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7. Kapitel. Exotische Pensionäre.

In der stillvornehmen Straße in Charlottenburg, in welcher Doktor Brauns einstiges Nesthäkchen das Licht der Welt erblickt hatte, durch welche es seinen Puppenwagen geschoben und mit der Schulmappe einhergehopst war, hatte sich nichts verändert. Spurlos waren die vielen Jahre an derselben vorübergegangen. Kaum daß eins der ziemlich uniform gebauten Häuser ein rissigeres Steinantlitz bekommen. Da war noch derselbe Grünkramkeller, in den Doktor Brauns Nesthäkchen die Hanne mit ihrem Spankörbchen begleitet. Wenn auch jetzt eine andere dicke Grünkramfrau ihre Ware dort feilbot. Da war der Kaufmannsladen an der Ecke mit dem goldenen Zuckerhut und den fliegenumsurrten Bonbongläsern, in dem es so wundervoll nach Hering, Käse, Sauerkohl, Marmelade und Petroleum duftete. Es duftete heute noch genau so dort, wie vor Jahrzehnten. Blondköpfe peitschten wie einst ihren Triesel auf dem Asphalt des Straßendamms, wenn es auch nicht die Braunschen Sprößlinge mehr warm. Da war das Vorgärtchen mit den Mandelbäumchen – ei, die Mandelbäume waren entschieden im Laufe der Jahre gewachsen. Stattliche Kronen hatten sie aufgesetzt. Und der stolze Tulpenbaum, der sie überragte, war auch eine Errungenschaft der Neuzeit. Aber sonst alles noch ganz so wie dereinst. Alles. Die kunstvoll durchbrochene Steinbalustrade am Balkon, der pfeiferauchende Portier vor der Haustür, wenn er auch nicht mehr Kulicke, sondern Krüger hieß. Nur etwas war anders geworden an dem alten Haus in der Knesebeckstraße. Das weiße Emailleschild am Gitter des Vorgärtchens zeigte eine andere Inschrift. Da stand nicht mehr »Dr. med. Braun, Arzt. Sprechstunde 4-5 Uhr« zu lesen, sondern »Pension für In- und Ausländer, zwei Treppen rechts.« Der, dessen Namen das Schild einst gezeigt, hatte ein anderes Quartier bezogen.

Wieder sprang ein goldhaariges Mädel leichtfüßig die Treppen zur Braunschen Wohnung hinauf, wenn es auch nicht mehr die Annemarie Braun war, sondern schon deren Nesthäkchen. Was kümmert sich solch ein altes Haus um das Kommen und Gehen der Generationen.

Wieder läutete es temperamentvoll Sturm droben an der dunkelbraunen Eingangstür. Wieder hörte man Hannes gemütliches Schlurfen und ihre beruhigende Stimme: »Na sachteken – sachteken – man immer mit de Ruhe.«

Aber die Hanne selbst, ja, an der waren die Jahre doch nicht so spurlos vorübergegangen, trotzdem die Braunschen Jungen sie schon früher respektlos »altes Haus« genannt. Ein verhutzeltes Mütterchen mit krummgezogenem Rücken, ein weißes Häubchen auf dem fadenscheinig gewordenen Grauhaar, öffnete Ursel. Aber die Freude, die das alte Gesicht beim Anblick des jungen Besuches verklärte, war noch dieselbe wie früher, wenn Doktor Brauns Nesthäkchen heimgekommen.

»Unser Kind – unser Urselchen, das is aber mal schöneken! Hast dir ja so lange nich bei uns sehen lassen, Herzeken. Na ja – weiß schon, bist ja jetzt Tippmamsell oder sowas Ähnliches bei de Börse. Unten Krüjern ihre jeht auch ins Jeschäft. Jroßmamachen is auf 'n Momang runterjejangen, man bloß aufn Sprung, Besorjungen machen. Is ja auch keen Jüngling nich mehr, aber sie kann mit ihre Jebrüder Beeneken doch immer noch'n bisken besser fort, als unsereins. Je man inzwischen rein in de Eßstube, Kind. Ich will dir man bloß rasch 'ne Tasse Kakau machen. Hast doch jewiß Hunger, was?«

»Mächtigen sogar. Sagen Sie mal, Hanne, sind denn eure interessanten Brasilianer zu Hause?« Das war Ursel heute das Wichtigste.

