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11. Kapitel. Schicksalswendung.

Was Ursel sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, dabei blieb sie auch. Schon als Kind hatte sie solchen Dickschädel, gegen den man allenfalls im Guten etwas ausrichten konnte.

Sie überhörte Trudes Klopfen am andern Morgen zur gewohnten Zeit geflissentlich. Sie erschien erst am Frühstückstisch, als der Vater bereits in der Sprechstunde tätig war.

»Ja, wie denkst du dir das nun eigentlich, mein Kind?« begann Frau Annemarie, die auf der Terrasse selbstgezogene Bohnen abfädelte, das heikle Thema anzuschneiden. »Du kannst doch nicht einfach von der Bank ohne Entschuldigungsgrund fortbleiben. Du bist Bankangestellte und daher verpflichtet, die Bureaustunden pünktlich innezuhalten, wenn du nicht vorher gekündigt hast.«

»So kündige ich sofort.« Ursel sprang so ungestüm auf, daß der Kakao aus der Tasse schwippte. »Und bis zum Ersten melde ich mich einfach krank.«

»Das wird dir dort nur keiner nach der gestrigen Auseinandersetzung glauben, mein Kind. Und der Vater wäre der letzte, der dir ein ärztliches Attest darüber ausstellen würde.«

»So mag Müller die Sache ins reine bringen. Er war derjenige, der mir zuerst gesagt hat, es ginge nicht so weiter mit mir, es müßte ein Ende haben. Er wollte ja mit dem Bankdirektor deswegen sprechen. Nun kann er's ja – bitte sehr!« Wie ein ungezogenes Kind sprach die erwachsene Ursel.

»Ein ganz unreifes Mädel bist du. Wenn nun jeder der Bankbeamten plötzlich fortbleiben möchte, ohne Kündigung, sobald der Vorgesetzte mal irgend etwas auszusetzen hat. Denk nur, zu welchen Konsequenzen das führen würde. Unbedingt muß ein erklärender und entschuldigender Brief an den Bankdirektor abgehen. Falls Vater nicht Wert darauf legt, daß es persönlich geschieht.«

»Dann mag er's persönlich tun. Ich gehe weder zur Bank, noch zum Bankdirektor.« Der ganze Eigensinn ihrer Kinderzeit sprach aus Ursels Worten. Frau Annemarie kannte ihr Nesthäkchen. Sie wußte, augenblicklich war auf diesem Wege nichts zu erreichen.

»Und was gedenkst du jetzt zu tun? Will das gnädige Fräulein baronisieren?« fragte sie.

Ursel sah die Mutter unsicher an. Sie war nicht gewöhnt, daß dieselbe ironisch mit ihr sprach. Sie mußte sehr ärgerlich auf sie sein.

»Gebt mich auf die Opernschule oder auf irgendein gutes Musikkonservatorium, wo ich mich ausbilden kann. Laßt mich ernsthaft Gesang studieren. Dann werdet ihr Freude an mir haben. So mache ich euch ja doch bloß Kummer und Scherereien.« Das letzte kam leise heraus. Man hörte es deutlich, daß Ursel der Mutter traurige Augen, die sonst stets heiter zu blicken pflegten, zu Herzen gingen!

»Es ist doch ein gutes Kind«, dachte Frau Annemarie und ihr Gesichtsausdruck bekam wieder die ihm eigene Freundlichkeit. »Du mußt das diesmal mit dem Vater allein ausfechten, Ursel«, sagte sie trotzdem in bestimmtem Tone. »Einmal habe ich mich für dich verwendet, aber du hast dein Versprechen nicht eingehalten. Nun sieh selbst zu, wie sich der Vater zu deinen Absichten stellt. Ich will Ruhe und Frieden im Hause haben.« Die Mutter ging mit ihrer Bohnenschüssel zur Küche und ließ ihre Tochter mit einem recht unbehaglichen Gefühl zurück.

Ach, der Ursel war es zumute, als ob alles unter ihren Füßen zu schwanken begann. Fest hatte sie darauf gehofft, daß die Mutter wieder für sie Partei ergreifen und den Vater ihren Wünschen geneigt machen würde. Nun war es damit Essig. Allein sollte sie ihre Sache verfechten. Sie war ja nicht feige – ganz und gar nicht. Aber merkwürdig, des Vaters Ruhe wirkte auf sie entgegengesetzt. Dieselbe reizte sie. Sie wurde dabei hitzig und ungehörig im Ton dem Vater gegenüber. Und daß dabei kein gutes Resultat zu erzielen war, lag auf der Hand.

