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3. Kapitel. Banklehrling.

Nun war der Frühling doch eingekehrt – allen Aprillaunen zum Trotz. Rosenrote Blütenschleier hatte er über Nacht über die Pfirsich- und Mandelbäume gehängt. Die Kirschbäumchen vermochten ihre schneeige Blütenlast kaum zu tragen. Die Kastanien brannten mit unzähligen Blütenkerzen zu Ehren seines Einzuges. In der Fliederhecke flötete die Amsel.

Das Stubenmädchen hatte den Frühstückstisch zum erstenmal wieder auf der Veranda gedeckt.

»Das ist recht, Trude«, lobte die Hausfrau, in den strahlenden Frühlingsmorgen mit ebenso strahlenden Augen schauend. »Rasch den Kakao für Ursel. Damit sie den Zug nicht versäumt.«

»Wäre auch kein Unglück!« klang es aus dem Garten, in dem Ursel unbedingt noch vor dem Frühstück Veilchen, Primeln und Krokus für sämtliche Vasen pflücken mußte, herauf. »Ach, Muzi, ein Verbrechen ist es geradezu, mich an einem solchen Frühlingstag ins Gefängnis zu sperren.«

»Nun, Ursel, solch Gefängnis wie die Bank, in welche du heute eintreten sollst, kann man sich halt gefallen lassen«, ließ sich der Vater aus einem der offenen Fenster heraus vernehmen. »Meinst du, Krankenstubenluft ist angenehmer? An seine Pflicht muß ein Jedes. Und nun eil dich, Kind, sonst erreichst du den Zug nimmer.«

Ursel beeilte sich durchaus nicht. Die hatte sogar noch Zeit, zu überlegen, ob sich die Primeln wohl schöner in der blauen Vase oder in dem roten Rubinglas ausnehmen würden. Sie befestigte noch mit Gemütsruhe ein Sträußchen duftender Blauveilchen an ihrer hellen Waschbluse.

»So, mein Herzchen, ich habe dir deine Brötchen schon zurechtgemacht. Hier ist auch noch ein frischgelegtes Ei für dich. Komm und frühstücke. Wer weiß, wie das Essen dort in der Bankkantine sein wird. Da ist es schon besser, du legst ordentlich vor«, riet die Mutter vorsorglich.

Ursel, die noch eben fest entschlossen gewesen, den Zug, der sie zum erstenmal in ihr neues Amt befördern sollte, zu versäumen, schämte sich bei dem liebevollen Ton der Mutter plötzlich ihres Vorhabens. Sie kam, wenn auch nicht gerade eilig, der Aufforderung nach.

»Ei, Urselchen, wie schaust du in den wonnigen Morgen? Sieh doch nur das Blühen ringsum, hör nur das Jubilieren in Baum und Strauch, und ein Duft ist heute – –« Frau Annemarie genoß nach langem Winter in durstigen Zügen den kosenden Lenzhauch.

Der mißmutige Zug in dem hübschen Gesicht ihrer Jüngsten wollte nicht weichen.

»Um so krasser ist der Gegensatz zu den düsteren Mauern, in denen ich heute lebendig begraben werden soll«, sagte sie mit Pathos.

»Hahaha, Ursel übt bereits die Kerkerszene für die Rolle zum ›Fidelio‹«, neckte Hans die Schwester.

»Dummer Bengel!« Ursel bedauerte längst schon, ihren zukünftigen Opernplan vor dem Bruder geäußert zu haben, da dies eine unversiegbare Quelle für seine Neckereien geworden war.

Hans hatte den Ehrentitel nur mit halbem Ohr gehört. Er hatte wichtigeres zu tun, nämlich die von der Mutter belegten Schulbrote einer eingehenden Kontrolle zu unterziehen. »Kommste mit?« Trotz aller Pomadigkeit besaß er seines Vaters Pünktlichkeit. Während Ursel auch hierin Annemaries echte Tochter war, und mit der Zeit ebensowenig rechnete, wie mit andern Dingen.

Längst stampfte Hans dem Bahnhof zu, als Ursel es endlich doch für angemessen hielt, sich vom Frühstück zu erheben.

»Leb wohl, meine kleine Muzi. Nun vertreibt man mich aus dem Paradies meiner Kindheit. In die Heimat kehren wir wieder«, begann sie aus dem »Troubadour« zu trällern, während sie das Strohhütchen vor dem großen Pfeilerspiegel in der Diele möglichst kleidsam auf das Goldhaar drückte.

»Geh nur erst mal, Ursel, mit dem Heimkehren hat es wirklich noch Zeit.« Selbst die Mutter, deren Tugend Pünktlichkeit niemals gewesen war, setzte Ursels Saumseligkeit in gelinde Aufregung.

»Ursel, es ist mir geradezu peinlich, wenn du meinen Freund, den Bankdirektor Hildebrandt, der dich liebenswürdigerweise, ohne jede Vorkenntnisse, nur mit dem Schulreifezeugnis in das Bankfach eintreten lassen will, gleich am ersten Tag durch Unpünktlichkeit enttäuscht. Das wirft halt ein schlechtes Licht auf die Zuverlässigkeit meiner Tochter.« Professor Hartenstein war auf die Veranda hinausgetreten und zog stirnrunzelnd die Uhr.

»Das wird nicht die einzige Enttäuschung sein, die ich ihm bereite.« Die Ursel war wirklich ein ungezogenes Ding. Ungeachtet all ihres Liebreizes konnte es sich Frau Annemarie nicht verhehlen. Ja, es zuckte sogar in der mütterlichen Rechten wie früher, wo es rasch mal einen Klaps bei Annemaries impulsiver Art gesetzt hatte. So weit kam es heute nicht. Im Gegenteil, Ursel küßte die Mutter so zärtlich, als gelte es einen Abschied für Jahre. Dann bekam auch der Vater seinen Kuß. »Leb wohl, du Rabenvater«, – leichtfüßig sprang sie die Stufen zum Garten hinab, taufrisch wie der junge Maimorgen.

