Alexander von Ungern-Sternberg
Tutu
Alexander von Ungern-Sternberg

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtzehntes Kapitel

Entdeckungen.

 

Gegen alle Zerstreuungsmittel, die Zerburo anwandte, blieb die empfindsame Seele Tutus verschlossen; er wollte nichts sehen, nichts hören als Idunas Augen, als Idunas Worte; er hörte und sah sie im Geiste, da es ihm versagt war, sie in Wirklichkeit zu empfinden. Der Zustand des armen Seraphs war in der Tat bedauernswürdig. Das träumerische Sinnen und die verliebte Melancholie nimmt bei so feinen Geistern einen ganz eigentümlichen und mit nichts zu vergleichenden Zauber an; es ist die Poesie selbst in ihrer zartesten und geistigsten Versinnlichung, die sich über eine so hochbegabte Seele ausbreitet und sie gleichwie von farbiger Glut durchscheinen läßt. Wäre Tutu ein Dichter gewesen, so hätte er hier in seiner Verkörperung, da die irdischen Mittel der Veröffentlichung seiner Inspirationen ihm zu Gebote standen, Wunder leisten und das Staunen der Mit- und Nachwelt erregen können, allein es ging ihm, wie es mit so manchem schönen Sterblichen geht, er war nicht Dichter, bloß Stoff zu einem Gedicht. Er war so hinreißend liebenswürdig in seiner Schwermut, daß Zerburo beinahe vergaß, welche zarte Rücksichten er gegen seinen himmlischen Reisegefährten zu nehmen hatte, und mehr wie einmal eine Liebeserklärung in aller Form auf der Lippe hatte, die er in das Gewand der Freundschaft zu kleiden beschloß.

Es waren einige Monate vergangen während des Herumschweifens, und die Erde schickte sich an, ihren herbstlichen und winterlichen Schmuck anzulegen – diese Diademe von Eisbrillanten, diese Blätterkronen von purpurnem und goldgelbem Laub, diese Schnee-Mäntel über grauer Atlas-Robe der trüben Eisflächen. Tutu schauderte zusammen wie eine verspätete Blume, die ihre zarten Wangen, kaum der Hülle entkleidet, dem Anhauch eines eisigen Ostwindes hinzuhalten gezwungen ist. »Ich muß fort« – sagte er zu Tutu – »ja, ich muß fort! aber wohin?« setzte er sogleich seufzend hinzu.

»In den Himmel zurück« – entgegnete Zerburo.

»Ach – ich weiß ihn nicht mehr zu finden!«

Es lag ein unendlicher Wehelaut in dem Tone, mit dem er die Worte sprach: »Ach! ich weiß ihn nicht mehr zu finden.«

»Wie, Tutu!« fuhr Zerburo erschreckt auf, »du weißt deine Heimat nicht mehr zu finden?«

Der Seraph schüttelte das Haupt und starrte vor sich hin.

»Also doch!« seufzte Zerburo – »also doch!«

Tutu sah ihn fragend an. »Was meinst du mit diesem Ausruf?« fragte er leise.

»Ich hätte in der Tat nicht geglaubt«, fuhr der Student fort, »daß es der Kokette gelungen wäre, die dich seit einigen Wochen mit einer so eisernen Geduld und einer so handfesten Zudringlichkeit verfolgt, dir jenen ominösen Kuß zu rauben, der dir den Wiedereintritt in den Himmel verschließt.«

Tutu blickte ganz verwundert auf. Die großen, blauen Augen, in denen ein wundersamer tiefer Himmel schimmerte, hatten etwas von der Angst und Beklemmung einer Seele angenommen, die sich in Zweifel befindet, ob sie wegen einer unerhörten Gotteslästerung, die sie vernimmt, zürnen solle, oder ob sie einen ungehörigen Scherz anhöre.

»Was meinst du damit?« fragte Tutu.

»Nun, die Tochter unserer Wirtin, bei der wir jetzt wohnen«, antwortete mürrisch der Gefragte. »Die hat es darauf angelegt, dich zu fangen, und ihr sitzt oft stundenlang zusammen, und du liesest ihr das Befreite JerusalemTassos »Befreites Jerusalem« war durch die Übersetzung von Karl Streckfuß (1822. 4. Auflage 1847) wieder bekannt geworden. Der Übersetzer war 1844 in Berlin gestorben. vor. Oh, ich weiß das alles!«

Tutu entgegnete rot: »Ja, es ist ein herrliches Gedicht! Ich habe jenen jungen Helden gekannt, den der Dichter feiert; ich sah ihn einziehen in Jerusalem – ich war an seiner Seite.«

»Ich spreche nicht davon« – sagte Zerburo noch finsterer – »du hast Lust, mir zu entschlüpfen, wie ich merke. Doch bleibe gefälligst bei unserm Gegenstand. Ich habe soeben dir mitgeteilt, wie verwundert ich bin« –

»Über die Taten Gottfrieds!« rief Tutu noch ganz glühend vor Begeisterung. »Ja, ich glaube dir. Aber es war damals eine andere Zeit. Die Menschheit war feuriger und jünger. Es war noch ein schöner Wahn möglich. Die Erde war ein Zauberboden – heut ist sie ein Ackerfeld.«