Ihre Finger, die nervös an ihrem Kleide entlang tasteten, als ob sie dort einen Halt suchten, fühlten ein Papier in der Tasche knistern. Ah, die heutige Karte der Tavares. Fast jeden Tag lag solch ein Morgengruß für sie auf ihrem Frühstücksplatz. Von Marga war er stets abgesandt, aber den Löwenanteil hatte daran der Bruder. Denn mit dem Schriftdeutsch haperte es bei der jungen Brasilianerin noch weit mehr als mit dem mündlichen. Sie hatte die heutige Karte noch gar nicht gelesen. Die wichtige Unterredung mit der Mutter hatte dieselbe in Vergessenheit geraten lassen. Jetzt griff sie danach, wie der Ertrinkende nach dem Strohhalm.

»Libe freindin«, schrieb Marga, »mich ist so sensucht fir dir. Komm zu mich, balt, viel balt, ich einladen dir, wenn gnädige mamma und pappa erlauben.« Und Milton Tavares führte die Einladung noch dahin aus, daß sie beide Donna Ursel ganz bestimmt spätestens am Sonntag erwarten. »Der Bank müsse ihr frei geben.«

Vor Ursel, welcher der Sommertag draußen bisher grau und unfreudig erschienen, lag plötzlich die ganze Welt wieder hell, klar und sonnengolden. Das war ein Ausweg, ein herrlicher! Zu Tavares – und mit denen gemeinsam das Badeleben genießen. Ja, das war etwas anderes, als hinter den Bankmauern bei Additionen, die nie stimmen wollten, zu schwitzen. Sie hatte sich so wie so schon den Kopf zerbrochen, was sie mit ihrer Zeit jetzt anfangen sollte. Der Mutter ihre Hilfe im Haushalt anzubieten, war ihr ebenso peinlich, wie nicht nach ihrem Geschmack. Sich an ihren Flügel retten, das hätte sie am liebsten getan. Aber während der Sprechstunde erlaubte der Vater keine musikalische Betätigung, da er dadurch gestört wurde. Jetzt hatte sie was zu denken und zu tun. Ihre Sachen mußten instand gesetzt werden, denn schick und hübsch wollte sie in solch einem Luxusort aussehen. Besonders neben Marga, die durch ihre aparte Eleganz überall auffiel. Und Milton legte auch Wert darauf, sich mit hübsch gekleideten Damen zu zeigen. Ach, wie sie sich freute. Die ganze Welt hätte Ursel in jähem Gefühlsumschwung plötzlich umarmen können. Wie gut, daß man sie gestern aus der Bank herausgesetzt hatte. Nun war sie frei, bekam nicht erst im August ihre vierzehn Tage Urlaub. Kein Gedanke kam Ursel, daß die Eltern mit ihrer geplanten Reise am Ende nicht einverstanden sein könnten. Spornstreichs lief sie in die Küche hinaus, wo die Mutter in Gemeinschaft mit der Köchin Auguste Bohnen einkochte.

»Mutti – Muzichen –« vergessen war alles Vorhergegangene bei Ursel, »ich reise nach Pyrmont. Spätestens Sonntag. Tavares haben mich eingeladen. Ach, ich freue mich ja diebisch. Und wie gut, daß ich nicht mehr an der Bank bin. Sonst hätte ich doch gar nicht hinfahren können, nicht wahr?« So sprudelte es von Ursels roten Lippen. Sie hatte in ihrer Aufgeregtheit gar keinen Blick dafür, daß der Mutter Antlitz betreten dreinschaute und ihre Freude nicht zu teilen schien.

»Auguste, lassen Sie den Weckapparat eine Stunde bei neunzig Grad kochen«, sagte Frau Professor statt jeder anderen Antwort.

Ursel zog ein Mäulchen. Weckapparat – daß die Mutter auch dafür noch Interesse haben konnte, wo es sich um ihre Pyrmonter Reise handelte. »Was sagst du denn bloß dazu, Muzi?« bestürmte sie die Mutter aufs neue. »Trude muß mir mein rosa Kleid noch auswaschen. Und ein neues Tüllfichu brauche ich zu dem Blümchenkleid. Das seidene nehme ich auch mit und –«

»Wir werden nachher drin alles besprechen, Ursel«, unterbrach die Mutter der Tochter Überlegungen. »Augenblicklich habe ich Wichtigeres zu tun.«

Wichtigeres – Ursel hatte ihre Mutter sehr lieb, aber in diesem Augenblick hielt sie dieselbe doch für recht hausbacken. Wie konnte ihr der Einkochapparat nur wichtiger erscheinen als eine Reise nach Pyrmont!

