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6. Kapitel. Die erste Gesangstunde.

In der Bank war Ursel am nächsten Tage noch weniger zu gebrauchen als sonst. Herr Müller mußte ungezählte Male »wenn ich bitten darf« sagen. Denn selbst der galanten Hilfsbereitschaft des Herrn Rumpler gelang es nicht, alle Dummheiten, die Ursel an diesem Montag verbrach, wieder in Ordnung zu bringen. Daran war aber nicht etwa die Maibowle vom Abend zuvor schuld, nein, die erste Gesangstunde war es, die Ursel schon im voraus mehr in den Kopf stieg, als das bei der Bowle der Fall gewesen war.

O Gott, wie sie sich freute! Rein rappelig war sie vor Seligkeit. Unglaubliche Mühe wollte sie sich geben, wenn sie Frau Gerstinger ein Lied oder eine Arie vorsingen sollte. Am liebsten eine Opernarie. Die Ännchen-Arie aus dem »Freischütz« lag ihr besonders gut. Da konnte sie all ihre drollige Munterkeit hineinlegen. Oder auch die Susanne aus dem »Figaro«. – Frau Gerstinger brauchte ihre Wünsche nur auszusprechen.

Vorläufig aber sprach Herr Müller seine Wünsche aus. »Fräulein Hartenstein, wenn ich bitten darf, das ist nun schon der dritte Brief, den ich Ihnen wieder zurückgeben muß. Sie sollen belasten – belasten – und nicht zugunsten erkennen. Da käme unsere Bank ja weit, wenn sie die Schulden der Kunden als Guthaben buchen würde. Schreiben Sie den Brief noch mal, aber wenn ich bitten darf, irren Sie sich nicht zum vierten Male.«

»Alle guten Dinge sind drei«, lachte Ursel Herrn Müller so strahlend an, als ob er ihr soeben seine Anerkennung ausgesprochen, und nicht sein Mißfallen zu erkennen gegeben habe.

Sie machte sich wieder an den langweiligen Brief. »Also belasten soll ich – belasten – – – – von wem mag ich eigentlich mit meiner musikalischen Begabung belastet sein? Mutti ist unmusikalisch wie Cäsar. Aber Vater hat entschieden eine musikalische Ader. Sein Vater soll sehr schön gesungen haben – also vom Großvater her. Auch Tante Ola hat eine wundervolle Stimme gehabt, erzählt Mutti. Wenn ich Frau Gerstinger heute durch meine Stimme in Erstaunen setze, wird sie sicher später Schritte tun, eine solche Kraft für die Bühne zu gewinnen, sie war ja früher selbst bei der Oper. Also auf heute kommt alles an – alles. Geradezu verblüffen muß ich sie durch meinen Gesang.«

»Kommt ein schlanker Bursch gegangen.« Ursel hatte vollständig vergessen, wo sie sich befand. Sie sang die »Freischütz«-Arie nicht gerade laut, aber sie trällerte dieselbe doch immerhin hörbar vor sich hin.

»Nanu?« machte Herr Müller und sprang vor Schreck von seinem hohen Kontorbock herunter, während sich ringsum lautes Gelächter erhob. »Nanu? Ja, aber wenn ich bitten darf, was hat das denn zu bedeuten, Fräulein Hartenstein? Sie sind doch hier nicht allein, wenn ich bitten darf. Wenn wir nun alle hier anfangen würden zu singen – ja, stellen Sie sich das, wenn ich bitten darf, nur mal vor!« Er kam angegangen, durchaus kein schlanker Bursch, sondern ein recht wohlbeleibter. Nach dem Brief griff er, an dem Ursel noch keine zehn Worte geschrieben. »Ich habe doch schon viele Lehrlinge ausgebildet, aber ich muß zu meiner Betrübnis sagen, daß mir noch keiner in meiner siebenundzwanzigjährigen Praxis solche Schwierigkeiten bereitet hat.« Es kam selten vor, daß der höfliche Herr Müller so energisch wurde. Aber das nicht endenwollende Lachen der Umsitzenden ärgerte ihn nicht weniger als die Untauglichkeit seines Banklehrlings. »Es tut mir aufrichtig leid, gezwungen zu sein, Herrn Direktor Hildebrandt das auf seine diesbezügliche Frage eventuell mitteilen zu müssen. Sie mögen ja ein musikalisches Talent sein, Fräulein Hartenstein, aber Talent zum Bankfach haben Sie entschieden nicht.«