»Ein Mordsmädel – na, dir werden sie die Flötentöne im Ernst des Berufslebens schon beibringen.« Mit Vaterstolz blickte Rudolf Hartenstein, trotzdem er noch eben ärgerlich festgestellt hatte, daß Ursel den in zweieinhalb Minuten abgehenden Zug unmöglich mehr erreichen konnte, seiner hübschen Jüngsten nach.

»Gut, daß ich ihr eine halbe Stunde früher angegeben habe, als sie tatsächlich antreten soll. Ich hab' halt schon mit ihrer ererbten Unpünktlichkeit gerechnet.« Annemarie kam nicht dazu, auf die Neckerei ihres Mannes zu entgegnen. »Cäsar – hierher – hierher – Cäsar – –«; der Professor pfiff dem Hunde, der fröhlich blaffend seiner jungen Herrin nachsetzte.

Cäsar war ebensowenig folgsam wie diese. Er stellte sich taub gegen die befehlende Stimme seines Herrn. Nur um so rasender jagte er davon, an Ursel vorüber bis zur nächsten Straßenecke, wo er sie, triumphierend mit dem Schwanze wedelnd, erwartete.

»Zurück, Cäsar – geliebte Hundetöle, ich darf dich doch nicht in meinen Kerker mitnehmen!« Zärtlich klopfte Ursel den Hals des vierbeinigen Freundes.

Tü–i–i–i–i–i–i – ein schriller Lokomotivschrei.

»Fort ist sie – haste nicht gesehen!« Mit Gemütsruhe blickte Ursel der in einiger Entfernung davondampfenden Eisenschlange nach. »Na, denn nicht! Es ist entschieden angenehmer, hier in den Anlagen auf der Bank den schönen Morgen zu genießen, als in der Dresdner Bank über Zahlen zu schwitzen. Also ein Viertelstündchen können wir noch beisammen bleiben, Cäsar. Aber dann bist du brav und trollst dich heim, gelt? Schau, eine Bank ist ein ebenso gräßliches Institut wie eine Schule, da lassen sie dich nicht hinein, meine geliebte Töle.« So unterhielt sich Ursel mit Cäsar, der mit klugen Augen zu ihr aufblickte.

Aber bei all seiner Hundeintelligenz hatte er doch wohl nicht so recht begriffen, daß seine junge Herrin einen ebenso ernsthaften Weg ging, wie früher in die Schule. Sie trug ja keine Ledertasche mit Schulbüchern, folglich stand es ihm frei, ihr das Geleit zu geben. Nur die Schultasche hielt Cäsar in respektvoller Entfernung.

Vergeblich schauten der Professor und Frau Annemarie bei ihrem gemeinsamen, jetzt nur noch durch melodischen Vogellaut unterbrochenen Frühstück nach dem Durchgebrannten aus.

»Du, Rudi, die Ursel wird den Köter doch nicht etwa in ihren neuen Wirkungskreis mitnehmen?« meinte die Gattin schließlich bedenklich.

Rudolf Hartenstein lachte. »Da brauchst dir keine grauen Haare drum wachsen zu lassen, Herzle. So arg treibt's die Ursel nimmer. Das wagt sie bei all ihrem Übermut, all der Keckheit, die sie von ihrer Frau Mutter geerbt hat, doch wohl nicht. Ein wenig Verständigkeit wird sie ja auch wohl von mir mitbekommen haben.« Bei jeder Gelegenheit zog der Professor seine Frau mit ihrem jungen Ebenbild auf und freute sich, wenn sie lebhaft Einspruch erhob.

»Als ob ich jemals ein so unvernünftiger Springinsfeld gewesen bin, Rudi. Das heißt, unser Puck, Gott habe ihn selig, hat mir auch am ersten Schultag das Geleit in die Klasse gegeben und dort große Revolution verursacht.«

»Also schau, wie die Alten sungen, zwitschern die Jungen«, neckte der Professor weiter.

»Aber nein, die Ursel ist ja doch zehn Jahre älter, als ich damals gewesen, die muß doch verständiger sein. Wenn sie ihn bloß heimschickt, den Cäsar. Er müßte doch schon längst zurück sein, meinst du nicht, Rudi?«

»Wird halt auch Frühlingsgefühle haben und zarte Fäden zu irgendeiner Hundeschönen anspinnen. Ein Köter hat schließlich auch eine fühlende Brust. Weißt, Weible, an solchem wonnigen, sonnigen Maimorgen werden selbst so alte Eheleut, wie wir zwei beid, wieder jung, gelt, meine Alte?«

»Na, erlaube mal!« Energisch machte sich Annemarie aus dem sie umfangenden Arm Rudis frei. »Alte – ja, das kommt davon, wenn eine junge Frau einen alten Mann heiratet, der bald sein halbes Jahrhundert auf dem Buckel hat. Ich fühle mich heute noch genau so jung wie damals, als uns die Obstbäume hier in unserem lieben Nest zum erstenmal mit ihrem rosigen Blütenregen überschütteten, als noch der verschleierte Wiegenkorb mit irgendeinem quäkenden Etwas unter der maigrünen Linde stand. Wenn die erwachsenen Kinder nicht wären, die einem unbarmherzig den Zeitenspiegel vorhalten – ich glaube, ich wäre sogar fähig, noch dieselben Dummheiten zu machen wie dereinst.«

»Sag ich's nicht, solch Maimorgen wirkt verjüngend wie ein Jungbrunnen. Da sitzen und schwatzen wir, als ob wir noch in den Flitterwochen wären, anstatt uns in den Kampf des Lebens zu stürzen. ›Auf in den Kampf, Torrero‹«, die Melodie aus »Carmen« pfeifend, begab sich der Professor zur Frühsprechstunde.