»Ih, jewiß doch. Vorhin hab ich ihn erst noch auf seine Jeije rummurksen hören. Aber interessant – nee, Kindchen, die sind allens andere eher als dis. Die sind dir so schwer von Verstehste, daß einem de Puste dabei ausjehen kann. Und'n Jlas hat se auch schon zertöppert. Aber sonst sind se ja soweit janz manierlich, jar nich, als ob se von de Schwarzen abstammten. Denn das laß ich mich nu mal nich ausreden. Woher käm er denn sonst woll zu die kohlschwarzen Augen und sie zu das schwarze Kraushaar? Eijentlich wollte ich ja keene Schwarzen nie nich bei uns aufnehmen, aber die bezahlen doppelt so ville wie die Weißen. Und handeln und feilschen um reene jar nichts. Nu jeh man immer rein, Urselchen, ich komm jleich nach, und denn können wa uns jemietlich was erzählen.«

Hanne verschwand in den Gang, der zur Küche führte. Ursel betrat das Speisezimmer. Das war jetzt gemeinsames Wohn- und Eßzimmer der Braunschen Pensionäre geworden. Frau Doktor Braun hatte sich von ihrer Achtzimmerwohnung nur ihr Schlafzimmer und Annemaries ehemalige Kinderstube reserviert. Alles andere war vermietet. Die Brasilianer bewohnten drei Vorderzimmer mit Balkon. Das Erkerzimmer, in dem früher Dr. Braun praktizierte, hatte eine Amerikanerin schon seit einem Jahre inne. In dem letzten Zimmer hauste ein Schweizer Student.

Als Ursel die Tür zum Speisezimmer öffnete, vernahm sie abgerissene Geigentöne. Jemand stand am Klavier und stimmte sein Instrument. Das traf sich ja famos.

Der Geiger hatte ihren Eintritt überhört. Er wandte ihr den Rücken. Jetzt begann er zu spielen. Aha – ein Konzert von Paganini. Ursel erkannte es sofort. Donnerdoria – der konnte was. Famoser Strich. Und eine Weichheit des Tones – mochte wohl auch an dem vorzüglichen Instrument liegen. Ursel rührte sich nicht. Sie lauschte wie gebannt. Dazwischen quälte sie irgendeine störende Erinnerung – wo hatte sie diese schlanke und doch sehnige Gestalt mit dem tiefschwarzen Haar schon mal gesehen?

Oh, diese wundervolle Stelle – so seelenvoll gespielt, so ganz den Tönen hingegeben – – –

»Jotte doch, Urselchen, du stehst ja noch immer hier an de Türe!« Hanne erschien mit dem Kakao. Ehrfurcht vor der Musik war etwas, was Hanne ihr Lebtag nicht gekannt hatte. »Komm man janz ruhig näher, Kind, unser Schwarzer tut dir nischt. Soweit is er ja janz jutartig.« Klirrend setzte sie ihr Tablett auf den Tisch.

»Schscht, Hanne« – bedeutete ihr Ursel.

»Ach, der vasteht ja keen Deutsch nich, man bloß so'n komisches. So, nu trink man deinen Kakau, Herzeken, daß er nich erst kalt wird. 'Ne Butterschrippe hab' ich dich auch jeschmiert.«

Der in seiner musikalischen Andacht gestörte Geiger schloß mit einem improvisierten Akkord.

»Bravo!« sagte Ursel begeistert. Und temperamentvoll, wie sie nun mal war, begann sie zu klatschen.

Erstaunt wandte der Künstler den Kopf. Da – brach das Händeklatschen so jäh ab wie sein Spiel.

Die Berliner Speisezimmer, die das breite Fenster in einer eingebauten Ecke haben, pflegen niemals sehr hell zu sein. Augenblicklich webte bereits späte Nachmittagsdämmerung darin. Und doch – diese brennendschwarzen Augen, der kühngeschnittene, bartlose Mund – das war kein anderer als der Herr aus der Untergrundbahn.

Daß auch sie wieder erkannt worden war, zeigte ihr das Lachen des Fremden. Seine weißen Zähne blitzten vor Vergnügen.

»Ah, charmante – charmante!« rief er erfreut aus. Und dann seiner Kavalierpflicht eingedenk, machte er der jungen versteinerten Dame eine tiefe Verbeugung.

»Milton Tavares«, sagte er dabei, sich vorstellend.

Also das war Milton Tavares, Großmamas interessanter Brasilianer. Nein, war das komisch – zum Quieken komisch.