Das junge Mädchen stieg die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Es war ein reizendes Zimmer, das Elternliebe dem Nesthäkchen hergerichtet hatte. So hell und farbenfreudig war's, so lauschig und gemütlich. Früher hatte Ursel das kleine Reich mit Schwester Vronli geteilt. Jetzt war sie stolze Alleinherrscherin dort. Auch Margarida hatte geholfen, Ursels Zimmer zu verschönern. Hier stand ein graziöses Meißner Püppchen, dort hing ein Bild der heiligen Cäcilie, der Beschützerin der Musik. Seidene Toilettenkissen und silberne Flakons hatte Marga der Freundin gestiftet. Nie kam sie mit leeren Händen nach Lichterfelde. Das schönste aber war für Ursel die Photographie der beiden in Kabinettformat, welche Margarida und Milton Tavares ihr zum Geburtstag verehrt hatten. Auf ihrem Schreibtisch stand das Bild; an allem, was Ursel hier oben dachte und fühlte, hatte es seinen Teil. Auch heute nahm sie es in beide Hände und betrachtete die schönen fremdländischen Züge, die ihr so vertraut waren. »Ja, ich komme – ich komme!« flüsterte sie dem Bilde zu! Dann machte sie sich daran, ihre Garderobe auszubreiten und einer Durchsicht und Überlegung, was man wohl noch daran verschönern könne, zu unterziehen.

So traf sie Frau Annemarie an, als sie sich endlich entschloß, ihre Bohnen nebst Einkochapparat der nicht immer ganz zuverlässigen Auguste anzuvertrauen.

»Was stellst du denn hier auf, Ursel?« fragte sie erstaunt. »Ich halte deine Garderobenmusterung noch für reichlich verfrüht, mein Kind.«

»Gar nicht, Muzichen. Höchste Zeit ist es. Spätestens am Sonntag muß ich reisen. Überall ist noch etwas zu nähen oder zu plätten. Trude wird sich ranhalten müssen, um mit allem fertig zu werden.« Das verwöhnte Fräulein kam gar nicht auf den Gedanken, daß sie dem Stubenmädchen dabei zur Hand gehen könne.

»Du mußt Sonntag reisen – ja, Ursel, was soll das denn heißen? Hast du denn schon Vater oder mich um Erlaubnis gefragt?«

»Marga und Milton Tavares haben mich ja eingeladen. Und Urlaub brauche ich jetzt auch nicht mehr von der Bank, also – – –«

Ursel umging die etwas unbequeme, mütterliche Frage.

»Aber von deinen Eltern brauchst du doch wohl zumindestens Urlaub! Ich glaube nicht, daß Vater damit einverstanden ist, daß du nach Pyrmont reist. Wir sind nicht gewöhnt, derartige kostspielige Einladungen von Fremden anzunehmen. Und dich auf eigene Kosten in das teure Bad zu schicken, dazu liegt gar kein Grund vor.«

»Als ob Geld bei Tavares überhaupt eine Rolle spielt. Sie sind glücklich, wenn ich ihnen Gesellschaft leiste und ihnen den Verkehr in der deutschen Sprache erleichtere. Im Gegenteil, sie sind mir noch dankbar, wenn ich hinkomme. Und neulich hast du erst gesagt, ich sähe so blaß aus, als ich aus dem Bureau heimkam. Da ist mir ein Badeaufenthalt sicher sehr notwendig.« Ursels rosiges Aussehen strafte ihre Worte Lügen.

»Nun, es muß nicht gerade Pyrmont sein. Lüttgenheide, wohin du während deines Urlaubes reisen solltest, dürfte für deine Erholung genügen«, stellte Frau Annemarie fest.

»Ach, immer bloß an die langweilige Waterkant. Da ist's ja zum Auswachsen mopsig, höchstens kann man da für die Kühe und Ochsen Staat machen«, streikte Ursel.

»Ja, Kind, wenn du Erholung suchen mit ›Staat machen‹ in einen Sack wirfst, dann ist die Waterkant in ihrer schlichtherben Schönheit wirklich nichts für dich. Dann bleibe nur ruhig hier in Lichterfelde. Du brauchst dich nicht bei Onkel Klaus und Tante Ilse zu langweilen.«

Ursel warf den Kopf zurück. »Nein, brauche ich auch nicht. Ich fahre ja nach Pyrmont.« Und plötzlich in einer jähen Gefühlsänderung, die bei ihr nichts Seltenes war, fiel sie der Mutter bittend um den Hals. »Muzichen – mein lieber, kleiner Muz, sei doch nicht so schlecht zu mir. Erlaube mir doch, zu Tavares zu fahren. Ich freue mich ja so furchtbar über die Einladung.«