»Nicht wahr?« stimmte Ursel durchaus nicht gekränkt, sondern im Gegenteil geradezu geschmeichelt durch die abfällige Kritik, lebhaft ein. »Das habe ich ja meinem Vater gleich gesagt. Er wollte es mir nicht glauben. Wenn Sie es ihm doch noch mal bestätigen möchten, Herr Müller. Aber vielleicht genügt es auch schon, wenn Sie Herrn Direktor Hildebrandt mitteilen, daß an mir Hopfen und Malz als Banklehrling verloren ist.«

Herr Müller stand starr. Was – man bat ihn geradezu, dem gefürchteten Direktor Mitteilungen von all den Dummheiten, die man sich leistete, zu machen? Das war ihm in seiner siebenundzwanzigjährigen Praxis noch viel weniger vorgekommen. Dabei konnte man diesem liebreizenden jungen Ding, das einen aus seinen großen Blauaugen so strahlend anschaute, nicht einmal richtig böse sein. Das war das Allerschlimmste daran. Herr Müller gab sich einen Ruck. »Aber nun Ernst, meine Herrschaften, wenn ich bitten darf!« Er wandte sich den immer noch grienenden Gesichtern zu. »Ernst! Fräulein Hartenstein, bringen Sie Ihrer Tätigkeit, wenn ich bitten darf, ebenfalls den notwendigen Ernst entgegen. Sonst kann nie und nimmer etwas Gescheites daraus werden.« Umständlich kletterte er wieder auf seinen Kontorthron.

Man wußte es ja bereits in der Bank, daß Fräulein Hartenstein trotz ihrer großen Jugend zur Oper Beziehungen hatte. Ursel hatte niemals geradezu widersprochen, weil diese Annahme der Kollegen ihrer Eitelkeit schmeichelte und ihr außerdem diebischen Spaß machte. Als sie Herrn Rumpler, mit dem sie sonst nach Hause zu fahren pflegte, in der Mittagspause davon Mitteilung machte, daß sie heute zur Gerstinger müßte – wohlweislich verschwieg sie, daß es sich um ihre erste Gesangstunde handelte –, da verbreitete sich diese Neuigkeit wie Lauffeuer. Na ja – man wußte ja längst Bescheid.

Frau Gerstinger, ehemalige Primadonna der Berliner Oper, bewohnte eine Dreizimmerwohnung im Gartenhause am Kaiserdamm. Ursel hatte sich die Aufmachung eigentlich vornehmer bei einem ehemaligen Bühnenstern gedacht. Sie rümpfte das Näschen. Gartenhaus, das war ja nicht viel besser als Hinterhaus. Wenn auch Läufer auf der Treppe lagen. Erstes – zweites – drittes Stockwerk – pppph – sie konnte schon nicht mehr pusten. War es möglich, daß die berühmte Sängerin noch höher wohnte? Mutti hatte telephonisch alles Notwendige mit Frau Gerstinger besprochen, und diese die neue Gesangsschülerin gleich zur ersten Stunde hinbestellt.

»Gerstinger« – da stand es endlich an dem kleinen ziemlich blinden Messingschild, hoch oben in der vierten Etage. Ursel mußte trotz ihrer jungen Lungen ein wenig verschnaufen. Denn sie war eilig gestiegen, weil sie die Zeit nicht erwarten konnte. Wenn sie Ehre einlegen wollte beim Vorsingen, mußte sie vor allen Dingen erst mal wieder zu Atem kommen.

Die Klingel gab einen hellen freudigen Ton, der gut zu Ursels freudiger Erwartung stimmte. Hohes Hundegebell, das an das Pfeifen einer Maus erinnerte, antwortete. Dann schlurrende Schritte. Eine Frau in ziemlich verwahrlostem Anzuge öffnete. Sie führte Ursel in ein Zimmer, in welchem ein Flügel stand. Auf dem schwarzen Holz desselben lag eine dicke Staubschicht. Doch das sah Ursel nicht. Die hatte nur Augen für die Wand mit all den vertrockneten Lorbeerkränzen und vergilbten Seidenschleifen. Geradezu andächtig schaute das junge Mädchen auf all die Zeichen vergangenen Ruhmes. O mein Gott, was mußte das für ein Gefühl sein, wenn einem solch ein Lorbeerkranz überreicht wurde!

Die Tür öffnete sich. Ursel drehte erwartungsvoll den Kopf. Zuerst erschien ein winziger Pinscher, ein mit piepsender Stimme bellendes, weißes Wollknäuel, so langhaarig, daß man nicht recht daraus klug wurde, von welcher Seite das Bellen kam, wo es seinen Kopf hatte. Es machte dem musikalischen Sinn seiner Besitzerin mit seiner Quietschstimme eigentlich wenig Ehre.

