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Viertes Kapitel
Die charakteristischen Eigentümlichkeiten der Mystik

Seit Anfang der Welt hat der Mensch stets zwei deutlich unterschiedene Haltungen dem Unsichtbaren gegenüber gehabt und aus ihnen heraus zwei Methoden entwickelt, um mit ihm in Berührung zu kommen. In unserer gegenwärtigen Untersuchung will ich diese Methoden den »Weg der Magie« und den »Weg der Mystik« nennen. Dabei muß ich jedoch sogleich hinzufügen, daß, wenn Magie und Mystik auch in ihren extremen Formen einander schroff entgegengesetzt sind, die Grenzlinien zwischen ihnen keineswegs scharf ausgeprägt sind; daß sie, von demselben Punkte ausgehend, den Forscher oft verwirren, indem sie dieselbe Sprache, dieselben Hilfsmittel und dieselben Methoden anwenden. Daher kommt es, daß so vieles, was in Wirklichkeit Magie ist, in oberflächlichen, populären Darstellungen für Mystik ausgegeben wird. Tatsächlich stellen sie die entgegengesetzten Pole derselben Sache dar, nämlich des transzendentalen Bewußtseins der Menschheit. Zwischen ihnen liegen die großen Religionen, die man, um im Bilde zu bleiben, als die allgemein bewohnbaren Zonen dieses Bewußtseins bezeichnen kann. So geht auf der einen Seite die reine Mystik in Religion über oder sie scheint von einem gewissen Standpunkte aus aus ihr herauszuwachsen. Kein tief religiöser Mensch ist ohne einen Anflug von Mystik, und kein Mystiker kann anders als religiös sein, im psychologischen, wenn nicht im theologischen Sinne des Wortes. Auf der andern Seite der Skala geht, wie wir später sehen werden, die Religion ebenso zweifellos in Magie über.

Der fundamentale Unterschied zwischen den beiden ist dieser: Die Magie will haben, die Mystik will geben, zwei ewig entgegengesetzte Haltungen, die in verschiedenen Formen immer und überall wiederkehren. Beide, sowohl die Magie wie die Mystik, setzen, wo sie zu voller Entwicklung gelangt sind, den ganzen geistigen Mechanismus, sowohl den bewußten wie den unterbewußten, für ihr Unternehmen in Aktion; beide behaupten, daß sie in ihren Eingeweihten Kräfte erzeugen, von denen gewöhnliche Sterbliche nichts ahnen. Allein der Mittelpunkt, um den jener Mechanismus geordnet wird, die Gründe ihres Unternehmens und die Zwecke, zu denen jene Kräfte angewandt werden, sind ungeheuer verschieden. In der Mystik vereinigt sich der Wille mit dem Gefühl in dem leidenschaftlichen Verlangen, über die Sinnenwelt hinauszukommen, damit das Selbst in Liebe eins werde mit dem einen ewigen und letzten Gegenstand der Liebe, dessen Dasein von dem, was wir jetzt lieber als den »kosmischen« oder »transzendentalen« Sinn bezeichnen wollen, intuitiv wahrgenommen wurde. Dies ist die poetische und religiöse Naturanlage, die auf der Ebene der Wirklichkeit tätig ist. In der Magie vereinigt sich der Wille mit dem Intellekt im leidenschaftlichen Verlangen nach übersinnlicher Erkenntnis. Dies ist die intellektuelle, aggressive und wissenschaftliche Naturanlage, die ihr Bewußtseinsfeld zu erweitern sucht, bis sie die übersinnliche Welt einschließt: offenbar der gerade Gegensatz der Mystik, wenn sie auch oft deren Namen und Ausdrucksform annimmt.

Es wird weiterhin unsere Aufgabe sein, die charakteristischen Eigentümlichkeiten und die Bedeutung der Magie im einzelnen zu betrachten. Hier genügt es zu sagen, daß wir im großen und ganzen alle Arten von selbstsüchtigem Transzendentalismus zur Magie rechnen können. Es macht wenig aus, ob das Mittel, dessen man sich bedient, die Beschwörungen der alten Zauberer sind oder das Gemeindegebet orthodoxer Kirchenchristen um Regen oder die bewußten Künste der Selbsthypnose, wie sie der »New Thought« übt; ob der vorgesetzte Zweck die Beschwörung eines Engels ist oder die Überwindung äußerer Umstände oder die Heilung einer Krankheit. Das Ziel ist immer dasselbe: die absichtliche Steigerung der Willenskraft über ihre gewöhnlichen Grenzen hinaus, um für das eigene Ich oder eine ganze Gruppe etwas zu erlangen, was es oder sie vorher nicht besaß. Es ist eine individualistische und erwerbsüchtige Wissenschaft, in all ihren Formen eine Tätigkeit des Intellekts, die die Wirklichkeit für ihre eigenen Zwecke oder für die der Menschheit im allgemeinen sucht.