»Die musikalische Ader und die Vorliebe zur Oper hat die Ursel nun schon ganz gewiß vom Rudi. An dieser erblichen Belastung bin ich, dank meines unmusikalischen Sinnes, gottlob schuldlos. Die kommt auf Rudis Konto«, frohlockte Annemarie. Ehe sie selbst sich an die vielverzweigte Arbeit des Haushalts, die ihrer wartete, begab, trat sie noch für einige Minuten an das Gartenportal, ob denn Cäsar sich noch immer nicht zeigen wollte. Straßauf, straßab kein braun geflecktes Fell, kein Cäsar zu erblicken. Lichtgrüne Wipfel, Sonnengespinst, Vogelgezwitscher und Insektengesurr.

Bis zur letzten Minute hatte Ursel in den Bahnhofsanlagen den schönen Maimorgen genossen. Erst als der nächste Zug in die Station eindampfte, verfiel sie in Trab. Sie konnte gerade noch in den sich bereits langsam wieder in Bewegung setzenden Zug hineinspringen. Und hinter ihr sprang es, trotz ihres »Zurück, Cäsar!« hinein mit vier braunen Hundebeinen, trotz des lauten Protestes des an der Sperre stehenden Beamten: »Der Hund hat ja keine Fahrkarte!« Drin war er, der Cäsar, zur nicht besonderen Freude der Fahrgäste sowohl wie zu Ursels eigener.

»Der Hund gehört ins Hundeabteil – solch großen Köter dürfen Sie überhaupt nicht hier mit reinbringen, der belästigt ja die Mitfahrenden«, beschwerte sich ein älterer Herr, der augenscheinlich noch nicht recht ausgeschlafen hatte. Er schaute ebenso scheel auf den gemütlich sich an sein Knie schmiegenden Cäsar, wie in den Frühlingsmorgen hinaus.

»Ich kann nichts dafür, wenn die Töle hinterdrein kommt«, verteidigte sich Ursel, trotzdem sie ebenfalls ganz und gar nicht von Cäsars Gesellschaft begeistert war. »Und überhaupt – wenn hier kein Hundeabteil ist, ein Raucherabteil ist es ebenso wenig.« Mit nicht mißzuverstehendem Blick schaute sie von der dampfenden Zigarre des unfreundlichen Herrn zu dem Schild »Nichtraucher«.

»Na, nu hört sich ja wohl Verschiedenes auf!« Mit grenzenlosem Erstaunen sah der Herr auf das junge Persönchen, das sich so keck zur Wehr zu setzen wußte. »Ja, das ist die Jugend von heute – keinen Respekt mehr vor dem Alter – ja, ja, dann ist es natürlich kein Wunder – –«

Was kein Wunder war, wurde von einer großen Dampfwolke, die er ingrimmig hervorstieß, verschlungen.

»Herrjott, der Hund is doch keene wilde Bestie nich, vor den brauchen Se sich doch jar nich so zu haben«, schlug sich ein Mann in blauer Arbeitsbluse auf die Seite des hübschen Fräuleins. »Lassen Se man, Freileinchen, von unseretwejen können Se mit Ihre Hundetöle janz ruhig drin bleiben«, begütigte er.

Ursel hatte das deutliche Gefühl, daß weder Vater noch Mutter mit ihrem Benehmen einverstanden gewesen wären. Auch mehrere Herren und Damen, die scheinbar kaum Notiz von dem Zwischenfall nahmen, hielten sie gewiß für einen Frechdachs. Trotzdem blieb Ursel ruhig mit Cäsar in dem ihm nicht zustehenden Abteil, während ihr Gegner mit der gleichen Selbstverständlichkeit seine Morgenzigarre weiterrauchte.

Ganz andere Sorgen hatte die Ursel. Mit gefurchter Stirn schaute sie hinaus in das Blühen ringsum. Was fing sie nur mit Cäsar an? Ein Billett würde sie ihm nachlösen müssen, das war das wenigste. Aber was weiter? Unmöglich konnte sie doch ihren Einzug in ihr neues Tätigkeitsfeld mit dem Vierfüßler halten. Herr Bankdirektor Hildebrandt, bei dem sie sich melden sollte, würde Augen machen. Nein, das ging auf keinen Fall. Hätte sie nur die Zeit, wo sie in den Anlagen gedöst hatte, dazu benutzt, den Ausreißer wieder nach Hause zu spedieren. Nun hatte sie den Salat. Wohin, wohin bloß mit Cäsar?

Zu Edith Rosen – Edith selbst war zwar bestimmt nicht zu Hause; die Freundin besuchte seit April ein Maleratelier. Aber Frau Rosen würde Cäsar wohl inzwischen in Pension nehmen – nein, es ging doch nicht. Eine halbe Stunde verlor sie mit dem Hin und Her sicher noch. Dann lohnte es sich schon gar nicht mehr, heute in der Bank anzutreten. Halt – das war eigentlich ein Gedanke – das war wirklich eine glänzende Idee! Am Ende verzichtete der Bankdirektor dann überhaupt auf ihre Tätigkeit, dann war sie den ganzen Krempel los. Ja, aber der Vater ... er konnte manchmal recht unangenehm werden. Und in diesem Falle würde er ganz bestimmt annehmen, daß sie sich von der neuen Tätigkeit habe drücken wollen, daß sie den Hund mit Vorbedacht mitgenommen habe. Da würde alle gütige Vermittlung ihrer kleinen Muzi nicht mal etwas nützen. Nee – nee – das ging nicht. Alle Verwandten und Freunde, deren Obhut sie den Köter hätte anvertrauen können, wohnten zu entfernt. Es half nichts, Cäsar mußte mit als Banklehrling antreten.

Inzwischen waren die Gärten der Vorstadt draußen armseligen Laubenkolonien gewichen, bis auch diese verräucherten Häusern, rußigen Schornsteinen Platz machten. Berlin war erreicht.