Nun endlich erschien Frau Gerstinger in höchsteigener Person. Wie eine Königin betrat sie das Zimmer. In einem lila Samtschlafrock – trotzdem es bereits nachmittags war – mit Schleppe. Dieselbe wurde noch dadurch verlängert, daß der Saum ein wenig abgerissen war und hinterher schleifte. Über den rotblonden Haarturban, der merkwürdig zu dem verpuderten alten Gesicht stand, war ein weißer Spitzenschal geschlungen, der das Theatralische der Erscheinung noch stärker betonte.

Die unerfahrene Ursel sah nichts von dem abgerissenen Saum, weder das gepuderte Gesicht, noch das gefärbte Haar. Sie machte eine tiefe Verbeugung vor der einstigen Bühnenkönigin und zum erstenmal in ihrem Leben empfand die kecke Ursel eine Art von herzklopfender Befangenheit.

»Ah, die kleine Hartenstein, nicht wahr? Seien Sie mir gegrüßt, liebes Kind. Die Frau Mama hat Sie mir an das Herz gelegt. Schau – schau – noch reichlich jung für den Gesang. Ist denn das Stimmchen überhaupt schon entwickelt?«

»Na und ob!« entfuhr es Ursel in ihrer impulsiven Art. Sie fühlte sich gedemütigt; daß man sie als »kleine Hartenstein« bezeichnete, sie mit »liebes Kind« anredete, mochte noch hingehen. Aber daß man von ihrer Stimme, auf die sie so stolz war, als von einem noch nicht entwickelten Stimmchen sprach, das traf ihre zukünftige Künstlerehre. Der Handkuß, der Frau Gerstinger zugedacht war, unterblieb.

»Wenn ich gnädiger Frau vielleicht etwas vorsingen dürfte, daß Sie ein Bild von meinem Können gewinnen«, bat sie.

»Können? Wenn man noch nichts gelernt hat, kann man nichts. An zu geringem Selbstbewußtsein scheinen Sie nicht zu leiden, Herzchen. Wie alt sind wir denn?«

»Siebzehn.« Ursels Figürchen reckte sich.

»O Gott«, das klang so mitleidsvoll, als ob Ursel diese Zahl erst nach Wochen zählte. »Siebzehn Jahr – noch reichlich jung zum Singen. Aber immerhin, wir können es ja mal versuchen, mein Herzchen.« Sie schritt königlich zum Flügel.

»Oho, nun soll sie mal Augen machen«, dachte Ursel. Laut aber sagte sie: »Darf ich vielleicht die Ännchen-Arie aus dem ›Freischütz‹ singen? Oder auch etwas aus dem ›Figaro‹?«

»Hahaha« – das Lachen der alten Künstlerin klang ähnlich wie das Bellen ihres Hündchens. »Hahaha – Sie fangen gleich damit an, womit die andern aufhören. Zuerst muß ich mal sehen, ob Sie überhaupt Stimme und musikalisches Treffvermögen haben. Singen Sie mal die Töne auf do nach, die ich anschlage. Ganz dreist, nur ohne Angst.«

»Ich habe doch keine Angst.« Ursel wies diesen Gedanken entrüstet von sich. »Do – do – do – do – do« begann sie die Töne nachzusingen. Das Wollknäuel stimmte piepsend mit ein.

»Still, Fidelio – kusch dich – sonst spazierst du 'naus«, unterbrach Frau Gerstinger das Dododo.

»Na ja, ein ganz nettes Stimmchen – muß natürlich erst werden – noch völlig unentwickelt. Ist ja bei Ihrem zarten Alter auch noch nicht anders zu verlangen, Herzchen. Jedenfalls sind Sie nicht unmusikalisch.«

Ursel ballte die Hände. Sie hätte die Königin am liebsten verprügelt. Ein ganz nettes Stimmchen – nicht unmusikalisch – gab es eine größere Beleidigung?

»Bei dem dummen Dododo kann man ja gar nicht mit der Stimme heraus,« sagte sie mit schwer unterdrückter Empörung. »Wenn ich etwas Richtiges singen dürfte, würden gnädige Frau schon sehen, daß ich kein Stimmchen habe.«

»Hahaha« – die ehemalige Künstlerin und Fidelio lachten um die Wette. »Gekränkte Künstlereitelkeit – kennen wir. Die gewöhnen Sie sich nur möglichst frühzeitig ab, Herzchen. Dabei kommt man nicht weiter, wenn man denkt, man kann schon alles.«

»Das denke ich gar nicht, ich will ja lernen. Darum bin ich ja zu Ihnen gekommen.« Ursel Stimme klang, so sehr sie auch dagegen ankämpfte, tränenschwer. »Aber bisher ist noch jeder von meiner Stimme begeistert gewesen. Erst gestern – –«