Wenn ihr Nesthäkchen derart schmeichelte, war es recht schwer für Frau Annemarie, ihm etwas abzuschlagen. Sanft strich sie über Ursels Goldhaar. »Kind – Urselchen, wenn du doch nur begreifen möchtest, daß Vater und ich nur dein Bestes im Auge haben, auch wenn wir deine Wünsche nicht immer erfüllen. Du bist doch jetzt ein erwachsenes Mädel und mußt das einsehen.«

»Das sehe ich ganz und gar nicht ein!« Um Ursels zärtliche Gefühle war es geschehen. »Wenn euch keine Kosten daraus erwachsen, wenn ich nichts versäume, liegt absolut kein Grund vor, mir die Badereise nicht zu gönnen.« Ursel weinte fast vor Ärger.

»Du sprichst schon wieder in einem Ton, mein Kind, in dem ich nicht weiter mit dir verhandele.« Große Mühe mußte sich die impulsive Frau Professor geben, um die notwendige Ruhe zu wahren. »Vielleicht findet der Vater, daß du eine derartige Reise jetzt nicht verdient hast, da du gestern von der Bank fortgelaufen bist und ihm dadurch peinliche Angelegenheiten machst. Oder aber wir könnten den Aufenthalt in einem derartigen Luxusbad in Gemeinschaft mit den reichen Tavares, denen keine Grenzen in ihren Ausgaben gezogen sind, für unsere Tochter nicht ersprießlich halten. Wir haben unsere Kinder bescheiden und solide erzogen, und du neigst uns sowieso schon viel zu sehr zu Luxus und Eleganz. Denke, wie schlicht und bescheiden Vronli ist, an der solltest du dir ein Beispiel nehmen.« Frau Annemarie wandte sich zur Tür.

Da aber hatte Ursel sie schon eingeholt und hielt sie mit zärtlicher Umarmung zurück. »Muzichen, sprich du mit dem Vater, daß ich fahren darf. Dann will ich auch meinetwegen bescheiden und einfach werden – gerade so wie Vronli. Aber erst laßt mich reisen. Und an den Bankdirektor will ich auch schreiben und mich entschuldigen, wenn Vater es wünscht.« Um der Pyrmonter Reise willen war Ursel jetzt zu jedem Zugeständnis fähig.

»Ich werde nachher mit dem Vater sprechen.« Frau Annemarie wußte ganz genau, wie diese Besprechung ausfallen würde. Hatte sie doch genau dieselben Bedenken, wie er sie voraussichtlich geltend machen würde.

Frau Professor Hartenstein kannte ihren Mann. Er schaute sie, als sie ihm von der Einladung der Tavares sprach, nur groß an und sagte: »Fraule, mein liebes, müssen wir darüber wirklich erst noch ein Wort verlieren?«

Frau Annemarie schüttelte den Kopf. »Nein, Rudi, ich wußte es natürlich im voraus, daß du dagegen sein würdest. Aber ich hatte es der Ursel doch nun mal versprochen.«

»Das Mädel ist wohl ganz und gar nimmer gescheit. Beansprucht wohl gar noch eine Belohnung dafür, daß es mir solche Angelegenheit macht. Ich hab' halt gemeint, sie wird Vernunft annehmen und heut wie alle Tage zur Bank gehen. Aber nein – der Dickkopf muß halt durchgesetzt werden. Selbst wenn die Einladung nicht von den Tavares ausginge, von denen wir sie sowieso möglichst zurückhalten wollen, ich hätte nach dem gestrigen Tage nimmer meine Einwilligung zu solch einem Extravergnügen gegeben. Das kannst du ihr sagen, verstehst? Und nun mach' mir nicht ein gar so betrübtes Gesichtet, Annemie. Das überlaß halt der Ursel.« Der Professor wandte sich wieder seiner Arbeit zu, während seiner Frau die wenig beneidenswerte Aufgabe zufiel, der erwartungsvollen Ursel die Hiobsbotschaft zu melden.

Ursel zeigte sich heute recht wenig eines erwachsenen Mädchens würdig. Sie ballte die Hände. Sie weinte Zornestränen. Die grenzenlose Enttäuschung gab ihr sogar den Gedanken ein, es mit dem Elternhause einfach ebenso zu machen wie mit der Bank – auszukneifen. Auf und davon zu gehen, nach Pyrmont zu den Freunden zu fahren. Dort wußte man sie besser zu würdigen als daheim. Reisegeld – oh, das mußte sich finden. Von ihrem vorigen Monatsgehalt hatte sie ja noch etwas übrig. Hans verfügte auch über eine kleine Summe, die er sich durch Unterrichtsstunden erspart. Obgleich er sie oft foppte und neckte, wenn es wirklich darauf ankam, stand er ihr sicher brüderlich zur Seite. Aber dann wurden diese unvernünftigen, aus zornigen Enttäuschungen geborenen Gedanken von verständigeren Überlegungen verdrängt. Wollte sie wirklich ihren Eltern diesen Kummer machen? Besonders ihrer kleinen Muzi? »Ach was – sie haben es ja nicht anders um mich verdient«, da meldete er sich wieder, der »Bock«, der in der Kinderzeit des Hartensteinschen Nesthäkchens eine wichtige Rolle gespielt hatte.