Bis zu dem Bankinstitut hatte Ursel immerhin noch eine Viertelstunde zu Fuß zurückzulegen. Dasselbe befand sich im Herzen der Stadt. Das junge Mädchen beeilte sich nicht sonderlich. Das große Warenhaus von Wertheim, an dem sie vorüber mußte, fesselte mit seinen verlockenden Auslagen ihren für alles Schöne und Elegante nur allzu empfänglichen Blick. Ach, wer sich das alles leisten konnte! Nicht einmal ihre Mutter verstand sie in diesem Punkt. Selbst die begriff es nicht, daß Ursel eine derartige Vorliebe für alle luxuriösen Dinge hatte, und das Kleidsame und Praktische dem verwöhnten jungen Dämchen durchaus nicht genügte. Vronli in ihrer rührenden Einfachheit war wirklich besser dran. Die sehnte sich nicht einmal nach dem tausenderlei Krimskram, welcher der Jüngeren begehrenswert erschien. Die war mit ihrem blauweißgestreiften Schwesternkleid vollständig zufrieden.

Wenn sie in der Bank erst Gehalt bezog, konnte sie sich so mancherlei davon leisten. Zuerst ein elegantes Handtäschchen ... dann Spangenlackschuhe ... vornehmes Parfüm ... seidene Strümpfe brauchte sie auch ... oh, Ursel wußte schon, wie sie ihre Kapitalien anlegen würde. Dazu aber war es vor allem nötig, daß sie Anstalten dazu machte, diese Kapitalien erst mal zu verdienen. Schweren Herzens löste Ursel den Blick von all den märchenhaften Herrlichkeiten und setze ihren Weg in das Geschäftszentrum Berlins fort.

Ein stattliches Gebäude war es, vor dem sie haltmachte.

»Also hinter diesen Mauern soll ich lebendig begraben werden«, dachte sie mit schwerem Seufzen.

Nun, wie ein Gefängnis oder gar wie ein Grabgewölbe sah die Bank wirklich nicht aus. Eine vornehme Fassade, ein reiches Portal, in dem eine vierteilige Glastür in ständig kreisender Bewegung war.

Ursel griff in Cäsars Halsband. »Wie Lohengrin mit seinem Schwan halte ich hier meinen Einzug mit der Töle«, dachte sie belustigt.

Cäsar nahm mit seinem stattlichen Wuchs zuviel Platz in Anspruch. Sie gingen nicht alle beide in ein Türabteil hinein, sondern mußten sich trennen. Dem Hunde, der rotierende Türen noch nicht kannte, war es höchst ungemütlich in dem karussellartigen Ding. Er jaulte herzbrechend durch das trennende Glas zu seiner Herrin hin. Die lachte aus voller Kehle und drehte die Tür nur immer schneller. Sie dachte nicht daran, daß sie als Banklehrling möglichst würdig hier auftreten mußte. In ausgelassenem Übermut drehte sie sich mit dem heulenden Köter endlos im Kreise – immer schneller – immer schneller. – –

»Na, das is ja hier noch schöner! Unsere Bank is doch kein Jahrmarkt nich! Jehen Se doch auf'n Rummelplatz, wenn Sie solche Kindereien treiben wollen. Und halten Sie hier die Leute, die mehr zu tun haben, nich auf!« Die Tür stand plötzlich durch energischen Griff still. Vor Ursel erschien ein schmächtiges Männchen, der Pförtner, der als Zerberus den Eingang bewachte. Jetzt erst bemerkte Ursel, daß sich bereits eine ganze Menge Leute jenseits und diesseits der Tür angesammelt hatten, die hinein oder hinaus wollten, und, teils belustigt, teils murrend, dem goldhaarigen Zeitversäumnis zuschauten.

»Was wollen Sie denn hier überhaupt?« Der Pförtner war davon überzeugt, daß das kindische junge Ding die Tür seiner ehrfurchtgebietenden Bank lediglich als Karussell benutzte. »Hunde haben hier überhaupt keinen Zutritt nich«, versuchte er den immer noch herzbrechend jaulenden Cäsar zu übertönen.

»Ich möchte zu Herrn Bankdirektor Hildebrandt, er erwartet mich«, sagte Ursel, ihr schlankes Figürchen respektheischend emporreckend.

Der Name wirkte wie ein Zauberschlüssel. »Zum Herrn Bankdirektor« – ein Bückling erfolgte – »aber natürlich« – wieder ein Bückling – »bloß – –« der Mann kratzte sich seinen graumelierten Kopf – »erwartet der Herr Bankdirektor denn auch den Köter?«

»Nein.« Als wahrheitsliebendes Mädchen konnte Ursel diese Frage unmöglich bejahen.

»Na, denn jeben Sie'n doch inzwischen bei mir in der Garderobe ab, den Köter; du bist ein braver Kerl, du bist ein schöner Kerl, jawohl – –« Selbst für Cäsar erweckte der Name des Direktors Sympathien.

Dieselben waren leider nicht gegenseitig. Cäsar knurrte den fremden Mann an und schnappte nach seiner streichelnden Rechten.

»Ih, du bist ja ein ganz – –« Weitere Gemütsausbrüche ließen die Beziehungen, welche den Hund oder vielmehr seine Besitzerin mit dem König im Reiche der Zahlen verband, nicht zu.

»Kusch dich, Cäsar!« Ursel befestigte ihren vierfüßigen Begleiter an einen Haken und folgte dem Pförtner über das vornehm ausgestattete Vestibül zum Fahrstuhl. Noch in der zweiten Etage hörte sie Cäsars Jammern hinter sich her. Treppe, Gänge, Türen – ein vielverzweigtes Labyrinth. Schließlich blieb ihr Führer vor einer der Eichentüren, welche den Namen Hildebrandt trug, stehen. »Wen darf ich melden?« fragte er.