»Hahaha –« dieses piepsende Lachen, begleitet von Fidelios Gepiepse, konnte die wütende Ursel rasend machen. »Sehen Sie, das ist der Verderb – die guten Onkel und Tanten mit ihrem verfrühten Beifall und ihren Lobhudeleien. Vorläufig singen Sie überhaupt nichts mehr vor. Verstanden, Herzchen? So, und nun wollen wir mal weiter an die Arbeit gehen. Die Noten kennen Sie doch?«

»Na ...« sagte Ursel nur, nicht gerade höflich. Nächstens fragte man sie noch, ob sie schon lesen und schreiben könne.

»Also schön – hier singen Sie diese Töne.« Frau Gerstinger drückte der erbosten Schülerin ein Notenblatt in die Hand.

»Do – re – mi – fa – sol – la – si – do –« sang Ursel die Tonleiter davon ab.

»Nun rückwärts –«

»Do – si – la – sol –«

»Fidelio, du spazierst 'naus!« Das Wollknäuel hatte sich bereits wieder an dem Gesang beteiligt. »Es ist ein hochmusikalisches Tierchen, mein Fidelio. Sobald Sie nur eine Nuance unrein singen, wird sein musikalisches Empfinden verletzt.«

»Fa – mi – re – do –« sang Ursel zur Zufriedenheit Fidelios zu Ende.

Auch Frau Gerstinger sprach ihre Zufriedenheit aus. »Ganz nett, für den Anfang. Wird schon werden. Aber bloß nicht die Schultern beim Singen heben. Die Tonbildung und die Zungenlage will natürlich erst studiert sein. Aus dem Zwerchfell muß der Ton angesetzt werden – hier ist Ihr Zwerchfell. Da« – sie drückte Ursel irgendwo in der Magengegend, wie man eine Schreipuppe auf den Bauch drückt.

»Au«, schrie Ursel denn auch pflichtschuldigst.

»Aus den Flanken müssen Sie atmen – Flankenatmung, das ist die Hauptsache. Und die Zunge niemals gewölbt, sonst kann der Ton nicht voll heraus. Sehen Sie, so muß die Zunge liegen – do – re – mi – fa – haben Sie zugeschaut, ja? So, gegen die Unterzähne muß die Zunge liegen. Nun nehmen Sie mal diesen Handspiegel hier. Schauen Sie 'nein, wie Sie Ihre Zunge dabei wölben. Wie ein Igel, stimmt's?«

Ursel sah in dem Spiegel ein wutgerötetes Gesicht, das sich vergebens abmühte, die Zunge in der vorgeschriebenen Lage gegen die Unterzähne zu legen.

»Das üben Sie mal recht schön bis auf das nächstemal mit einem Handspiegel. Und die Tonleiter gleichfalls, aber immer darauf achten, daß der Ton aus den Flanken geholt wird. Legen Sie sich dabei auf das Sofa! Da fühlen Sie's am besten, ob sich die Flanken dehnen. So, nun dürfen Sie ein bissel verschnaufen. Setzen Sie sich zu mir und erzählen Sie mir ein bissel was.« Frau Gerstinger zog Ursel auf einen knackenden Sessel hernieder, holte aus der Tasche des lila Samtschlafrocks ein Silberdöschen und entnahm demselben einen Lakritzenbonbon, den sie zu lutschen begann. Auch Fidelio wurde ein Bonbon irgendwo in die weiße Wolle hineingeschoben.

»Ich möchte so schrecklich gern zur Oper gehen«, fiel Ursel sogleich mit der Tür ins Haus, damit Frau Gerstinger auch wußte, daß es sich bei ihr um ernsten Berufsgesang und nicht nur um die übliche Gesangstunde der höheren Tochter handle.

Wieder das rasendmachende Piepslachen. »Das haben schon andere vor Ihnen gesagt, Herzchen. Andere, die vielleicht mehr dazu prädestiniert waren. Und haben's doch nicht erreicht. Die Leiter der Kunst erklimmt sich nicht so leicht. Da purzelt man nur allzuoft wieder herunter. Still, Fidelio, jetzt rede ich. Mag ja für solch junges Dingelchen recht verlockend sein, das buntschillernde Theaterleben. Aber viel mehr als dieser vertrocknete Lorbeer hier an der Wand kommt dabei nicht heraus. Selbst wenn Sie einer von den sogenannten ›Stars‹ werden, was ich vorläufig noch bezweifle.«

