Alexander von Ungern-Sternberg
Tutu
Alexander von Ungern-Sternberg

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Neuntes Kapitel

Zum erstenmal ans Licht gestellte, einzig wahrhafte und authentische Historie von der schlafenden Schönen im bezauberten Walde

 

Die Sonne neigte sich schon zum Untergange, als ich auf meinem müden Jagdklepper durch den Forst irrte, immer weiter mich von den bewohnten Gegenden entfernend, und meine Gefährten, die ich aufsuchen wollte, immer mehr aus meiner Nähe verlierend. Endlich gelangte ich in eine mir völlig unbekannte Gegend, die, als ich mich schärfer umsah, ein unheimliches und wunderbares Gepräge an sich trug. Ich kann euch nicht beschreiben, wie mir zumute ward. Von Natur nicht sehr zur Furchtsamkeit geneigt, überkam mich dennoch ein kleines Grauen, als ich das Licht der Abendsonne, die bis jetzt friedlich durch die Baumstämme geschimmert hatte, urplötzlich sich in ein falbes und unerklärliches Mondlicht verwandeln sah. Es flog ein blasser, graubläulicher Schein durch den Wald, und unter diesem mystischen Geflimmer bezogen sich die Bäume rund um mich her mit langen, häßlichen Spinngeweben. Ich sah die Schöpferinnen dieser fahlen Draperien, Spinnen von enormer Korpulenz, über meinen Weg hinlaufen und mein armes müdes Tier scheu machen. Ich stieg ab und trat unter einen Baum; sogleich fielen mir, durch die Bewegung aufgeschüttelt, große Staubklümpchen auf Haupt und Schultern. Jetzt sah ich, daß alle Blätter mit dickem Staub bedeckt waren; ich entdeckte auch Vögel, aber sie schienen einen Grabesschlaf zu schlafen. Alles war still, nur die Spinnen arbeiteten. Aufgeregt und staunend tat ich einige Schritte durchs Dickicht vorwärts und entdeckte jetzt die Türme eines Schlosses, das seine dunkelfarbigen Zinnen über die entfernten Baumgipfel emporsteigen ließ. Mein Entschluß war gefaßt; ich ging auf dieses Schloß zu. Aber es war nicht so leicht, den Eingang zu erlangen. Ich mußte mich durch ein Gitter dichtverflochtener Baumstämme und Zweige durchschlagen und dazu die verwünschten Spinnen, die hier in Unzahl sich zusammengerottet hatten, mit meinem Jagdmesser mir vom Leibe halten. Endlich bestieg ich das Portal des Schlosses und klopfte an dessen geheimnisvolle Pforte. Sie ward geöffnet, aber ich sah niemanden, der dabei tätig war. Tiefe Stille überall, kein Laut, kein Anzeichen, daß Menschen hier weilten. Das Schloß war in gotischem Stil gebaut, ich sah dies flüchtig; denn mir fehlte die Ruhe, hierüber aufmerksame und erschöpfende Betrachtungen anzustellen. Durch einen dunkeln Flur trat ich in eine Halle, wo ich eine zahlreiche Dienerschaft versammelt fand, sämtlich aber, und in den verschiedenartigsten Stellungen, in tiefem Schlaf begraben. Diese träge Schar erregte in mir Unwillen und Staunen. Ich rüttelte einen dieser pflichtvergessenen Trabanten am Arm, aber es war mir nicht möglich, ihn wach zu machen. So ging ich denn unangemeldet in die inneren Gemächer, die von fürstlichem Glanze strahlten.

Kerzen brannten überall und vervielfältigten ihren Glanz in hohen bis auf den Fußboden reichenden Spiegeln; Blumenvasen standen auf marmornen Konsolen verteilt, und schöne Statuen erhoben, durch die rotdamastenen Tapeten günstig herausgestellt, ihre alabasternen Leiber in Glanz und Pracht dieser Atmosphäre. Weiche Teppiche deckten den Boden und machten den Tritt unhörbar. Eine lange Galerie, die voll Bilder prangte, durchschritt ich eilig und kam in ein Gemach, das mir einen seltenen Anblick bot. Es war gefüllt durch eine Menge Personen, welche, wie es schien, zu einer Assemblee hier versammelt waren, aber sämtlich auch im Schlafe lagen. Aber im höchsten Grade mußte es auffallen, wie diese geputzten Herren und Damen friedlich einer an der Schulter des andern ruhten. Es blieb mir nicht Zeit, alle Einzelheiten zu beobachten, ich strebte weiter. Als ich eine Seitentür öffnete, kam ich in eine Art Boudoir, in welchem ich eine Schläferin von großer Schönheit fand. Sie lag hier allein und abgesondert, wahrscheinlich weil ihr Schlaf etwas zarter Natur war und sie gefürchtet hatte, von den andern gestört zu werden.