Die Mystik, deren großer Name nur zu oft diesen Betätigungen im Reiche des Übersinnlichen gegeben wird, ist hiervon durchaus verschieden. Sie ist unindividualistisch. Ja, sie bedeutet tatsächlich die Aufhebung der Individualität, dieser starren Absonderung mit ihrem »Ich, Mir, Mein«, die aus dem Menschen ein begrenztes, isoliertes Ding macht. Sie ist im wesentlichen ein Bestreben des Herzens, die Grenzen des individuellen Standpunktes zu überschreiten und sich der endgültigen Wirklichkeit hinzugeben, nicht um persönlichen Gewinn, nicht um irgendeine transzendentale Neugierde zu befriedigen, nicht um die Freuden einer andern Welt zu erlangen, sondern einzig und allein aus dem Instinkt der Liebe. Unter »Herz« verstehen wir hier natürlich nicht nur den »Sitz der Gefühle«, »das Organ zarten Empfindens« u. dgl., sondern vielmehr das innerste Heiligtum des persönlichen Seins, die Synthese von Liebe und Willen, den Urquell seiner Kraft und seines Lebens. Der Mystiker ist »in Liebe zum Absoluten entbrannt«, nicht in müßiger und sentimentaler Schwärmerei, sondern in dem tiefen und lebendigen Gefühl, das vorwärts drängt um jeden Preis und durch alle Gefahren hindurch zur Vereinigung mit dem Geliebten. Daher kann die Mystik, wie die Kunst überhaupt, nicht ohne Leidenschaft existieren, während die Ausübung der Magie, wie die Ausübung der Wissenschaft, nicht notwendig irgendwelche leidenschaftliche Erregung erfordert, wenn sie auch natürlich ein Interesse irgendwelcher Art voraussetzt. Wir müssen fühlen, tief und heftig fühlen, bevor wir an dies schwere und heldenhafte Unternehmen gehen.

Wir sehen sofort, daß diese beiden Tätigkeiten den beiden ewigen Leidenschaften des Selbst entsprechen: dem Verlangen nach Liebe und dem Verlangen nach Erkenntnis, indem sie den Hunger des Herzens und den des Intellekts nach der letzten Wahrheit gesondert darstellen.

Die dritte Haltung der übersinnlichen Welt gegenüber, die der Transzendentalphilosophie, kommt bei unserer gegenwärtigen Untersuchung kaum in Betracht, da sie rein akademisch ist, während sowohl Magie wie Mystik praktisch und in ihren Methoden streng empirisch sind. Eine solche Philosophie wird oft fälschlich Mystik genannt, weil sie versucht, Karten von den Ländern anzufertigen, die die Mystik erforscht. Ihre Arbeiten sind nützlich, wie Schemata nützlich sind, solange sie sich nicht für etwas Endgültiges und Letztes ausgeben und eingedenk bleiben, daß das einzig Endgültige die persönliche Erfahrung der mit leidenschaftlicher Liebe die Wahrheit suchenden Seele ist.

Was verstehen wir nun in Wirklichkeit unter Mystik? Ein Wort, das man mit gleicher Unbefangenheit auf die Verrichtungen der Medien und auf die Ekstasen der Heiligen, auf »Mentikultur« und Zauberei, auf verträumte Poesie und mittelalterliche Kunst, auf Gebet und Handwahrsagerei, auf die doktrinären Ausschweifungen der Gnostiker und die lauen Spekulationen der Cambridger Platoniker, ja, nach William James sogar auf die höheren Stufen der Trunkenheit Vgl. Varieties of Religious Experience p. 387: »Das trunkene Bewußtsein hat etwas vom mystischen Bewußtsein.« anwendet – solch ein Wort hat überhaupt keinen brauchbaren Sinn mehr. Seine Anwendung verwirrt nur den unerfahrenen Leser, der gewöhnlich aus seinem Kampf mit der stetig wachsenden Masse der theosophischen und spiritistischen Literatur mit der vagen Vorstellung hervorgeht, daß alles, was zum Gebiet übersinnlicher Theorie und Praxis gehört, irgendwie »mystisch« ist. Daher ist es nötig, soweit es möglich ist, die wahren Eigentümlichkeiten der Mystik zu bestimmen, noch einmal die Tatsache festzustellen, daß die Mystik in ihrer reinen Gestalt die Wissenschaft von den letzten Dingen ist, die Wissenschaft der Vereinigung mit dem Absoluten, und nichts weiter, und daß der Mystiker derjenige ist, der zu dieser Vereinigung gelangt, nicht der, der darüber redet. Nicht das »Wissen darum«, sondern das »Sein« ist das Kennzeichen des wahren Mystikers.