Ursel überlegte allen Ernstes, ob sie dieser bonbonlutschenden Frau, die eine so geringe Meinung von ihr hatte, überhaupt noch weiter Rede und Antwort stehen sollte. Aber es war doch immerhin die Gerstinger, die zur Zeit, als ihre Mutter noch junges Mädchen gewesen, eine große Rolle gespielt hatte. Darum sagte sie: »Ich denke es mir wundervoll, so viele Lorbeeren zu ernten. Selbst, wenn sie später auch vertrocknet sind.«

»Davon können Sie nicht leben, Herzchen, von vertrocknetem Lorbeer. Man wird vergessen, in die Rumpelkammer geschoben, nicht wahr, Fidelio?« Das Wollknäuel gab seine Zustimmung in den höchsten Tönen zu erkennen. »Wenn ich meine Stunden nicht hätte, ah – da schellt es schon wieder. Wohl schon Ihre Nachfolgerin. So – nun singen Sie noch mal zum Schluß do – re – mi – fa – sol – nicht die Schultern heben – aus dem Zwerchfell – Flankenatmung – ich muß fühlen, wie sich hier seitlich alles dehnt und weitet.«

Zum Kuckuck noch eins, da sollte ein Mensch singen, wenn ein anderer einem dabei die Magengegend eindrückt. Und noch dazu vor Publikum. Eine Dame hatte inzwischen grüßend das Zimmer betreten. Ursel war froh, als sie mit einem aufmunternden Kläpschen auf die Wange verabschiedet wurde. Fidelio gab ihr anstatt seiner Herrin höflich das Geleit.

Das war also ihre erste Gesangstunde! Ursel stand draußen auf der Treppe und wußte nicht, ob sie heulen oder lachen sollte. Und darauf hatte sie sich tagelang gefreut, hatte die Zeit gar nicht erwarten können. Ja, war denn das Leben wirklich so, daß alles, worauf man so hohe Erwartungen setzte, mit einer Enttäuschung antwortete?

Nein – nein – nein – sich nicht unterkriegen lassen! Sich durchsetzen! Ursel ballte temperamentvoll die Fäuste. Zeigen, daß sie imstande war, was sie sich vorgenommen, auch zu erreichen. Aber wenn Frau Gerstinger recht hatte, wenn sie wirklich nur ein Stimmchen besaß? Wenn ihr stimmliches Material nicht ausreichte? Ach Unsinn! Sich nur nicht ins Bockshorn jagen lassen. Hatte Tante Vera nicht gestern erst gesagt, das Mädel habe einen wahren Schatz in der Kehle? Na ja, das waren die lieben Tanten, die leicht begeistert waren, wie Frau Gerstinger meinte. Solch eine Künstlerin hatte entschieden mehr Verständnis, ihr Urteil war natürlich das maßgebende. Aber konnte Frau Gerstinger denn überhaupt schon ein Urteil haben? Bei den dämlichen Dododo-Übungen vermochte kein Mensch eine Stimme zu begutachten. Aber sie würde schon weiterkommen. Mal würde sie auch Lieder und Arien singen und dann – – – dann gab es vielleicht wieder solch eine Enttäuschung wie heute.

Himmel, was war denn bloß mit ihr los? Ursel kannte sich selbst nicht wieder. Wo war ihre frohe Zuversicht, ihr keckes Selbstgefühl hin. Da lief sie in ihrem Ärger den Kaiserdamm entlang, ohne nach rechts oder links zu schauen, sah nur den lila Samtschlafrock, das quiekende weiße Hundeknäuel vor sich und hörte immer wieder die Worte: »Ganz nettes Stimmchen – nicht unmusikalisch!«

War es nicht das beste, die Stunde bei der Gerstinger gleich wieder aufzugeben? Ein anderer Lehrer würde ihre Stimme vielleicht besser zu würdigen wissen. Aber nein, diese Blamage, wenn sie gleich auf der ersten Stufe ihrer geliebten Kunst Schiffbruch erlitt. Der Vater würde sich auch bestimmt nicht bereit finden lassen, so schnell zu einem andern abzuschwenken. Der war für konsequentes Durchführen einer begonnenen Sache. Gerade so, wie bei ihrem Bankfach. Sie hatte die grauen, stumpfsinnigen Arbeitstage auf der Bank überhaupt nur zu ertragen vermocht, weil sie dieselben für eine bald absolvierte Angelegenheit hielt, nur für ein Interregnum. Gleich in der ersten Gesangstunde mußte es sich ja erweisen, daß sie zu etwas ganz anderem bestimmt war. Und nun?