Aber der Schluß all dieses Hin- und Hergerissenwerdens war doch schließlich, daß Ursel, umgeben von ihrem bereits herausgekramten Reisestaat auf dem Korbsofa saß und mit bitteren Tränen auf die Reise verzichtete. So fand sie ihr treuer Kamerad Cäsar. Er klemmte die schwarze kalte Nase zwischen ihre feuchten Finger, die sie gegen die Augen gepreßt und leckte ihr tröstend die Hand.

»Komm, Cäsar, komm, du braver Kerl, du wenigstens hast mich noch lieb.« Wie früher in ihrer Kinderzeit, wenn es Strafe gesetzt hatte und Ursel in irgendeinem Winkel ihren Eigensinn ausschluchzte, schlang sie die Arme um den braunen Hals des vierfüßigen Freundes und preßte ihren Blondkopf an sein Fell. Cäsars treue, mitleidige Augen übten von jeher eine beruhigende Wirkung auf die zornige Ursel aus. Ihr Eigensinn pflegte abzuebben, und ihr stoßweises, oft tränenloses Schluchzen löste sich in besänftigende Tränen. Auch heute hatte Cäsar denselben beruhigenden Einfluß auf die große Ursel, wie früher auf die kleine. Das junge Mädchen kam zur Besinnung.

»So schlecht sind sie zu mir, die Eltern«, klagte sie dem guten Kameraden.

Der schaute sie mißbilligend an. Er schien nicht ihrer Meinung zu sein.

»Na ja,« bekräftigte Ursel vor sich hin, »es sollen ihnen doch gar keine Kosten daraus erwachsen.«

Cäsar schüttelte Kopf und Schweif.

»Bist du etwa auf seiten der andern?« Sie klopfte ihm zärtlich das Fell. Und dabei fiel ihr ein, wie die Mutter vorhin ihr Haar mindestens so zärtlich gestreichelt hatte, wie sie ihr gesagt hatte, daß die Eltern stets nur ihr Bestes im Auge hätten.

»Dann wissen sie eben nicht, was mein Bestes ist«, antwortete sie der unbequemen Stimme, die sich in ihr meldete.

Sie kam den ganzen Vormittag nicht zum Vorschein, sondern vergrub sich mit Cäsar in ihren Schmerz. Aus dieser nützlichen Tätigkeit stöberte sie Trude auf, welche die Weisung erhalten hatte, sie zu Tisch zu rufen.

»Sagen Sie, ich hätte keinen Hunger, Trude.«

»Aber Fräulein Urselchen, seien Sie doch nich so. Sehen Sie, was die Frau Professern is, die is ja woll manchmal 'n bißchen hitzig und ranzt einen auch woll an. Aber das brauchen Sie sich nich so zu Herzen zu nehmen. Se meint's trotzdem herzensjut. Und wenn Se auch Ausschimpfe jekriegt haben, deshalb können Se ruhig zu Tische kommen. Es jibt Kalbsleber.«

Ob nun das gutmütige Zureden des Mädchens Erfolg bei Ursel hatte oder die Kalbsleber, die sie besonders gern aß, soll dahingestellt bleiben. Jedenfalls geruhte sie, die verräterischen Tränenspuren im Gesicht mit kaltem Wasser zu tilgen und bei Tisch zu erscheinen.

»Ah!« machte Hans, der abscheuliche Necker langgezogen, was Ursel besonders ärgerte. Er hatte es natürlich längst heraus, daß da irgend was nicht in Ordnung war.

Während Ursel allen Ernstes überlegte, ob sie sich wieder in ihre Gemächer zurückziehen solle, verwies ihn die Mutter. »Hansi, halt den Schnabel. Und du, Ursel, iß rasch deine Suppe. Wir sind bereits damit fertig.«

Es war doch gut, daß sie bei Tische geblieben war. Augustes Kalbsleber mundete herrlich, denn Ursel hatte sich rechtschaffenen Hunger geweint. Freilich, daß der Vater offenkundig über sie hinwegsah und von ihrem Dasein absolut keine Notiz nahm, war etwas störend. Auch daß Hans das Gespräch immer wieder auf die englischen Suffragetten brachte, die durch eigenes Aushungern etwas bei ihren Gegnern zu erreichen suchten, war niederträchtig.