Die alte Hanne wußte, was sich gehört. Nicht umsonst war sie nun schon bald ein halbes Jahrhundert in einer gebildeten Familie. Sie zog Ursel zu dem Tisch heran und sagte dabei, ebenfalls vorstellend: »Unsere Enkelin – unser Schwarzer.«

»Aber Hanne«, fiel Ursel erschreckt ein.

»Vasteht er nich – soviel Jripps hat er noch nich«, beruhigte Hanne sie aufs neue.

»Engelin«, wiederholte Milton Tavares. Er schien in seinen deutschen Sprachkenntnissen doch schon so weit vorgeschritten, um das Wort von Engel abzuleiten, was ihm bei dem entzückenden Blondkopf durchaus am Platz erschien.

»Enkelin«, verbesserte Ursel belustigt. »Aber nicht etwa die von Hanne, sondern von meiner Großmama, Frau Doktor Braun«, setzte sie erklärend hinzu. Denn für Hannes Enkelin wollte sie denn doch nicht vor dem Brasilianer gelten.

»Jib dich man bloß erst jar keine Mühe nich, Herzeken. Wenn de denkst, er hat dir verstanden, denn biste schief jewickelt. Unsere Enkelin is das«, schrie sie dem Ausländer ins Ohr, soweit sie mit ihrer krummgezogenen Gestalt zu ihm heraufreichen konnte.

»Engelin,« wiederholte der strahlend, »oh, je comprends – je comprends.«

»Ach, laß doch den begriffsstutzigen Schwarzen, Urselchen. Komm, erzähl mich lieber, wie's bei euch in Lichterfelde jeht. Hat Mutti schon Stachelbeeren einjekocht?«

»Ich weiß nicht – ich glaube, nein, ich glaube nicht.« Ursel fand Hannes »Schwarzen« entschieden interessanter als ihre Stachelbeerunterhaltung.

»Ich jlaube – ich jlaube nich – Urselchen, du bist mich doch heut so vertattert. Am Ende bekommt dich das Tippmamsellige nich. Trink und iß man erst. Dis kommt jewiß vons Überhungern.« Hanne setzte sich neben Ursel nieder und schaute andächtig zu, wie sie die knusperige Butterschrippe mit ihren weißen Zähnen zermalmte.

Noch einer schaute diesem Schauspiel mit nicht geringerem Interesse zu. Milton Tavares hatte ihnen gegenüber Platz genommen und versuchte, so gut es ging, Konversation mit dem reizenden Blondkopf zu machen.

»Heit nicht weinen, heit lustik«, eröffnete er die Unterhaltung, auf Ursel weisend.

Nun war dieser die Erwähnung ihrer gestrigen Wuttränen nichts weniger als angenehm. Noch dazu vor Hanne. Sie runzelte die Stirn.

»Oh – oh –!« Milton Tavares wiegte bedauernd den Kopf. »Wieder sein furiosa – furiosa mit mich?« Hanne, als deutsche Sprachlehrerin schien mit ihrem nicht ganz einwandsfreien Deutsch schon Erfolge bei ihm erzielt zu haben. Er sah so drollig unglücklich bei seinen Worten aus, daß Ursel hell auflachen mußte.

»Ich bin nicht furiosa. Im Gegenteil, ich bin Ihnen dankbar für den Kunstgenuß, den Sie mir soeben bereitet haben.« Sie machte die Bewegung des Fiedelns, um ihm ihre Worte verständlich zu machen. »Sie spielen sehr schön, Herr Tavares.«

»Serr schön«, bestätigte er erfreut, daß er irgend etwas verstanden hatte, » Parlez-vous français, Mademoiselle

»Ja, un peu, nur ein bißchen, ich hatte in der Schule immer bloß genügend.« In diesem Augenblick bedauerte Ursel aufrichtig, daß sie, anstatt sich am französischen Unterricht zu beteiligen, oft Dummheiten in der Schule getrieben hatte. Nichtsdestoweniger übergoß der Brasilianer sie mit einem französischen Wortschwall, daß er glücklich sei, sie heute wieder zu sehen. Leider verstand Ursel davon nicht viel mehr, als Hanne.

Diese machte ein bärbeißiges Gesicht. War denn »das Kind« zu dem Schwarzen gekommen oder zu ihnen? Na also!