Eine große, dicke Träne löste sich von den langen, seidenweichen Goldwimpern, rann das zierlich kecke Näschen entlang und wurde von frischen Lippen schleunigst aufgefangen. Eine Wutträne war's – hatte auch keiner der Vorübergehenden etwa gesehen, daß sie wie ein Gör auf der Straße heulte? Ursel hielt Umschau. Unweit am Eingang der Untergrundbahn stand ein junger Herr, der belustigt mit angeschaut hatte, wie sie die Träne aufleckte. Wohl einer von den vielen Ausländern, die man hier in dieser Gegend häufig sah. Wenigstens ließ der bronzefarbene Ton seiner Gesichtsfarbe, die brennendschwarzen Augen darauf schließen. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, wollte Ursel an ihm vorüber. Da zog er höflich den weichen Hut.

»Pardon – kommt es sich mit Bahn zu Potsdam Place?« Er wies zu der Untergrundbahn hinab.

»Jawohl – drüben der Eingang.« Und da er sie nicht recht zu verstehen schien, setzte sie hinzu: »Ich fahre auch dorthin.« Gleich darauf aber biß sie sich ärgerlich auf die Lippen, denn der Herr zog aufs neue den Hut, sagte: » Eh bien, das sein gutt, serr gutt«, und schritt mit einer Selbstverständlichkeit, die Ursel unverschämt fand, jetzt neben ihr her.

Einen Augenblick überlegte Ursel: Sollte sie den dreisten Begleiter einfach stehen lassen und die Großmama, die unweit wohnte, besuchen? Zeit genug hatte sie noch, auch wollte sie doch gern die interessanten brasilianischen Pensionäre kennenlernen? Aber nein, heute war sie wirklich nicht in der Gemütsverfassung dazu. In dieser Wutstimmung durfte sie der Omama nicht in das Haus fallen.

Was hatte sie denn überhaupt nötig, vor einem Ausländer auszukneifen? Die Treppe war ja breit genug, es gingen viele Leute dort. Wehe ihm, wenn er noch einmal eine Ansprache versuchte, dann würde sie ihn in ihrer augenblicklichen Stimmung nicht schlecht abblitzen lassen.

Aber der Fremde benahm sich durchaus korrekt. Er ging ruhig seiner Wege. Freilich wollte es der Zufall – oder hatte er demselben ein wenig unter die Arme gegriffen, denn das reizende blonde Mädel mit dem wütenden Gesicht gefiel ihm – ja, der Zufall wollte es, daß er dasselbe Bahnabteil wie sie, und zwar vor ihr, betrat, so daß er den letzten Sitzplatz erwischte und ihr denselben mit »biete serr« kavaliermäßig überließ.

Ursel dankte durch hochmütiges Kopfnicken und zog ein Büchlein aus der Tasche, sich darin zu vertiefen. Aber das gelang ihr nicht. Ihre Gedanken irrten zu der Gesangstunde zurück. Zum erstenmal in ihrem Leben war es ihr peinlich, Muttis klaren Augen gegenüberzutreten. Nicht einmal mit einem schlechten Schulzeugnis hatte sie ein derartiges Unbehagen empfunden. Daß sie ihre Enttäuschung und ihren Ärger für sich behalten mußte, lag auf der Hand. Hans würde sich die gute Gelegenheit nicht entgehen lassen, sie aufzuziehen und zu foppen. Und der Vater bekam Oberwasser, daß er es ja vorausgesehen hatte, daß sie für die Oper weniger geeignet war, als für die Bank. Auch Mutti würde höchstwahrscheinlich an ihrer Begabung zu zweifeln beginnen, wenn eine Künstlerin wie die Gerstinger von einem »Stimmchen, das erst noch werden muß«, gesprochen hatte.

Wieder ging eine Zornwelle über Ursels ausdrucksvolles Gesicht und färbte es blutrot. Dabei fühlte sie, daß sie in ihrer Gemütserregung beobachtet wurde. Der Fremde hatte inzwischen ihr schräg gegenüber Platz genommen und blickte über sein Zeitungsblatt angelegentlich zu ihr hinüber. Wieder sah sie das belustigte Lächeln um seine bartlosen, energisch geschnittenen Lippen spielen, aus den schwarzen Augen blitzen. Das vermehrte ihren Ärger noch.

Als sie sich erhob, da der Potsdamer Platz erreicht war, von wo aus sie die Ringbahn benutzen mußte, grüßte er wiederum. Geflissentlich übersah sie seinen Gruß. Und ärgerte sich gleich darauf aufs neue, daß er die deutschen Mädchen für Bauernliesen halten könnte.

In dieser angenehmen Stimmung kam Ursel von ihrer ersten Gesangstunde heim.