»Was mache ich nun mit dem Mädel, Rudi?« fragte Frau Annemarie ihren Mann nach Tisch, als Ursel mit dem letzten Happen und einer etwas undeutlichen »Gesegnete Mahlzeit« sofort wieder auf ihr Zimmer verschwunden war. Es war das gemeinsame Nachmittagsstündchen des Professors und seiner Frau, in dem stets alle wichtigen Dinge besprochen wurden.

»Laß sie halt ausbocken«, riet der Professor mit Gemütsruhe.

»Ausbocken ist keine Beschäftigung«, wandte Annemarie ein. »Ich kann sie doch nicht den ganzen Tag da oben sitzen lassen. Wenn man nichts tut, kommt man nur auf dumme Gedanken.«

»So laß dir im Hause von ihr helfen, Herzle. Es schadet dem Prinzeßchen gar nichts, wenn es halt mal etwas in der Wirtschaft herangenommen wird.« Er rauchte in aller Gemütsruhe seine Nachmittagszigarre.

»Ja, Rudi, es fragt sich doch jetzt vor allem, was soll denn nun mit der Ursel werden? Das Mädel ist doch durch die Banktätigkeit an regelmäßige Arbeit gewöhnt. Irgendeinen Beruf muß sie doch schließlich haben.«

Der Professor stieß dickere Dampfwolken in die Luft. »Hm – und du meinst halt, Fraule, zur Bank geht sie nimmer zurück?«

»Ganz ausgeschlossen, Rudi. Nicht im Guten und nicht im Bösen. Da kenne ich deine Tochter.«

»Ja, dann werd' ich mich doch mit dem Bankdirektor in Verbindung setzen und die Ursel bei ihm entschuldigen müssen. Also ein mißglückter Versuch. In einem anderen kaufmännischen Beruf wird sie's halt genau so machen.«

»Glaub' ich auch, Rudi. Ich habe mir den ganzen Vormittag schon den Kopf zerbrochen, wie wir die Angelegenheit glücklich lösen. Sie will jetzt natürlich durchaus Musik studieren, auf irgendein Konservatorium – – –«

»Kommt ihr mir schon wieder mit Opernideen?« Der Professor schien recht ungehalten. Die Dampfwolken seiner Zigarre verdichteten sich zu einer grauen Wolkenwand. »Vorläufig könnten wir sie halt mal erst für ein paar Wochen an die Waterkant nach Lüttgenheide schicken.« Dort war immer das Absatzgebiet für alles, womit man im Augenblick nichts Rechtes anzufangen wußte. »In der ländlich gesunden Atmosphäre wird man ihr schon Vernunft beibringen. Der Klaus nimmt halt kein Blatt vor den Mund und die Ilse sie dafür tüchtig im Wirtschaftsbetrieb mit heran. Das wird dem Prinzeßchen gut tun. Und dann können wir ja weiter schauen.« Der Professor griff nach seiner Zeitung, ein Zeichen dafür, daß das Gespräch erledigt war.

Seine Frau, die sonst dieses Schlußzeichen zu respektieren pflegte, schüttelte den Kopf. »Nein, Rudi, mit der Waterkant ist es nichts. Ursel hat mir vorhin bereits erklärt, daß es dort mopsig sei, und sie nicht wieder hinfahren wolle. Wenn wir uns auch heute noch nicht über ihre weitere Zukunft entscheiden können, so hatte ich mir gedacht, ob wir sie nicht auf unsere Reise ins bayerische Hochgebirge mitnehmen wollen. Das würde sie mit der versagten Pyrmonter Fahrt aussöhnen, und die Schwestern, die sich so lange nicht gesehen haben, wären dann wieder mal beisammen. Auch verspreche ich mir von unserer pflichttreuen Großen einen guten Einfluß auf die Kleine.« Bittend schaute Frau Annemarie ihrem Mann in die Augen.