»Nu hören Se aber endlich uff mit det Jequassel, Herr Tavares. Lieber quieken Se noch'n bisken uff de Jeije rum. Unser Kind is zu mich jekommen, das heißt zu seine Frau Großmamachen, was janz dasselbigte is, und will sich mit mich unterhalten. Haben Sie mir verstanden?« brüllte sie ihm wieder in die Ohren.

Milton Tavares machte ein durchaus verständnisloses Gesicht.

»Fiedeln sollen Se un nich in einsweg brasilianisch quatschen. Det vasteht doch kein anständiger Mensch nich hier.« Hanne ergriff ihn resolut am Arm und führte ihn zum Klavier, wo er seine Geige niedergelegt hatte.

»Ah, soll ich spielen?« wandte er sich in französischer Sprache an Ursel.

Gott sei Dank, soviel reichte ihr Schulfranzösisch noch. Sie verstand ihn.

»Ja, bitte.« Sie nickte. Trotzdem Hannes unverfrorene Art sie höchlichst belustigte, hatte sie keine reine Freude daran. Man konnte doch nicht wissen, wieviel Herr Tavares davon begriff.

Er begann das Impromptu von Chopin meisterhaft zu spielen.

»So, Urselchen, den wären wa jlücklich los. Nu erzähl' mich mal, Kind, wie jefällt dich denn das eigentlich nu ins Jeschäft?« Hanne sprach laut und ungeniert in die zarteste Tonstimmung hinein.

Ursel legte den Finger auf den Mund. »Nachher, Hanne – hören Sie doch mal, wie wundervoll der Brasilianer spielt.«

»Kann ich jar nich finden. 'N scheener deutscher Walzer is mich lieber«, kritisierte sie. Nachdem sie noch einige Minuten vergeblich gewartet hatte, daß Ursel nun endlich erzählen sollte, setzte sie mit ärgerlichem Krach das Kakaoservice zusammen. »Denn kann ich mir ja woll dünne machen, wenn du anderweitig so jute Unterhaltung hast.« Und da Ursel keinen Einspruch erhob, denn sie war tatsächlich froh, ungestört dem prachtvollen Spiel lauschen zu können, warf sie die Tür ärgerlich hinter sich ins Schloß.

Na, sie würde schon wieder gut werden, die alte, ehrliche Seele.

Durch das dämmerige Zimmer schwebten die Töne und verbanden fremde Menschen verschiedener Art und verschiedener Zungen miteinander. In der Musik verstanden sie sich.

Milton Tavares hatte geendigt. Ursel vergaß diesmal das Klatschen. Sein Spiel hatte sie ergriffen.

»Liebt Sie das musique?« fragte er.

»Oh – es ist für mich das Schönste – Musik ist für mich alles.« Wenn er auch vielleicht nicht jedes der Worte auffaßte, die Begeisterung, die aus Ursels Zügen sprach, die verstand er.

»Spielt Sie vous-même?« erkundigte er sich, dazu die Bewegung des Klavierspielens machend.

»Ja, ein wenig – un peu

»Oh, wir spielen ensemble, biete serr.« Lebhaft ergriff er sie bei der Hand und zog sie zum Instrument.

Wieder schlugen die Wogen französischer Sprachgewandtheit über die arme Ursel zusammen. Er fragte sie, was sie zu spielen wünsche.

»Sprechen Sie deutsch, Sie sind doch kein Franzose«, rief Ursel ärgerlich, daß sie sich so unwissend anstellte.

»Nicht Français – Portugiese«, sagte er stolz.

»Na ja, wenn Sie ein Portugiese sind, dann reden Sie deutsch.« Diese Logik war zwar etwas merkwürdig, aber Milton Tavares ging nicht weiter darauf ein.

Er legte verschiedene Notenbände vor sie hin. »Der oder dies oder das?« fragte er, indem er sich Mühe gab, deutsch zu sprechen.

»Dies – das Violinkonzert von Beethoven.« Die junge Dame schlug die Noten auf und die ersten Töne an.

Ursel Hartenstein war eine gute Klavierspielerin. Sie hatte eine staunenswerte Technik, tiefmusikalische Empfindung und viel Temperament. Im Ensemblespiel hatte sie allerdings wenig Übung. Trotzdem fühlte sie sich von den Klängen der Geige mitgerissen, getragen. Sie wuchs über sich selbst hinaus in diesem Beethovenkonzert.