Dort war Frau Annemarie frohgemut beim ersten Spargelstechen, während der Professor, gemütlich seine Feierabendzigarre rauchend, in den Gartenwegen auf und nieder schritt und jede Stange begutachtete.

»Schau nur, Ursel, wie Glas ist der Spargel heuer. Der soll heute abend mal munden, gelt?« rief er der Tochter entgegen. »Ja, was unser Mutterle pflanzt, das gedeiht.« Die ganze innige Liebe für seine Frau kam in diesen Worten des Professors zum Ausbruch.

»Ach, schon Spargel«, sagte Ursel. Ihre Stimme klang nicht so hell und klar wie sonst. »Tag, Vaterle, Tag, Muzi.« Sie wollte möglichst schnell ins Haus.

Aber der Vater hielt sie zurück. »Na, wie war's denn, Ursele? Was war denn nun heut schöner, die Gesangstunde oder die Bank?«

»Die Bank doch natürlich.« Es war kein freies von Herzen kommendes Lachen, das Ursels Worte begleitete. War es nicht in der Bank wirklich noch besser gewesen als in der Gesangstunde? Wenigstens hatte sich dort nur Herr Müller geärgert und nicht sie.

»Also, was hat die Gerstinger zu ihrer neuesten Konkurrenz gemeint?« stimmte die Mutter in den munteren Ton des Vaters ein.

Da war sie, die Frage, vor der Ursel gebangt.

»Och,« machte sie so obenhin, »das kann man doch natürlich in der ersten Stunde noch gar nicht beurteilen, Muzichen. Vorläufig hat sie mich nur Töne singen lassen und mich dabei auf den Bauch gedrückt wie eine Gummiquietschpuppe. Da soll nämlich irgendwo das Zwerchfell sitzen, Vater, weißt du. Und man muß fühlen, wie sich das dehnt.«

»Also anatomische Vorstudien«, schmunzelte der Vater. »Nun immerzu, wenn es dir Freude macht. Nur bitt ich mir aus, daß du deine Pflichten in der Bank darüber nicht vernachlässigst. Verstanden, du Schlingel?«

»Au, du tust mir ja weh!« Ursel machte sich aus des Vaters Hand, die sie am Ohrläppchen zog, unmutig los. Sie vergaß, Cäsar, der sie freudig umkreiste, den ihm zukommenden Willkommensklaps zu verabfolgen. So schnell es anging, entschlüpfte sie ins Haus.

»Allzu begeistert scheint mir die Ursel nicht von ihrer ersten Gesangstunde zu sein, Rudi.« Frau Annemarie blickte ihrem Nesthäkchen, dessen zorngerötetes Gesicht sie noch aus dessen Kinderzeit her genau kannte, sinnend nach.

»Desto besser, Weible. Dann war es das Klügste, was wir tun konnten, ihr die Gesangstunde zu gestatten. Abschreckungstheorie nennt man das.« Er lachte herzlich.

Frau Annemarie lachte nicht. Ihr tat ihr Nesthäkchen, das mit so hochgespannten Erwartungen zur ersten Stunde gegangen, leid.

Ursel erschien erst, als der Spargel bereits auf dem Tische stand. Ihr Gesicht war noch immer stark gerötet.

»Meinen untertänigsten Gruß, hochedle Primadonna.« Hans machte ihr eine tiefe Verbeugung.

Da hatte er bereits einen Katzenkopf weg.

»Alter Grobian!« Er rieb sich seinen blonden Schädel, unterließ aber um des lieben Friedens Willen einen Gegenangriff.

»Darf ich mich ganz ergebenst danach erkundigen, in welcher Rolle die Gnädigste heute aufgetreten sind?« Die Schwester weiter zu foppen, das konnte er doch nicht unterlassen.

Ursel, die sonst heiter auf seine Späße einzugehen pflegte, schien heute schlechter Laune. »Wenn du mich nicht in Ruhe läßt, du dummer Bengel, geh' ich auf mein Zimmer.«

»Puh – fürchterliche Drohung! Dann kriege ich mehr Spargel«, meinte Hans mit hungrigen Augen.

»Also, jetzt gebt Ruh, Kinderle, und verderbt uns die gute Mahlzeit nicht«, machte der Vater der Katzbalgerei ein Ende.

Trotzdem Ursel die erste große Enttäuschung niederzukämpfen hatte, ihre Neugier auf Großmamas neue Pensionäre ließ ihr keine Ruhe. Hans war bereits dort gewesen und stattete in seiner pomadigen Art nur ungenügenden Bericht ab.

»Sie haben alle beide die Nase mitten im Gesicht, wenn sie auch aus Brasilien sind«, äußerte er sich auf Ursels Fragen.