»Dein Nesthäkchen hat halt einen guten Sachwalt an dir, Annemie. Na, meinetwegen – obgleich die Krabbe gewiß nicht eine solche Reise verdient hat. Also, dann bleibt's dabei: der Hansi geht in den Ferien nach Lüttgenheide. Das ist ja für ihn das schönste. Und wir im August mit den beiden Mädels nach Bayern. Schreib der Vronli, daß sie sich halt den Urlaub danach einrichtet. Weißt, grad bang ist mir schon nach unserer Ältesten.«

»Mir längst, Rudi. Ich kann die Zeit kaum noch erwarten. So – und nun will ich dich nicht länger deiner geliebten Zeitung entziehen und wieder Sonnenschein bei unserm betrübten Nesthäkchen hervorzaubern.«

Als Frau Annemarie das Stübchen oben betrat, war das Nest leer, der Vogel ausgeflogen. Die Mutter runzelte die Stirn. Unerhört selbständig wurde die Ursel jetzt. Sie hatte doch sonst stets, wenn sie fortging, zum mindesten Mitteilung davon gemacht. Auch die Mädchen wußten nur, daß sie mit Cäsar fortgegangen sei. Eine Tasche oder ein größeres Paket habe sie nicht bei sich gehabt. Das war der Mutter immerhin eine Beruhigung. Denn ihrer impulsiven Jüngsten war es zuzutrauen, daß sie auch ohne die elterliche Erlaubnis nach Pyrmont abdampfte.

Aber nein – Frau Annemarie atmete auf, als Ursel nebst Cäsar gegen Abend wieder auf der Bildfläche erschienen. Sie hatten bloß einen weiten Spaziergang unternommen, auf welchem Ursel sich all ihre Empörung ausgelaufen hatte.

Nun saß sie am Flügel und ließ sich von den herrlichen Beethovenweisen den Rest ihres Schmerzes fortspülen. Die Musik war für sie mit Milton Tavares identisch. Sie fühlte sich ihm nahe in den Beethovenschen Klängen, die sie gemeinsam gespielt.

Im Nebenzimmer beim Vater war noch ein verspäteter Patient, von dem Ursel nichts ahnte. Denn meistens pflegte der Professor zu dieser Zeit seine Besuche zu machen.

Ursel ging jetzt zum Gesang über. Zu Übungen hatte sie wenig Lust. Sie begann gleich mit Schubert. Süß und voll klang ihre Stimme.

»Verzeihung, Herr Professor, für das unfreiwillige Konzert«, sagte der Arzt entschuldigend zu dem fremden Herrn. »Meine Tochter weiß nicht, daß ich noch Patienten da habe. Ich werde sogleich für Ruhe sorgen.« Er wollte zur Tür.

Aber sein Patient hielt ihn zurück. »Bitte, Herr Professor, gönnen Sie mir den Genuß, einmal eine wirklich schöne Stimme zu hören. Sie wissen, ich bin vom Fach, aber wie selten bekommen wir an der Hochschule ein derartiges Material in die Hand. Das ist Edelmetall. Herrlich – ganz herrlich! Hören Sie nur, diese Weichheit des Tones, diese Klangfülle – Ihr Fräulein Tochter studiert natürlich Musik?«

»Sie möcht's halt gern, aber ich hab' mich nicht dazu bereit finden lassen. Ich bin ein Gegner der Bühnenlaufbahn. Wenigstens für meine Tochter.«

»Oh, Herr Professor.« Der alte Herr wiegte bedauernd seinen weißen Kopf. »Sie wissen es gar nicht, welch einer Unterlassungssünde Sie sich da schuldig machen. Das nenne ich, die Menschheit um eine zu den schönsten Hoffnungen berechtigende Künstlerin bringen. Hören Sie nur das hohe C – mühelos und leicht wie eine Lerche.« Der Fremde geriet in Begeisterung.

»Meinen Sie wirklich, Herr Professor, daß meine Tochter ein derartiges Talent ist?« fragte Rudolf Hartenstein bestürzt. Er schien durchaus nicht darüber beglückt zu sein.

»Zweifelsohne! Eins von denen, wie sie nur alle hundert Jahre mal vorkommen. Ein Sonntagskind, ein kunstbegnadetes. Geben Sie uns Ihre Tochter auf die Hochschule für Musik. Es muß ja nicht unbedingt die Opernlaufbahn sein, wenn Sie mit derselben so wenig einverstanden sind. Ich weiß nicht einmal, ob die Größe der Stimme für die Bühne ausreichen wird. Das muß man erst sehen, wie sich dieselbe weiter entwickelt. Aber für den Konzertsaal ist es eine wunderbare Stimme.«

»Also für die Oper, meinen Sie, würde die Stimme doch nicht ausreichen?« Das schien dem Vater am meisten am Herzen zu liegen.

»Läßt sich nicht im voraus sagen. Die Sängerin ist sicher noch sehr jung und die Stimme daher entwicklungsfähig. Aber wenn es Ihrem Wunsche entgegen ist, so ist doch die Opernlaufbahn durchaus nicht das Erstrebenswerte. Im Gegenteil, ich stehe auf dem Standpunkt, daß eine wahrhafte Künstlerin im Konzertsaal viel mehr zur Geltung kommt.«

»Und – und Sie würden meine Tochter an der Hochschule für Musik aufnehmen, Herr Professor Lange?« Die Frage klang noch immer zögernd und unschlüssig.