Keiner von beiden vernahm das Knarren der Tür. Sie waren beide versunken in der Welt der Töne.

»Na, nu heert sich aber allens auf. Nu macht er unser Urselchen auch noch mit seiner Musike varrickt. Ursel – Kind – Jroßmamachen is eben jekommen. Ich denke, du wolltest ihr besuchen.« Hanne war empört, daß der »Schwarze« Ursel ganz und gar mit Beschlag belegte.

Ursel vernahm Hannes polternde Stimme nur so, wie man im Walde beim Jubilieren der Vögel das Knarren eines Astes empfindet. Man beachtet es kaum. Auch Großmamas sanfte Stimme verklang. Sie spielten ... spielten ... Endlich ließ Ursel die Finger von den Tasten gleiten. Ihr Partner zog den letzten Bogenstrich. Still, noch ganz im Bann des Gespielten, schaute sie vor sich hin. Sie ahnte die Zuhörer nicht.

»Das war herrlich!« kam die Stimme der Großmama von weit her zu Ursel.

»Oh, merci bien – dank vielmal – ich nie spielen mit mehr guter Pianist, marovilhosa – wundervoll!« Milton Tavares ergriff mit dem Feuer seiner Nationalität beide Hände Ursels.

Da flammte das elektrische Licht auf – der Bann, der Ursel umfangen, zerriß.

»Na, in 'n Stockdustern brauchen wa auch nich zu sitzen«, ließ sich Hanne knurrig vernehmen, während Ursel die Großmama begrüßte. Da erst sah sie, daß sich noch mehr Zuhörer eingefunden.

Ein kleines, schmalschultriges Ding von eidechsenhafter Schlankheit. Der zierliche Kopf schien die schwere Pracht des blauschwarzen Haares kaum tragen zu können. Samtdunkle Augen strahlten Ursel entgegen. Das war Margarida Tavares.

» Oh marovilhosa – magnifique!« Ohne erst die Vorstellung abzuwarten, ergriff die kleine Brasilianerin Ursels Hand.

» Ma sœur – mein Schwester«, verbesserte sich der junge Geigenkünstler schnell, eingedenk Ursels Wunsch, daß er deutsch sprechen sollte.

»Gefällt es Ihnen bei uns in Deutschland?« begann Ursel die Unterhaltung. Trotzdem sie selbst nur mittelgroß war, kam sie sich diesem kleinen zerbrechlichen Nippfigürchen gegenüber wie eine Riesin vor.

» Oh, je ne comprends pas.« Fragend blickte das junge Mädchen den Bruder an. Der schien doch noch mehr deutsche Sprachkenntnisse zu besitzen als sie. Er übersetzte ihr Ursels Frage ins Portugiesische und spielte den Dolmetscher.

»Serr gutt.«

» Très bien – serr gutt –« wiederholte auch die Schwester und ließ sogleich einen unverständlichen portugiesischen Redeschwall folgen.

»Mein Schwester liebt zu haben leçon de musique bei Sie«, dolmetschte Milton Tavares aufs neue und wies dabei auf Ursel.

»Was – Musikstunde will sie bei mir nehmen? Ich lerne ja selbst noch.« Ursel kam die Sache so komisch vor, daß sie hell auflachte. Die Brasilianerin stimmte höflich, ohne zu wissen, warum, mit ein. Es klang wie ein feines silbernes Glöckchen.

»Oh, Sie sein maître – Meister. Sie spielen admirable. Mein Schwester wird sein heureuse, zu haben leçon bei Sie«, drang der Brasilianer in sie. »Und ich werde sein heureux aussi, zu spielen ensemble mit Sie.« Seine dunklen Augen baten noch mehr, als sein unberedter Mund.

Regelmäßiges Ensemblespiel mit diesem jungen Violinkünstler – ja, das wäre schön. Wundervoll wäre das. Und auch dem reizenden jungen Mädchen Unterricht zu geben, würde ihr Freude machen. Aber durfte sie sich das denn überhaupt zutrauen? War es nicht eine Überhebung von ihr, eine Anmaßung, darauf einzugehen?

»Omamachen, was meinst du?« Ursel wandte sich an die, welche immer noch Rat gewußt hatte, wenn eins der Enkelkinder mal in Bedrängnis gewesen.

