und dann der Jubel der Kinder! Den hättet Ihr mit anhören, das Glück und die rührende Dankbarkeit der deutschen Mütter mit anschauen sollen. Teresa hatte nach meiner Angabe Weihnachtsstollen gebacken, für jede Familie eine. Muzi, du brauchst gar kein zweifelndes Gesicht zu machen, sie waren ganz richtig geraten. Allerdings wird wohl Teresas Kunst das größte Verdienst daran haben. Chico trug Körbe mit Lebensmitteln herbei. So zogen sie reichbeladen mit nicht endenwollendem Dank wieder ab. Und nun kam unser Aufbau heran. O Gott, wie haben sie mich alle verwöhnt! Auch Cäsar bekam sein Weihnachtsbeef. Dann setzte sich Milton ans Klavier und ich sang deutsche Weihnachtslieder. Als mir die Eltern zum Schluß versicherten, noch kein so schönes Weihnachtsfest gefeiert zu haben, war ich von Herzen glücklich. Und die Gedanken, die zu Euch hinflogen, waren nur frohe und dankbare. Ist meine Weihnachtskiste rechtzeitig angekommen? Haben Omama und Vronli, die doch sicherlich Heiligabend bei Euch waren, sich mit meinem Weihnachtsgruß gefreut? Hoffentlich!« – – –

Frau Annemaries Hand, welche den Brief hielt, sank herab. Tränen verdunkelten ihr den Blick. Sie hatte an dem Weihnachtsabend um so mehr an ihr fernes Kind denken müssen. Trotz der großen Weihnachtskiste, die Ursels Gaben, die sie für jeden einzelnen mit rührender Liebe ausgesucht hatte, enthielt. Oder gerade darum. Einen Brief nach dem andern legte Frau Annemarie wieder in den Kasten zurück. Nur den letzten, den allerletzten, behielt sie in der Hand. Gestern erst war er gekommen. Wie oft hatte sie ihn inzwischen gelesen.

»Meine geliebten Eltern! Nur wenige Zeilen, die Euch nach Miltons Telegramm sagen sollen, daß Eure Ursel der glücklichste Mensch in ganz Brasilien ist. Neben mir steht ein grünverhangener Wiegenkorb. Darin schlummern meine kleinen Mädchen, Anita und Marietta, die beide deinen lieben Namen, mein Muttchen, in sich vereinen. Milton ist ganz närrisch mit seinen kleinen Zwillingen. Cäsar ist zur Kinderfrau avanciert. Wenn sie groß sind, schicke ich Euch die Enkelchen nach Europa, denn so gut wie du, mein Mutterchen, kann ich sie sicher nicht erziehen. Muzi, kleines Muzichen, nun bist du Großmutter!« – – – – – –

*

Das Blatt flatterte zur Erde. Frau Annemarie merkte es nicht. Die schaute in die blühende Linde und träumte von kommender Zeit.

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