»Fräulein Ursula Hartenstein.«

Gleich darauf stand Ursel in einem eleganten, mit dunkelgrauem Plüschteppich ausgelegten Arbeitsraum. Sie empfand keine Spur von Beklommenheit. Mit großen Augen musterte sie den bereits kahlköpfigen Herrn, der ihr entgegentrat.

»Ah, also da wären Sie ja. Hildebrandt – freue mich, die Tochter meines lieben Professors kennenzulernen.« Ursels Hand wurde wohlwollend gedrückt. »Also Sie wollen bei uns als Banklehrling eintreten.« Ursel hatte keine Zeit zu widersprechen, denn der Direktor fuhr bereits fort: »Schönchen. Sie sollen Gelegenheit haben, sich in allem, was zum Bankfach gehört, gründlich auszubilden. Soll mich freuen, wenn Sie sich bei uns wohlfühlen werden.«

»Sicher nicht«, dachte die unverbesserliche Ursel, trotz des freundlichen Empfangs.

»Vielleicht kann ich Sie später, wenn Sie erst mal das Abc des Bankwesens intus haben, zu meiner Sekretärin heranbilden. Aber vorläufig heißt es lernen – lernen – wofür interessieren Sie sich denn am meisten?«

»Für Gesang, besonders für die Oper«, gab Ursel, ohne zu überlegen, zur Antwort.

»Hahaha – na, das kommt für uns hier weniger in Betracht. Ich glaube, Sie hätten vielleicht den Wunsch, in eine bestimmte Abteilung unserer Bank einzutreten. Also kommen Sie, ich werde Sie bekannt machen und in Ihren neuen Wirkungskreis einführen.« Der Direktor sprach schnell in nervöser Hast. Ursel kam, was ihr nicht oft passierte, gar nicht zu Wort.

Der Fahrstuhl brachte sie wieder in die untere Etage, in welcher die Bureaus lagen. Zu einem großen hellen Raum mit vielen Pulten, Tischen, Büchern und schreibenden Händen öffnete Direktor Hildebrandt die Tür.

»Herr Müller« – ein Herr erhob sich von einem Pult, rückte die Brille zurecht und dienerte – »ich stelle Ihnen hier unseren jüngsten Banklehrling, Fräulein Ursula Hartenstein, vor. Ein unbeschriebenes Blatt ohne jede Vorkenntnisse. Ihren bewährten Händen vertraue ich sie an – Sie werden sicher eine tüchtige Bankbeamtin aus der jungen Dame machen.«

Die junge Dame schüttelte sich innerlich bei dem Wort »Bankbeamtin«, während Herr Müller dem neuen Banklehrling die Hand reichte und versprach, sein möglichstes zu tun.

»Hoffe, Gutes von Ihnen zu hören, Morjen!« Der Bankdirektor verabschiedete sich. Herr Müller übernahm die Vorstellung der übrigen Damen und Herren, wohl zwanzig an der Zahl. Manch bewundernder Blick streifte die reizende neue Kollegin. Das war für die junge Evastochter immerhin eine kleine Aufmunterung. Während sie ihre Sachen ablegte, machte Herr Müller einen Tisch neben sich frei. »So, Fräulein Hartenstein, hier ist Ihr Reich, wenn ich bitten darf. Alle notwendigen Schreibutensilien finden Sie in den Kästen vor. Sie können erst mal Adressen ausschreiben und die Briefe hier kuvertieren, wenn ich bitten darf. Die Namen stehen auf diesen bereits fertigen Formularen. Adressen finden Sie in dem Register, nach Buchstaben geordnet. Lassen Sie die Umschläge offen, wenn ich bitten darf, daß sie noch einmal nachgeprüft werden können.«

Da saß er nun, der jüngste Banklehrling, blickte von dem Stoß Briefumschlägen vor sich auf all die gesenkten Köpfe und emsig schreibenden Finger ringsum und seufzte zentnerschwer.

O Gott – Stunden, Tage, Monate, Jahre, vielleicht ihr ganzes Leben sollte sie hier unter all den rechnenden und schreibenden Menschen zubringen? Schließlich auch solch eine lebendige Arbeitsmaschine werden wie die da alle – nein – nein – das hielt sie nicht aus.

War es nicht das Richtigste, sie fing gar nicht erst an, sondern ging gleich wieder davon? Es war ja nur unnütze Zeitverschwendung, führte ja doch zu nichts. Aber hatte sie nicht ihrer kleinen Muzi zu Hause versprochen, des Vaters Wünsche nach bestem Willen zu erfüllen? Na also – los!

Ursel zückte die Feder und tauchte sie in das Tintenfaß: »Herrn Oskar Futter«, begann sie auf den Briefumschlag mit ihrer genial ungleichmäßigen Schrift hinzuwerfen. Wo wohnte er denn nun bloß, dieser Herr Oskar Futter, der sie in der ganzen Welt doch wirklich nichts anging? Er kümmerte sich auch nicht darum, wo sie wohnte. Rankestraße 9 – hm, elegante Gegend. Wer kam nun dran? Frau Emilie Binder – Herrgott, war das zum Auswachsen mopsig. Adresse um Adresse, Brief um Brief. Endlos. Stille ringsum – nur Federgekritzel, gedämpftes Schreibmaschinengerassel aus dem Nebenraum. Und draußen goldener Maisonnenschein, blühende Sträucher, Vogelsang – war sie nicht wirklich hier hinter Mauern eingesperrt, lebendig begraben? Wie hielten es die andern Damen und Herren nur aus? Waren sie schon so abgestumpft, daß sie das Trostlose ihrer maschinellen Tätigkeit gar nicht mehr fühlten? Sahen doch eigentlich ganz nett aus, besonders die jungen Mädel. Hübsch und schick angezogen, Ursel hatte das mit einem Blick heraus. Und der Herr da vor ihr – wo hatte sie den bloß schon gesehen? Er hatte einen Leberfleck an der Schläfe. Ursel wußte genau, daß sie besagten Leberfleck in ärgerlicher Gemütsstimmung schon mal betrachtet hatte. Richtig – in der Bahn heute morgen, als sie wegen Cäsar mit dem griesgrämigen Herrn den Wortwechsel gehabt hatte. Also der war Zeuge ihrer dreisten Antwort gewesen. Hoffentlich hatte er sie nicht wiedererkannt. Immer neue Namen – gleichmäßig wie Wellen überschwemmten sie Ursels Denkvermögen, ebenso einschläfernd wirkend wie diese. »Hu–ah–hu–u–uh – – –« durch die Stille klang es in herzbrechendem Gähnen.