»Ja, Urselchen, was soll ich dazu sagen? Wenn du Lust hast, und wenn es sich mit deinen Berufsstunden vereinigen läßt, kannst du es ja mal versuchen. Für mich wäre es eine große Freude, dich dadurch öfters hier zu haben. Ein bißchen egoistisch darf doch solche alte Omama sein, nicht wahr?«

Ursel streichelte zärtlich das liebe, alte Gesicht. »Einmal in der Woche könnte ich es einrichten. Vielleicht Donnerstag nach Schluß der Bank. Würde es Ihnen am Donnerstag recht sein, Herr Tavares?« wandte sie sich an den Brasilianer, der mit bittend fragenden Augen versucht hatte, der Verhandlung, von der er nur Bruchteile erhaschte, zu folgen.

»Ich nicht haben versteht.« Er sah fragend von Frau Doktor Braun zu ihrer Enkelin.

» Je veux donner des leçons de musique à votre sœur.« Jetzt nahm Ursel selbst ihre Zuflucht zur französischen Verständigung.

»Na, nu fängt die ooch noch an, brasilianisch zu quatschen, was unser Urselchen is«, legte da aber die alte Hanne los. »Wat zuville is, is zuville. Nich jenug, daß die beiden Schwarzen einen den Kopp duselig reden. Und mit de Musike, da bin ich jar nich vor, Urselchen. Das überleg dir jefällig noch mal mit deine Herrn Eltern. Du bist Tippfräulein und keene Klaviermamsell nich. Wenn dies auch eijentlich im Jrunde beinah dasselbigte is. Aber mit die Schwarzen fang nichts an, Kind. Da kommt nichts Jutes von raus. Det sag ich dir! Wenn sie auch sonst nich knickerig sind.«

Der Warnungsruf der treuen Hanne hatte auf Ursel gerade die entgegengesetzte Wirkung. Die junge Dame warf eigenwillig das blonde Köpfchen zurück und ihr Schwanken war im Augenblick entschieden. Sie reichte Margarida Tavares die Hand.

» Je veux venir jeudi de six à sept heures à la leçon de musique.« Ihr Französisch hörte sich ungefähr so an, als wenn jemand Holz hackte.

»Oh, je suis enchantée!« Ursel bedauerte lebhaft, daß sie sich auf das französische Glatteis gewagt hatte. Denn die junge Dame überschüttete sie mit ihren begeisterten Dankesbezeigungen.

»In der Musikstunde wird aber deutsch gesprochen«, unterbrach Ursel das ihr ziemlich unbehagliche Französisch.

»Oh, serr gutt, wir nehmen aussi leçon deutsch bei Sie. Wir werden sein Schüler serr brav.« Milton Tavares machte dazu ein so niedliches Kleinjungengesicht, daß Ursel ihn reizend fand.

»Ich aber werde eine sehr strenge Lehrerin sein.« Im Nu hatte Ursel Großmamas große Hornbrille auf der Nase und legte das Gesicht in würdige Falten.

Jetzt lachten die andern. Nur Hanne knurrte: »Die reinen Jören – und von's Berappen reden se ieberhaupt nich. Das is Nebensache.«

Die Brasilianer schienen sich in der übermütigen, jugendlichen Gesellschaft recht wohl zu fühlen. Sie dachten nicht daran, ihre Zimmer aufzusuchen. Trotzdem die Großmama ihr Urselchen recht gern noch ein wenig für sich genossen hätte, tat es ihr leid, dem munteren Beieinander der Jugend ein Ende zu machen. Die jungen Menschen unterhielten sich, so gut es ging, und wenn es nicht ging, was öfters mal der Fall war, wurde die mangelnde Verständigung durch Lachen ersetzt. Ursel war mal wieder ganz in ihrem Element. Die brasilianischen Geschwister schienen von ihr begeistert. Das empfand die kleine Eitelkeit, und es erhöhte ihre strahlende Heiterkeit.

Hanne war weniger zartfühlend als Frau Doktor Braun. »Urselchen, Kind, bleibste zu's Abendbrot da?« erkundigte sie sich.

Eigentlich hatte Ursel die größte Lust dazu. Aber nein, es würde nicht gehen. Sie war heute den ganzen Tag von Hause fortgewesen. Die Eltern wollten schließlich doch auch noch etwas von ihrer Tochter haben.

»Na, denn könntest du dir aber auch 'n bißchen mehr um deine Frau Omama kümmern, und dir nich bloß in einsweg mit die brasilianischen Schwarzen abjeben«, begann Hanne ihrem Ingrimm Luft zu machen.