»Na und weiter? Wie sehen sie denn aus?«

»Bißchen duster – aber Neger sind es keineswegs. Nicht mal Halbblut, sie sind rein portugiesischer Abstammung. Ihr Ururgroßvater hat das Land mit erobern helfen und die europäische Kolonie dort gegründet.«

»Ach, was geht mich denn ihr Ururgroßvater an! Ich möchte wissen, ob sie hübsch und nett sind, ob sie deutsch verstehen und –«

»Gehe doch selber hin und gucke dir sie an. Hanne nimmt kein Entree für ihre ›Schwarzen‹«, ließ der Bruder sie unhöflich abfallen.

»Tue ich auch. Gleich morgen. Dir muß man ja doch bloß die Würmer aus der Nase ziehen.«

»Viel Vergnügen dazu!« Hans ließ es zweifelhaft, ob das Vergnügen auf den beabsichtigten Besuch oder auf seine Nase Bezug haben sollte.

Merkwürdig still wurde es darauf bei Tisch. Das kam daher, daß Ursel in ihrer Lebhaftigkeit sonst meist die Kosten der Unterhaltung bestritt. Heute aß sie ziemlich einsilbig ihren Spargel und antwortete nur auf direkte Anrede. Gleich nach Tisch wollte sie auf ihr Zimmer entschlüpfen, Kopfschmerzen vorschützend.

»Ach was, wie ich ein junges Mädel war, kannte ich Kopfschmerzen nimmer«, lachte der Vater sie aus. »Geh lieber noch ein bissel 'naus in die Luft, das ist halt gescheiter.«

»Ja, komm, Urselchen, ich habe heute den ganzen Tag noch nichts von dir gehabt.« Liebevoll ergriff die Mutter Ursels Arm. Da gab's keine Gegenrede.

Stumm schritten Mutter und Tochter den Gartensteg auf und nieder. Arm in Arm. Betäubend duftete Flieder und Holunder. Frau Annemarie schwieg. Sie wartete.

Aber Ursel fand den Weg noch nicht.

»Also, mein Herzchen, wo ist dir denn die Petersilie verhagelt?« kam ihr die Mutter entgegen.

»Wieso?« versuchte Ursel möglichst unbefangen eine Gegenrede.

»Nun, das sieht doch ein Blinder ohne Laterne, daß heute nicht alles so gewesen ist, wie du es dir vorgestellt hast. Wenn du nicht davon reden magst, will ich nicht in dich dringen, Kind. Aber leichter würde es dir schon ums Herz werden, wenn du dich aussprichst.«

Wieder eine lange, schwüle Pause. Man hörte die Grillen im Grase zirpen. Ursel kämpfte mit ihrem Stolz. Und dann legte sie mit einem Male los. Wie ein Sturzbach ergoß es sich von ihren Lippen.

»Ein Stimmchen soll ich haben, ein ganz nettes. Und unmusikalisch wär' ich auch nicht – solche Unverschämtheit! Denkt wohl, sie habe allein die Musik für sich gepachtet, die Gerstinger. Arien hat sie mich überhaupt nicht singen lassen. Ausgelacht hat sie mich, daß ich zur Oper will. Und wenn ich mich nicht schämte, ich ginge überhaupt nicht wieder hin zu dieser ollen Karline aus der Rumpelkammer.«

»Ruhig, Kind, ruhig, Ursel! Du weißt in deiner Empörung überhaupt nicht mehr, was du sprichst. Hast du wirklich im Ernst gedacht, Frau Gerstinger würde in Begeisterung über deine Stimme geraten? Wie kannst du ihr einen Vorwurf daraus machen, wenn du dir solch dummes Zeug vorstellst. Sie ist die Lehrerin und hat gewiß schon ganz andere Stimmen ausgebildet, als die deinige. Für sie sind alle unentwickelten, noch nicht geschulten Stimmen ›Stimmchen‹. Das ist durchaus keine Beleidigung für dich. Mein Fräulein Tochter ist eben allzusehr von sich eingenommen und verträgt eine ehrliche Kritik nicht. Gewöhne dir das beizeiten ab, Herzchen, sonst können die Enttäuschungen nicht ausbleiben. Besser, du nimmst heute eine aus deiner ersten Gesangstunde mit davon als später aus dem Leben. Das sage ich dir, deine beste Freundin.«

Ursel lehnte den Blondkopf an der Mutter Schulter. Ihre Empörung ebbte allmählich ab. »Na, meinetwegen, dann will ich es noch mal mit der Gesangstunde versuchen«, sagte sie schließlich, ruhiger geworden.

Wohl dem, dem bei der ersten Enttäuschung solch eine beste Freundin zur Seite ist.


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