Die Schwierigkeit liegt darin, den Punkt zu bestimmen, wo die übersinnliche Erfahrung aufhört eine interessante, rein praktische Erweiterung der sinnlichen Erfahrung, sozusagen eine weitere Ausdehnung der Daseinsgrenzen zu sein und in das grenzenlose Leben übergeht, wo Subjekt und Objekt, ersehnend und ersehnt, eins sind. Keine scharfe Linie, sondern vielmehr eine unendliche Reihe von Abstufungen trennt die beiden Zustände. Daher müssen wir uns alle Pilger auf dem Wege genau ansehen, müssen suchen herauszufinden, was das Motiv ihrer Reisen ist, welche Orientierungskarten sie benützen, was für Gepäck sie mitnehmen, welches Ziel sie erreichen.

Nun haben wir gesagt, daß das Ziel, welches der Mystiker sich auf seiner Pilgerfahrt setzt, die bewußte Vereinigung mit einem lebendigen Absoluten ist. Das göttliche Dunkel, der Abgrund der Gottheit, von dem er bisweilen als dem Endziel seines Suchens spricht, ist eben dieses Absolute, das Unerschaffene Licht, in das das Weltall eingetaucht ist und das er, da es alle menschliche Ausdruckskraft übersteigt, nur als Dunkel beschreiben kann. Aber es gibt, es muß »in einem intelligiblen Irgendwo« eine Berührung geben zwischen jedem individuellen Selbst und diesem höchsten Selbst, dem All. Beim Mystiker ist diese Vereinigung bewußt, persönlich und vollkommen. Je nach seinem Grade hat er mehr oder weniger dies wesenhafte Sein der Gottheit berührt, nicht nur seine Offenbarung im Leben. Dies ist es, was ihn vor den besten und hervorragendsten andern Menschen auszeichnet und sein Wissen nach Patmores Worten zum »Wissen von der sich selbst offenbarenden Wirklichkeit« macht. Wenn wir mit ihm in jenen letzten Abgrund, jene unergründliche Tiefe hinabblicken, aus der die Welt des Werdens aufsteigt, »ewig gezeugt in einem ewigen Jetzt«, so sehen wir vielleicht nur das eisige Dunkel beständiger Verneinung, doch er schaut das Antlitz vollkommener Liebe.

Wie das Genie in irgendeiner Kunst, menschlich gesprochen, der letzte Ausdruck einer Kraft ist, von der jeder einzelne die ersten Anfänge besitzt, so können wir die Mystiker als die letzte Stufe einer Kraft ansehen, die in der ganzen Menschheit latent ist: der Kraft, die übersinnliche Wirklichkeit wahrzunehmen. Wenige Menschen gehen durchs Leben, ohne zu erfahren, was es heißt, von diesem mystischen Gefühl wenigstens berührt zu sein. Wer von Liebe zu einer Frau ergriffen wird und die Entdeckung macht – wie es der Liebende wirklich tut –, daß der Gattungsname »Mädchen« eine wunderbare, unaussprechliche Wirklichkeit einhüllt; wer von Liebe zur Natur ergriffen wird und das Licht schaut, das noch nie auf Meer oder Land fiel – eine ganz hübsche Redensart für die, die es nicht gesehen, doch eine wissenschaftliche Tatsache für die andern –, wer von Liebe zu unsichtbaren Dingen ergriffen oder, wie wir sagen, »bekehrt« wird: all diese Begnadeten haben in Wahrheit einen Augenblick etwas von dem Geheimnis der Welt erfahren Vgl. oben S. 26 f., 29, 64..

»Doch hin und wieder tönt Trompetenruf
Von jener Ewigkeit verborgenen Zinnen,
Die Nebel geben zitternd Raum, dann spülen
Sie langsam wieder um die halb-geschauten Türme [Aus Francis Thompson, The Hound of Heaven. Nach freundl. Mitt. der Verf.]

In solchen Augenblicken »quillt aus dem andern Teil der Seele das transzendentale Gefühl herauf und flüstert dem Verstand und den Sinnen zu, daß sie etwas außer acht lassen. Was ist dies? Nichts anderes als der geheime Plan des Alls. Und was ist das für ein geheimer Plan? Der andere Teil der Seele versteht ihn stillschweigend, aber er kann ihn dem Verstände nur in der symbolischen Sprache seines Dolmetschers, der Einbildungskraft, erklären, durch die Vision J. A. Stewart, The Myths of Plato p. 42.