Das war Wasser auf Ursels Mühle. So erreichte man nichts bei dem Heißsporn. »Ich weiß allein, was ich zu tun habe, Hanne«, sagte sie hochmütig abweisend. Trotzdem fühlte sie, daß Hanne im Grunde recht hatte, daß sie sich wirklich mehr der Großmama, der ihr Besuch doch in erster Linie galt, hätte widmen müssen. Den Fremden gegenüber war ihr Hannes Abkanzlung doppelt unangenehm. Wenn sie hoffentlich auch nicht alles verstanden hatten, daß der Ton eine Zurechtweisung in sich barg, hörte man doch heraus.

Milton Tavares meinte bedauernd: »Oh, Madame Hanne, ist Sie zornig?« denn die Alte machte unter ihrem weißen Häubchen ein so bärbeißiges Gesicht wie ein Wachtmeister.

Da aber tat der Ursel ihre hochmütige Aufwallung so schnell, wie dieselbe gekommen, auch schon wieder leid. Da hatte sie die Hanne beim Wickel und gab ihr, unbekümmert um das Publikum, einen herzhaften Kuß.

»Nicht verknurrt sein, Hanne, ich bin doch nun mal solch ein greuliches Ding und sprudele alles heraus, was mir gerade über die Leber läuft. Deshalb haben wir uns ja doch lieb, nicht wahr?«

Das runzlige Gesicht der alten Hanne verklärte sich. Ihre harten Hände streichelten das weiche Gesicht des jungen Mädchens.

»Ih, deshalb keine Feindschaft nich, Kindchen. Aber denk dran, die alte Hanne meint's jut mit dir. Jewöhne dir deinen Hitzkopp ab, sonst kommt das Leben und jibt dir 'n kalten Wasserstrahl drauf.«

»Hanne ist unter die Philosophen gegangen«, lachte die unverbesserliche Ursel sie schon wieder aus.

Frau Doktor Braun drohte lächelnd: »Dein Glück, Urselchen, daß du abgebeten hast. Hanne ist mehr Respektsperson als ich. Wenn du dich gegen meine alte treue Hanne ungebührlich benimmst, das nehme ich dir mehr übel, als wenn es mir selbst gilt.«

»Ach, Omamachen, dir gegenüber habe ich auch ein schlechtes Gewissen. Hanne hatte ganz recht. Ich habe mich noch gar nicht danach erkundigt, wie es dir geht, ob du am Sonntag gut heimgekommen bist. Das habe ich alles über deine netten Brasilianer verschwitzt.« Ursel sah Frau Doktor Braun mit solch einem drolligen Armsündergesicht an, daß man nicht erst die Großmama zu sein brauchte, um dem liebenswürdigen Kobold nicht böse sein zu können.

Die brasilianischen Geschwister hatten verwunderte Gesichter gemacht, als das deutsche Mädchen der alten Dienerin so stürmisch an den Hals flog und sie küßte.

Die Schwester sprach ihr Erstaunen dem Bruder gegenüber in ihrer Heimatssprache aus, worauf dieser, nachdem Hanne das Zimmer verlassen hatte, meinte: »Oh, tut man hier in die Deutschland, daß Herr und Diener sich küssen?«

Hellauf lachte Ursel. »Nein, bei uns in Deutschland ›küssen‹ sich Herr und Diener für gewöhnlich auch nicht. Aber erstens bin ich kein Herr, und zweitens ist Hanne kein Diener. Nicht mal eine Dienerin. Sondern unsere gute treue Hausgenossin, die schon meine Mutter als Kind auf den Armen getragen hat.«

»Bei uns in S. Paulo Diener ist Neger oder Mulatte. Herr ist Herr – Diener ist Diener«, sagte Milton Tavares mit dem Stolz seiner Rasse.

»Finde ich gar nicht schön«, kritisierte Ursel ungeniert.

»Oh, Brasilien schön – serr schön. Bahia, das ist Hafen von S. Paulo, schönstes Hafen von Welt. Und Mulatte-Diener auch gutt, serr gutt.«

»Vor Mulatten und Negern als Köchin und Stubenmädchen würde ich mich totgraulen – hu!« machte Ursel.