»Nanu?« Herr Müller schob die Brille zurecht. Lachende Gesichter wandten sich dem Pult zu, wo der goldhaarige Lehrling den Mund so weit aufriß, wie es nur anging.

»Hu–ah–« es war ein reiner Krampf, der Ursel befallen. Obgleich sie sich Mühe gab, das ungehörige Gähnen zu unterdrücken, es ließ sich nicht bekämpfen. In allen Tonarten stieß sie ihr »Hu–ah–uh–« aus. Die Heiterkeit war nicht länger zu bändigen. Alles lachte. Die würdigen alten Beamten sowohl mit den zerknitterten Pergamentgesichtern, wie die jungen.

Auch Ursel lachte mit, sobald ihr der Gähnkrampf die Möglichkeit dazu ließ. Glockenhell klang es durch den Raum, der plötzlich gar nicht mehr so ernsthaft ausschaute.

»Fräulein Hartenstein ist die einförmige Bureautätigkeit noch nicht gewöhnt; vielleicht treten Sie mal einen Augenblick ans offne Fenster«, riet einer der jüngeren Herren.

»Ja, ans offne Fenster!« Ursel hatte ein Gefühl, als ob sie wie ein gefangener Vogel davonfliegen könnte.

»Essen Sie etwas, Fräulein Hartenstein«, empfahl eine Brünette mit klassischem Profil.

Ursel tat, was man ihr so freundlich geraten. Sie trat an das geöffnete Fenster und nahm einige Bissen ihres Frühstücksbrotes. In einen kahlen Hof blickte sie, kein Baum, kein Strauch darin. Kaum ein schmaler Sonnenstreif wagte es, einzudringen, als sei der Frühling ein für allemal hier ausgesperrt. Puh – gräßlich!

Der Gähnkrampf ließ nach, aber Ursels Stimmung hob sich nicht. Mit unfrohen Augen begab sie sich wieder an ihre Schreibereien. Wahre Zuchthausarbeit – sie hatte die größte Lust, die schönen, sauberen Umschläge, die auf sie warteten, alle zu zerknittern.

»Akkurater, Fräulein Hartenstein, wenn ich bitten darf«, ließ sich da neben ihr Herr Müller vernehmen, der den neuen Lehrling, trotzdem er unausgesetzt schrieb, im Auge behielt. »Die Adressen müssen eine gleichmäßige, gut leserliche Schrift aufweisen, wenn ich bitten darf.« Ungeachtet seiner Höflichkeit fühlte Ursel den Tadel des Vorgesetzten heraus.

»Besser kann ich nicht schreiben«, kam es ziemlich patzig von den Lippen des blonden Lehrlings zurück. Das wäre ja noch schöner, wenn sie hier noch wie ein Schulkind Schönschrift lernen sollte. Da mochte man sie doch lieber gleich als unbrauchbar wieder heimschicken, dann war ihnen allen beiden geholfen. Ursel machte einen so temperamentvollen Grundstrich, daß die Feder ausspritzte und mehrere Kuverts verdarb. Sie schielte ein wenig schuldbewußt zu Herrn Müller hin. Aber der schrieb ... schrieb und rechnete, er nahm scheinbar gar keine Notiz von ihr.

Nur langsam verringerte sich der Stoß Briefumschläge. Ursel strengte sich nicht sonderlich an, hatte auch wichtigeres zu tun, ihre Kollegen und Kolleginnen einer eingehenden Prüfung zu unterziehen und dazwischen Stoßseufzer in die Luft zu senden.

Elf Uhr – Frühstückspause. Überall erschienen knisternde weiße Päckchen auf der Bildfläche. Man verließ seinen Platz und unterhielt sich ungezwungen. Überall sah man kauende, schwatzende und lachende Gruppen. Ursel kam sich als Neuling recht verlassen vor. Sie war es gewöhnt, sonst stets den Mittelpunkt zu bilden. Sie fühlte sich vernachlässigt, zurückgesetzt, nicht genügend gewürdigt, und ihre Empfindungen für das Bankwesen wurden dadurch keineswegs freundlicher.

Da gesellte sich der Herr mit dem Leberfleck zu ihr.

»Ich irre mich wohl nicht,« sagte er lächelnd, »wir sind uns heute morgen schon im Zuge begegnet, nicht wahr?«

Ursel bejahte lebhaft. Es war ihr jetzt ganz gleich, daß sie sich dort nicht gerade von ihrer besten Seite gezeigt hatte. Sie war froh, daß sich jemand um sie kümmerte.

»Wo haben Sie denn Ihren vierfüßigen Freund gelassen? Soll der auch Banklehrling werden?«

»An einem von uns ist es schon mehr als zuviel«, gab Ursel schlagfertig zurück. »Obwohl ich glaube, daß er sich immerhin noch besser dazu eignet, als ich.«

»Nun – nun«, meinte der Leberfleckherr. »An einem Tage ist Rom auch nicht erbaut worden. Sie sehen aus, als ob Sie eine ganz tüchtige Kraft werden können.«

»Das ist durchaus kein Kompliment für mich – ganz im Gegenteil«, protestierte Ursel.