Ich trat zu ihr heran und, indem ich den Schleier lüften will, der ihre Gestalt umhüllt, stoße ich ungeschickter Weise eine kleine Kristallglocke herab, die auf dein Tischchen neben dem Sofa steht. Die Schöne erwacht und sieht mich staunend und fragend an. Unter tausend Entschuldigungen will ich mich entfernen, aber die Dame winkt mir zu bleiben. Wir geraten in ein Gespräch, meine Verlegenheit schwindet, und ich erfahre, was ich in den schönen Tagen der Jugend nur für ein Kindermärchen gehalten hatte, daß die berühmte schlafende Schöne im bezauberten Walde wirklich existiere, ja, daß ich sogar sie jetzt vor mir sähe. Ihr könnt euch denken, welch eine Freude mir diese Entdeckung machte. Es gelang mir, sie zum Erzählen zu bringen, und sie teilte mir mit:

»Mein Vater ist ein sehr reicher und sehr mächtiger Herr, und ich bin seine einzige Tochter. Von Kindheit an hatte ich eine unbezwingliche Lebhaftigkeit, die so groß war, daß ich nie zum Schlafen zu bringen war.

Die Ärzte behaupteten, wenn es so fortginge, würde ich mich notwendig gleichsam in meinem eignen Feuer verzehren. Sie rieten daher an, daß man mir keine Zerstreuung böte, vielmehr den Versuch machte, mich auf alle Weise zu langweilen.

Mein guter Vater wußte es so einzurichten, daß er nach und nach alle Personen aus meiner Nähe entfernte, die irgendwie belustigen oder auch nur lebhaft interessieren konnten, und bald hatte er es auch glücklich dahingebracht, daß sein Hof der langweiligste war, den man nur irgend finden konnte. Es gab an demselben keinen schönen Frauen, mein Vater hatte keinen Sinn und keinen Geschmack dafür, demzufolge fehlten alle Intrigen, aller Wetteifer unter den Männern, sich in Kühnheit, Galanterie und Geist auszuzeichnen. Dabei hatte mein teurer Vater von jeher das Talent gehabt, unter den schönen Künsten gerade diejenigen herauszufinden, die Langeweile, Pedanterie und Trockenheit mit sich führen. Seine Schmeichler schoben diese unbeliebigen Resultate auf den Zeitgeist, die Wahrheit aber ist, daß die Neigung meines Vaters selbst dahin ausschlug. Für mich konnte das nur vorteilhaft sein. Kaum war ich in die Hofzirkel eingeführt, als ich schon eine wohltätige Neigung zum Schlaf verspürte. Mein edler Vater, den es unbeschreiblich freute, daß seine eigentümliche Weise, sich mit Kunst, Wissenschaft und Leben zu beschäftigen, gerade mit der mir vorgezeichneten Heilungsmethode zusammentraf, beschloß in der Freude seines Herzens, noch ein übriges zu tun. Er trat mit einem benachbarten Könige in Unterhandlung und kaufte ihm für schweres Geld drei sehr kunstvoll verfertigte Automaten ab, die das Ansehn chinesischer Pagoden hatten, aber von menschlicher Größe waren und durch ein Uhrwerk instand gesetzt wurden, sich wie wirklich lebende Geschöpfe zu bewegen und zu gebärden. Von diesen dreien war eine Figur ganz besonders abscheulich. Sie stellt einen Dichter vor, mit einem widerlich klingenden einsilbigen NamenDer Dichter mit dem widerlich klingenden einsilbigen Namen ist natürlich wieder Tieck. Seine Vorlesungen ganzer Dramen waren berühmt; Sternberg hat ihnen in Dresden beigewohnt. Von der einschläfernden Wirkung berichtet aber auch Grillparzer im Tagebuch seiner Reise nach Deutschland unter dem 27. August 1826: »Abends bei Tieck. Er las den Kaufmann von Venedig vortrefflich. Sein Vorlesen bringt die Wirkung der besten Darstellung auf der Bühne hervor. Da er aber während der Akte nicht absetzte und die Aufmerksamkeit immer gespannt blieb, so ward bei der großen Hitze das Ganze zuletzt in hohem Grade ermüdend, und ich hatte Mühe, die Augen offen zu behalten.« und aus irgendeiner alten längst untergegangenen chinesischen Schule stammend. Wenn man das Uhrwerk aufzog, so las diese Figur. Sie las immer dieselben Stückchen und immer mit denselben albernen Grimassen und Gebärden.