»Ich glaube Ihnen die Gewißheit geben zu können. Ihre Tochter wird die Aufnahmeprüfung spielend erledigen. Wie alt ist die junge Dame?«

»Im achtzehnten Jahr.«

»Hm – etwas zu jung. Im allgemeinen pflegen wir vor achtzehn Jahren keine Musikstudierenden aufzunehmen. Aber in diesem Falle glaube ich Ihnen versprechen zu können, daß man es nicht auf die paar Monate ansehen wird. Solch eine Stimme wird die Hochschule sich nicht entgehen lassen. Besonders, wenn ich mich persönlich dafür interessiere.«

»Das wäre sehr liebenswürdig von Ihnen, Herr Professor. Ich darf mich dann wohl später an Sie wenden.«

Damit war das für Ursels Zukunft so inhaltsschwere Gespräch beendigt.

Eine Stunde später beim Abendbrot war's. Ursel hatte heute nicht ihre sonstige kecke Sicherheit. Sie fühlte sich der Mutter gegenüber schuldbewußt, weil sie am Nachmittag ohne Verabschiedung fortgegangen war; und dem Vater gegenüber hatte sie noch von gestern her ein schlechtes Gewissen. Hans war bei einem Freunde, so daß Ursel nicht viel mit sich anzufangen wußte.

Warum sahen denn Vater und Mutter sie bloß so merkwürdig an? Ursel rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. Sie beschäftigte sich angelegentlich mit ihrem Butterbrot.

»Höre mal, Ursel«, begann der Vater da. Jetzt kam's, jetzt wurde die leidige Bankgeschichte noch einmal durchgekaut. Aber trotz alledem bedeutete es für Ursel schon eine Erleichterung, daß der Vater sie nicht mehr übersah und wieder mit ihr sprach.

»Ja, Vater?« Es klang möglichst bescheiden.

»Hättest du Lust, an der Hochschule für Musik Gesang zu studieren, oder würdest du mir da halt ebensolche Schande machen wie an der Bank?«

»Vaterle! – – –« Ursel unterdrückte den Glücksausruf, der sich ihr von den Lippen ringen wollte. Das war ja sicher nur Scherz. Unsicher blickte sie zur Mutter hin.

Aber die nickte ihr mit frohen Augen zu. »Ein Patient von Vater, Professor Lange von der Hochschule, hat dich heute singen hören. Er meinte, für den Konzertsaal wäre deine Stimme geeignet, wenn auch wohl kaum für die Bühne. Der Herr will sich für dich verwenden, daß du, trotzdem du noch nicht ganz das vorschriftsmäßige Alter hast, zum Herbst an der Hochschule aufgenommen wirst.«

»Muzi – das ist wahr? Kein Scherz? Macht Vater wirklich keinen Spaß? Läßt er mich nicht drauf reinplumpsen?« Ursel konnte sie nicht fassen, die Glücksbotschaft.

»Wollen's halt mal probieren, Mädel. Aber das sag' ich dir, deine Operngelüste laß dir halt vergehen. Dazu kriegst mich nimmer rum. Konzertsängerin magst meinetwegen werden, aber von der Bühne will ich nix wissen. Verstehst?«

Na, und ob die Ursel verstanden hatte! Die war längst von ihrem Stuhle, längst hatte sie ihren Vater um den Hals und küßte und streichelte ihn vor Seligkeit. Dann kam die Mutter an die Reihe.

»Ich will euch ja jetzt solche Freude machen, stolz sollt ihr auf mich werden«, versprach sie mit glücksheißen Wangen. »Und dem Bankdirektor will ich auch schreiben und mich entschuldigen, wenn du es wünschst, Vater. Und an der Reise nach Pyrmont liegt mir jetzt gar nichts mehr, wenn ich auf die Hochschule darf. Dann will ich überhaupt gar nicht reisen, dann bleib ich gern zu Hause.«

»Das tut mir leid, Ursel«, meinte die Mutter lächelnd, die sich an der Glückseligkeit ihres Nesthäkchens weidete. »Vater und ich hatten andere Absichten mit dir. Wir wollten dich mitnehmen nach den bayerischen Bergen, aber wenn du nicht reisen magst – –«

Sie kam nicht weiter. »Wirklich – Muzi? Nach Bayern – zu Vronli? Ach, heute ist ein Glückstag für mich!«

Cäsar blickte kopfschüttelnd auf seine junge Herrin und dachte philosophisch: »Aus den Menschen werde ein anderer klug!«


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