»So ungern sind Sie hier eingetreten?« verwunderte sich die brünette junge Dame, sich zu den beiden gesellend. »Ich kann mir kaum eine interessantere kaufmännische Tätigkeit denken, als gerade das Bankfach, nicht wahr, Herr Rumpler?«

Herr Rumpler mit dem Leberfleck bejahte eifrig. Ursel sah die beiden an, als ob sie von einem anderen Planeten herstammten. »Finden Sie in der Tat dieses hirntötende Kuvertausschreiben interessant?«

»Das sind doch nur die Anfangsgründe, Fräulein Hartenstein. Nachher kommt es interessanter. Berechnungen, Buchungen, Kontoauszüge, und wenn Sie erst in die Effektenabteilung kommen – – –«

»Brrr« – Ursel schüttelte sich. »Nee, soweit darf es ganz gewiß nicht mit mir kommen. Bis dahin bin ich hoffentlich schon bei der Oper.«

»Wa–as?« Herr Rumpler und das dunkelhaarige Fräulein machten nicht gerade geistreiche Gesichter. »Zur Oper wollen Sie? Und dann gehen Sie als Vorbereitung dazu zur Bank – –«

»Ich werde gegangen – auf höheren väterlichen Befehl! Aber ich hoffe, sie werden es hier bald einsehen, daß an mir Hopfen und Malz verloren ist, und mich wieder an die Luft setzen«, frohlockte sie.

»Das hoffe ich nicht!« Es war Herrn Rumpler durchaus Ernst damit, denn er fand den neuen Banklehrling ganz allerliebst.

Die Frühstückspause war zu Ende. Schade. Gegen dieselbe hatte Ursel nichts einzuwenden. Alles saß wieder an seiner Arbeit. Aber von Pult zu Pult flog es, daß der neue Lehrling zur Oper wolle, daß er auf der Bank nur eine Gastrolle gäbe. Von Pult zu Pult nahm die Nachricht neue Gestaltung an, und als sie das letzte Ohr erreicht hatte, da war aus Ursel Hartenstein bereits eine berühmte Opernsängerin geworden, die sich in der Bank nur einige kaufmännische Kenntnisse erwerben wollte. Man tuschelte, man drehte die Köpfe nach ihr. Jeder hatte es plötzlich herausgefühlt, daß ein besonderer Nimbus dieses goldhaarige, blutjunge Mädchen umgab. So ein gewisses Etwas – was sich nicht in Worten ausdrücken läßt.

Ursel ahnte nicht, daß ihre harmlos hingeworfene Bemerkung solchen Aufruhr in das Gleichmaß der regelmäßigen Bureautätigkeit gebracht hatte. Die schrieb ihre endlosen Adressen weiter, schimpfte und tobte dabei innerlich. Herr Müller sagte nicht mehr »akkurater, wenn ich bitten darf«, trotzdem das mehr noch als vorher nötig gewesen wäre. Denn Ursel ließ all ihren heimlichen Zorn, ihren gebändigten Freiheitsdrang an den unschuldigen Buchstaben aus. Aber einer Künstlerin konnte man geniale Schrift schon nachsehen. Die wollte hier nur soviel lernen, als es ihr Spaß machte, darum hatte Direktor Hildebrandt sie auch persönlich empfohlen. Wer weiß, wer sich hinter dem Namen Hartenstein eigentlich verbarg. Es sollten ja jetzt lauter junge Kräfte an der Oper sein.

Als die Mittagspause herankam, in welcher die meisten der Bankbeamten ein warmes Essen in der Kantine, die zur Verpflegung der Angestellten eingerichtet war, einnahmen, sah sich Ursel plötzlich zu ihrem größten Erstaunen von allen Seiten umdrängt. Jeder bemühte sich um sie, jeder versuchte, ihr gefällig zu sein. Die jungen Damen rissen sich darum, mit ihr an einem Tische zu sitzen, die Herren fragten dienstbereit nach ihren Wünschen. Ursel war plötzlich der Mittelpunkt des fremden Kreises geworden. Dies behagte ihr sehr. Ihre Eitelkeit war geschmeichelt, sie war bestrickend liebenswürdig und bezauberte alle. So unbefangen und sicher benahm sich sonst ein so junges Mädchen nicht, das war sicher Künstlerblut. Es ging recht fidel an dem langen Tisch in der Kantine zu, als ob ein Fest gefeiert würde. Mit großen Augen blickten die Damen und Herren aus den übrigen Abteilungen auf den Neuling, der solche Umwälzung in dem vornehm zurückhaltenden Ton, der sonst hier zu herrschen pflegte, gebracht hatte. Bis auch sie eingeweiht waren, daß die Bank die Ehre hatte, eine Opernsängerin unter sich zu sehen.

»Welche Partien singen Sie, Fräulein Hartenstein? Sopran oder Altarien?« erkundigte sich eine der Damen.

»Alles durcheinander, wie mir der Schnabel gewachsen ist.« Ursel begann in ihrer angeregten Stimmung »kommt ein schlanker Bursch gegangen« aus dem Freischütz zu trällern. Wer noch irgendeinen Zweifel an der Künstlerlaufbahn der jungen Dame gehegt hatte, war jetzt bekehrt.

Plötzlich unterbrach sich Ursel: »Himmel, Cäsar, mein armes Hundeviech – ich lasse es mir hier wohl sein und der arme Kerl kann hungern. Jetzt muß Cäsar erst gespeist werden.« Die Mitteilung, daß Ursel ihren Hund mitgebracht und beim Pförtner abgegeben habe, erhöhte die Heiterkeit. Künstlerinnen waren stets originell. Man sammelte für Cäsar sämtliche Reste. Eine stattliche Korona zog mit ihr hinaus, um Cäsars Diner beizuwohnen.