Wie Tieck hatte Friedrich Wilhelm IV. auch den Maler Peter Cornelius (1783-1867) und den Philosophen Schelling (1775-1854) an seinen Hof berufen. Das Heiligenbild mit dem Strahlenkranze auf dem Gewande Schellings soll seine Wendung von der Naturphilosophie zur christlichen Mystik andeuten. In den »Erinnerungsblättern« (Teil II. S. 86) faßt Sternberg die verschiedenen Berufungen in folgender Formel zusammen: »Der Dichter Tieck mit einer verstimmten Leier, der Maler Cornelius mit einer in Unordnung geratenen Palette, der Philosoph Schelling mit einer konfusen Philosophie, der Poet Rückert mit einer hypochondern Poesie.« Über das Mäzenatentum des Königs denkt Sternberg auf Grund eigener Erfahrungen sehr skeptisch (»Erinnerungsblätter«. Teil III. S. 43-57). Er fragte an, ob er Friedrich Wilhelm IV. seinen Roman »Diane« überreichen dürfe, und wurde zu einem Hoffeste eingeladen: »Der König blieb stehen und sagte mir einige freundliche Worte über mein Buch.« Sofort bemühte sich alles um den neuen Günstling, nur ein alter Hofmann sagte trocken zu Sternberg: »Oh, er ist die Huld und die Liebenswürdigkeit selbst, aber – gelesen hat er Ihr Buch nicht.«

Meinen Vater ergötzte dies. Er setzte diesen Automat allen Dichtern seines Hofes als Muster und Beispiel vor, und bald sah man in der Literatur und auf der Bühne ein unendlich langweiliges Genre matter, trockner und absurder Possen entstehen, die unter dem Namen von Kindermärchen ausgeboten wurden. Wenn ich bedachte, wie lustig und wild meine Kindheit gewesen, so erschrak ich doppelt vor diesen von dem alten Automaten ausgehenden Kindermärchen. Unser Theater wurde jetzt »altchinesisch«. Die andern beiden Figuren übten durch ihre Leistungen zwar auch eine einschläfernde Wirkung, aber sie berührten mich nicht so unmittelbar als der Lese-Automat. Ich schlief nun schon nicht allein regelmäßig die Nächte, sondern auch schon sogar einige Stunden am Tage. Mein Vater aber wollte eine vollkommene Besserung bewirken, und da geschah das Unglück. Er verdarb etwas an dem Uhrwerk, dies ließ sich jetzt nicht mehr regieren, und nun ereignete sich das Entsetzliche, daß die Figuren in ununterbrochener Tätigkeit sich bewegten. Es war keine Rettung. Der Lese-Automat wütete gleichsam; er schnurrte und knurrte ohne alle Unterbrechung, und zwar siebzig Tragödien hintereinander. Wir sanken alle in Schlaf. Mein Vater schlief ein, ich, der ganze Hof, die Dienerschaft im Vorsaal schlief ein, die Katzen und Vögel auf dem Dache schliefen ein, die Hunde und das Geflügel auf dem Hofe. Zuletzt war es im ganzen Schlosse todesstill, und nur die unglückselige Figur wütete fort, bis die Räder alle abgelaufen waren und das Uhrwerk stille stand. Nun wuchsen die Bäume ums Schloß herum zu riesiger Höhe, und die Spinnengewebe und der Staub legten sich über die ganze Gegend. Ach, ich habe das alles im voraus kommen sehen!«

Die Prinzessin hielt hier inne und sah mich mit einem jammervollen Blick an, der mein Herz in Mitleid schmolz. »Ach, meine Schöne«, rief ich, »wie läßt sich hier helfen und retten?«

»Nur dadurch«, entgegnete sie, »daß einer den Mut hat, die bösen drei Figuren auf die Schultern zu laden und sie dahin zurückzubringen, woher sie gekommen. Dann wird alles im Schloß wieder erwachen und aufatmen. Mein Vater, der in seinen Liebhabereien zum Glück sehr veränderlich istDem Leben der Gegenwart wandte sich Friedrich Wilhelm IV. 1842 zu, als er den jungdeutschen Lyriker Herwegh empfing und Freiligrath eine Pension aussetzte, doch fielen beide Dichter rasch in Ungnade. Darauf bezieht sich die spöttische Bemerkung Sternbergs, daß der König in seinen Liebhabereien sehr veränderlich sei., wird sich, durch dieses Beispiel gewarnt, dem frischen Leben der Gegenwart, dem jungen und kühnen Talente, das belehrt, belustigt und erhebt zugleich, zuwenden, und der Zauber, den das Alte, Bestaubte, Langweilige bis jetzt auf ihn geübt, wird gebrochen sein.

Ich werde nicht mehr zu schlafen brauchen, das ganze Land wird nicht mehr zu schlafen brauchen. O Himmel, welch ein Glück!«

»Gehorsamer Diener, meine Schöne«, entgegnete ich. »Wer soll denn dies Wunderwerk vollbringen? Wer soll die Automaten hinausschaffen?«

»Sie, mein edler Ritter«, sagte die schöne Siebenschläferin mit bezaubernder Stimme.

»Ich werde mich hüten«, antwortete ich. »Die Figuren stehen mit irgendeinem mächtigen Zauber im Bunde, und ich bin nur ein schwacher sterblicher Mensch, und zwar auch einer, der eben keinen Überfluß an Courage hat.«

»Armseliger!« rief sie. »Dann gehen Sie, und lassen Sie mich schlafen!«

Und ich ging und ließ sie schlafen. –


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