»Hu?« wiederholte Milton Tavares. »Graulen, was ist?«

»Fürchten – craindre – – –«

»Oh, man muß nicht fürchten, Mulatte ist gutt«, verteidigte der Brasilianer seine Heimat. Er wiederholte der Schwester portugiesisch das Gespräch, worauf diese in französischer Sprache die junge Deutsche von den Reizen und Vorzügen ihres Vaterlandes zu überzeugen versuchte. Ursel verstand nicht viel mehr davon, als die junge Brasilianerin vorher von ihrem Deutsch. Aber das verstand sie, als mit einemmal Tränen aus den dunklen Samtaugen tropften – Margarida Tavares hatte Heimweh.

Mitleidig schlang Ursel den Arm um das fremde Mädchen, das in ihrem Alter sein mochte. »Es wird Ihnen schon bei uns in Deutschland gefallen, sobald Sie nur erst die Sprache verstehen«, sagte sie tröstend und streichelte die nasse Wange.

» Vous êtes charmante.« Ehe Ursel wußte, wie ihr geschah, hatte die impulsive Brasilianerin sie auf beide Wangen geküßt.

Mußte auch gerade die Hanne in diesem ungeeigneten Moment wieder hereinkommen. Natürlich machte die wieder ihre Bemerkungen: »Na, det jeht ja mit Extrapost, die Freundschaft. Aber Schwarze sind falsch, Urselchen. Die tun bloß so freundlich ins Jesicht. Laß dir warnen, Kind.«

»Ach, Hanne, reden Sie doch bloß keinen Unsinn. Brasilianer sind doch im Leben keine Schwarzen.« Da hatte die Ursel, trotzdem sie eben erst die alte Hanne versöhnt hatte, schon wieder einen ungehörigen Ton angeschlagen. Aber wenn die Hanne auch so dummes Zeug redete – man schämte sich ja ordentlich vor Milton Tavares – na ja.

Ursel stülpte ihren Hut auf das Blondhaar. Sie mochte Hannes beschränkte Äußerungen nicht mehr mit anhören. Auch war es jetzt die höchste Zeit für sie zu gehen. Sonst kam sie daheim zu spät zum Abendbrot, und dann wurde Vater ungnädig. Sie verabschiedete sich zärtlich von der Großmama. »Donnerstag komme ich wieder zur Stunde, Omamachen. Jetzt hast du öfters das Vergnügen, mich zu sehen.«

»Die Häufigkeit muß mich dann wohl für die Intensivität deines Besuches entschädigen, Herzchen«, meinte die alte Dame mit seinem Lächeln.

»Weil ich mich heute so wenig mit dir unterhalten habe, Omama?« Ganz bestürzt blickte Ursel drein.

»Nein, nein, mein Liebling, ich machte nur Scherz. Sei vergnügt mit den jungen Menschen. Deiner alten Omama genügt es, wenn sie dich nur sieht. Das ist ihr schon Freude genug. Und der kleinen Marga gönne ich es, daß sie in dir eine Altersgenossin findet. Das arme Mädchen ist ganz vereinsamt hier.«

»Du mußt sie am Sonntag zu uns mit herausbringen. Sie und auch den Bruder«, bat Ursel lebhaft. »Ja, wollen Sie kommen?« Sie reichte Milton Tavares die Hand zum Abschied.

»Ich werde kommen – ich werde gehen mit bis Bahn.« Kavaliermäßig wollte er ihr das Geleit geben.

»Nein, ich meine, ob Sie und Ihre Schwester uns in Lichterfelde besuchen wollen – visiter«, setzte sie noch hinzu, damit er sie auch ganz bestimmt nicht mißverstand.

Der Brasilianer strahlte über das ganze Gesicht. »Ah, venir voir, merci – merci millefois. Wir werden gehen serr gern bei Sie, Donna Ursel.«

Er ließ sich nicht davon zurückhalten, Ursel bis zur Bahn zu begleiten. Auch die Schwester schloß sich an und schob zutraulich ihren Arm in den Ursels.

Hanne sah ihnen mit einem wahren Bulldoggengesicht nach. Das lief nicht gut ab, wer sich mit den Schwarzen einließ, das war fast so, als ob es geradeswegs in die Hölle ginge.

Auch die Straße, die schon Doktor Brauns Nesthäkchen gekannt, machte ein höchst verwundertes Gesicht, als dessen blondes Töchterlein zwischen den exotischen Fremden, deutsch und französisch munter durcheinander schwatzend, daherspaziert kam. Was hatte das zu bedeuten?


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