Der Anblick seiner Herrin löste ein wildes Freudengeheul bei dem Köter aus. Mit Ingrimm hatte er sich ebenso seiner Freiheit beraubt gefühlt, wie sie bei ihren Briefadressen. Als einer der Herren ihn jetzt losband, gebärdete er sich wie toll, er riß Ursel mit seinen Liebesbezeigungen nach der stundenlangen Vernachlässigung fast um. Bis die Mahlzeit eine noch größere Anziehungskraft als sie auf ihn ausübte. Es war ein solcher Tumult, daß einer der Direktoren, der das Vestibül gerade passierte, kopfschüttelnd meinte: »Ei – ei, hier scheint es ja recht fidel zuzugehen. Es ist Zeit, die Bureaus aufzusuchen, meine Damen und Herren.«

Ursel fühlte sich von dem versteckten Vorwurf, der den andern recht peinlich war, durchaus nicht getroffen. Sie fand es augenblicklich ganz reizend an der Bank mit all den netten Damen und Herren. Aber als sie dann wieder bei ihren Adressen saß, ebbten die hochgehenden Wogen ihrer Begeisterung allmählich ab.

»Hören Sie, mit der kleinen Hartenstein müssen wir uns verhalten, da kann man Freibillette zur Oper bekommen, die jetzt sonst nicht mehr zu erschwingen ist«, flüsterte eine der Damen einer Kollegin zu.

»Ich habe sie gefragt, worin sie das nächstemal auftritt, da hat sie mich ausgelacht. Sie sei noch gar nicht ausgebildet, sagte sie, das sei doch alles nur Zukunftsmusik.«

»Bescheidenheit, pure Bescheidenheit. Sie will ihr Inkognito gewahrt sehen. Verlassen Sie sich darauf.«

Ursel ahnte nicht, daß Frau Fama, die geschwätzige, sie bereits in eine Primadonna verwandelt hatte. Die Anzapfungen der Kollegen betreffs ihrer Opernlaufbahn hatte sie für Scherz und Neckerei genommen und war voll Übermut darauf eingegangen.

Augenblicklich beschäftigte sie sich damit, festzustellen, daß der kleine Goldzeiger an der Armbanduhr, die sie von der Großmama zum letzten Geburtstag erhalten, nicht von der Stelle wollte. Himmelbombenelement – kam denn nichts, um sie aus diesem Stumpfsinn zu erlösen?

Da – ein Kratzen an der Tür – ein herzbrechendes Winseln. Ursel machte ein spitzbübisches Gesicht. Das kannte sie. Einer öffnete die Tür, zu sehen, was es gäbe. Und da kam es auch schon hereingestürmt, hellbraun und weißgefleckt, ein Riesenköter – mit lautem Freudengeheul raste er an all den Schreibpulten vorüber, riß Herrn Müller fast von seinem hohen Bock, daß seine Brille bedenklich ins Wanken kam, und stürzte sich auf den jüngsten Banklehrling. Das Tintenfaß flog um und ergoß seine düsteren Fluten über Ursels in stundenlanger Pein fabrizierte Briefe. Die hielt sich die Seiten vor Lachen, während Cäsar mit tollem Gekläff die glücklich Aufgefundene umkreiste. Lachend drängten sich die Damen und Herren hinzu. Einen so fidelen Tag hatte die Bank bisher noch nicht zu verzeichnen gehabt. Herr Müller aber, der Abteilungschef, war sich der Würde seiner Stellung durchaus bewußt.

»Ich muß doch sehr um Ruhe bitten«, sagte er höflich zu Cäsar gewandt.

Der hatte wenig Verständnis für Herrn Müllers ausgesuchte Höflichkeit. Nur um so lauter blaffte er.

»Fräulein Hartenstein, wenn ich bitten darf, ist das Ihr Hund?«

»Ja, aber natürlich.«

Nun, so natürlich fand das Herr Müller durchaus nicht, daß man solch eine Riesenbestie ins Bureau mitbrachte. Aber Künstlerinnen waren ja oft überspannt. »Fräulein Hartenstein, in Anbetracht der wiederherzustellenden Ordnung und Ruhe hier halte ich es für das Beste, wenn Sie für heute Schluß machen. Die Briefumschläge sind ja nun doch verdorben.« Er wiegte bedauernd sein Haupt. »Vielleicht haben Sie die Freundlichkeit, mit Ihrem Hund nach Hause zu gehen, wenn ich bitten darf.«

Oh, Herr Müller brauchte durchaus nicht zu bitten. Mit triumphierendem Blick auf die unerledigten Briefe erhob sich Ursel. »Mach schön, Cäsar, bedanke dich!« Ihre eigene Dankbarkeit mußte Cäsar zum Ausdruck bringen.

»Fräulein Hartenstein – Fräulein Hartenstein –.« Herrn Müllers Stimme hielt die spornstreichs zur Tür Eilende auf. »Ich darf Sie wohl noch bitten, Ihre Siebensachen zu verwahren. Die Damen und Herren machen stets vor Schluß auf ihrem Schreibtisch Ordnung, wenn ich bitten darf.« Da erst erinnerte er sich, daß er es ja mit einer Künstlerin, die für Ordnung wohl kaum etwas übrig hatte, zu tun habe.

Ursel aber erinnerte sich daran, daß Mutti daheim sie auch stets zum Aufräumen zurückholen mußte. So gut es bei der Tintenüberschwemmung ging, kam sie Herrn Müllers Wunsch nach.

Und nun stand sie endlich mit dem frohlockend blaffenden Cäsar draußen. Am liebsten hätte sie in sein Freudengekläff eingestimmt. »Lohengrin zieht jetzt wieder mit seinem Schwan ab«, dachte sie lustig. Und zum Erstaunen der Berliner Spatzen sang sie laut auf der Straße: »Nun sei bedankt, mein lieber Schwan.«

So endigte der erste Tag in Ursels Banklaufbahn.


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