»Oh, wenn du mich nicht zu Worte kommen lassen willst –«

»Nun?« entgegnete Tutu und senkte sein Haupt träumerisch. »Was ist's? Was willst du mir sagen? Mach's kurz, ich bitte dich.«

»Ich meine den Kuß –«

»Welchen Kuß?«

»Den du gegeben hast, oder den man dir geraubt hat.«

»Von wem?«

»Nun, von dem zarten Fräulein, dem du das Befreite Jerusalem vorliesest? Ist das recht, mein Freund? So lange hast du der Versuchung, und welcher Versuchung widerstanden, und nun nimmt dich eine affektierte, alternde, prüde Kokette gefangen. Wenn man mir dies eine Stunde früher gesagt hätte, ich wäre schnell fertig gewesen, es für eine Lüge zu erklären.«

»So erkläre sie auch noch jetzt dafür.«

»Aber deine Äußerung, daß du nicht mehr in den Himmel könnest –«

»Weil – weil –« Tutu stockte und sprach nicht weiter. Eine Träne stahl sich über seine Wange, und nur in einem leisen Seufzer wurde der Name »Iduna!« hörbar.

»Ach so –« rief Zerburo erleichtert: »Iduna also und nicht Rosalinde. Nun atme ich wieder auf. Und in den Himmel kannst du nicht mehr, weil du nicht mehr willst. Ich errate. Armer, armer Freund! Nun, so laß uns Iduna wiedersehen. Ich bemerke, daß es doch nicht anders sich wird tun lassen. Wir müssen zurück. Ja, wir müssen. Du sollst die schöne Gräfin wiedersehen, und ich werde froh sein, in die muntern Augen der kleinen Melanie wieder einmal schauen zu dürfen. Das Mädchen ist so gerade nach meinem Geschmack.«

Und Tutu zog Zerburo mit sich fort; doch dieser, im Begriff seinem Freunde zu folgen, stand auf einen Moment still, legte den Finger an die Stirn und sagte mit einem düstern Lächeln: »Aber, Tutu, hast du bedacht, daß, einmal wieder in die gefährliche Nähe dieser Verführerin gelangt, du in Wahrheit jener Gefahr unterliegen wirst, von der du, wie ich jetzt sehe, nur scheinbar hier bedroht warst.«

»Prüfe nicht, frage nicht – sondern komm!« rief Tutu heftig. »Soll ich den Himmel einbüßen, so ist's meine Bestimmung gewesen.«

Aber es war zum Glück nicht seine Bestimmung.

Iduna hatte während Tutus Abwesenheit die Stelle wieder besetzt, die er in ihrem Herzen eingenommen, und zwar hatte diese Stelle ein junger Fant inne, der außer seinen hübschen Augen und seinem wohlgeordneten Bärtchen durchaus keine Eigenschaft vermuten ließ, die ihn hätte würdig erklären können, das Herz einer Frau wie Iduna zu fesseln. Allein die Frauen sind launenhaft; auch die beste macht hiervon keine Ausnahme.

Tutu war gerettet.

Aber auch Zerburo war es. Er erkannte, daß Melanie, trotz der einschmeichelnden Grazie, die ihr Wesen umgab und jeder ihrer Mienen einen eigentümlichen Zauber verlieh, doch nicht die Rechte für ihn sei. Er suchte und fand bald diese Rechte. Eine junge, schlanke Schöne mit jener sanften Glut in den frommen Augen, die am nächsten hienieden an das Bild streift, das unsere Phantasie von einem Engel sich entwirft, und das Zerburo sich richtiger und vollkommener zu entwerfen imstande war, da er lange Zeit in der Gesellschaft eines Überirdischen gelebt, schmiedete um ihn unzerreißbare Fesseln.

So endete die Wanderung dieser beiden Freunde.

Tutu schwang sich in den Himmel zurück, nachdem er auf Erden seinen Freund glücklich zurückgelassen hatte. Er erzählte den jüngern Engeln die Gefahren seiner Reise und warnte sie, sich mit den Töchtern und Söhnen der Menschen einzulassen; denn nicht jeder himmlische Neugierige käme so glücklich davon, der Wirkung der geheimnisvollen Formel zu entschlüpfen.

Es ist nicht bekannt geworden, ob Tutu nochmals eine Reise auf die Erde zu machen beabsichtigt. Sollte es jedoch geschehen, so werden wir nicht versäumen – wenn wir hierzu ausersehen sind – dem Leser eine genaue Beschreibung zu geben.

Einstweilen nehmen wir von ihm Abschied.

Hat dieses Buch die Strengen und Ernsten nicht erfreut und nicht beschäftigt, so hat es vielleicht dafür den Sorglosen und den Müßigen in ihrem mühseligen Beruf, die Zeit zu töten, eine kleine Aushilfe gewährt. Vielleicht läßt sich ein junges Mädchen herab, in der Pause, die entsteht zwischen dem Schlummerstündchen des Papas, wo sie still am Fenster sitzen muß, und der Ankleidestunde zum Ball, diese Aufzeichnungen merkwürdiger Personen und Ereignisse zur Hand zu nehmen, oder irgendein anderes, müßiggehendes Individuum macht sich ein Geschäft daraus, nachzudenken, ob und wie es möglich ist, daß Engel auf die Erde niedersteigen, und fragt sich, weshalb denn ein Kuß ein so gefährliches Ding sei.


 << zurück