Hier, in diesem »Funken« oder »Seelengrunde« ist der Quell der schöpferischen Einbildungskraft wie des mystischen Lebens. Hin und wieder wird er durch irgend etwas ins Bewußtsein gedrängt und der Mensch auf die geistige Ebene hinaufgehoben, wo er einen flüchtigen Blick von jenem »geheimen Plan« erhascht. Dann liegt auf den erschaffenen Dingen der Abglanz einer wunderbaren Wahrheit, einer Einheit, deren Kennzeichen unaussprechlicher Friede ist, und erweckt in dem Selbst ein Gefühl der Liebe, Anbetung und Ehrfurcht. Sein Leben ist erhöht, die Schranke der Persönlichkeit ist zerbrochen, der Mensch entflieht der Sinnenwelt, steigt hinan zur »Spitze« seines Geistes und geht auf eine kurze Weile ein in das weitere Leben des Alls.

Diese intuitive Erkenntnis der Wirklichkeit, die der sichtbaren Welt zugrunde liegt und ihr Leben erhält, ist in anderer Weise gegenwärtig in der Kunst, oder vielleicht richtiger gesagt, muß dort gegenwärtig sein, wenn die Kunst sich als erhöhte Form des Erlebens rechtfertigen soll. Das ist es, was ihr jene besondere Lebenskraft gibt, jene Macht, unser Herz in heftige Erregung zu bringen, die halb Qual, halb Lust ist – eine Macht, die ihre mehr verstandesmäßigen Erklärer nicht zu deuten verstehen. Wir wissen, daß das Bild, das »wie eine Photographie« wirkt, das Gebäude, das nur hübsch und wohnlich ist, der Roman, der nichts weiter ist als ein vollkommenes Abbild des Lebens, uns nicht befriedigen. Es ist schwer zu sagen, warum dies so ist, es sei denn, weil diese Dinge ihre wahre Aufgabe außer acht gelassen haben; diese ist nämlich nicht, die Illusionen der gewöhnlichen Menschen zu wiederholen, sondern etwas von jenem geheimen Plane, jener Wirklichkeit, die das künstlerische Bewußtsein bis zu einem gewissen Grade wahrzunehmen imstande ist, einzufangen und uns zu vermitteln. »Sowohl Malerei wie Musik und Dichtkunst haben ihr Sein und ihre Freude in unsterblichen Gedanken«, sagt Blake Descriptive Catalogue.. Jene »lebenerhöhende Kraft«, die von neueren Kritikern als die vornehmste Eigenschaft eines guten Gemäldes erkannt ist Vgl. Rolleston, Parallel Paths. 1908., hat ihren Ursprung in dem Kontakt des künstlerischen Geistes mit der urbildlichen oder, wenn man will, der übersinnlichen Welt: mit der den Dingen zugrunde liegenden Wahrheit.

Einer unserer lebenden Kritiker, in welchem das dichterische Genie die ungewöhnliche Verbindung von Intuition und Gelehrsamkeit zustande gebracht hat, bezeugt diese selbe Wahrheit, wenn er von den Idealen, die die alte chinesische Malerei beherrschten, sagt: »Nach dieser Theorie sieht man in jedem Kunstwerk die Inkarnation des rhythmischen Genius, der den lebendigen Geist der Dinge mit klarerer Schönheit und intensiverer Kraft offenbart, als der Widerstand der groben, komplexen Materie sonst in der sichtbaren Welt um uns an unsere Sinne gelangen läßt. Jedes Bild ist eine Art Erscheinung aus einer wirklicheren Welt wesenhaften Lebens Laurence Binyon, Painting in the Far East p. 9.

Diese »wirklichere Welt wesenhaften Lebens« ist die Welt, in der die »freie Seele« des großen Mystikers wohnt und wo der Seraph mit den sechs Schwingen vor dem Antlitz des Absoluten schwebt The Mirror of Simple Souls f. 141 C.. Auch der Künstler kann in den kurzen Augenblicken seines Schaffens ihre Grenzen überschreiten, doch er darf nicht verweilen. Er kehrt zu uns zurück und bringt uns ihre Botschaft mit Dantes Ruf auf den Lippen:

»Doch nicht genügten mir die eignen Schwingen,
Ein Blitzstrahl aber fuhr, ich weiß nicht wie,
Durch meinen Geist und ließ den Wunsch gelingen Paradies XXXIII, 139.

Der Mystiker kann sagen – ja, er muß sagen – wie der hl. Bernhard: »Mein Geheimnis ist für mich allein.« Wenn er es auch noch soviel versuchte: seine vor ehrfürchtiger Scheu stammelnden Berichte kann nur der verstehen, der schon auf dem Wege ist. Doch mit dem Künstler ist es anders. Ihm ist die Pflicht auferlegt, etwas von dem, was er schaut, zum Ausdruck zu bringen. Er muß von seiner Liebe künden. Bei seiner Anbetung der vollkommenen Schönheit müssen die Werke dem Glauben die Wage halten. Unter der Hülle des Symbols muß er seine Vision, seine flüchtige Erscheinung des brennenden Busches, andern Menschen übermitteln. Er ist der Mittler zwischen seinen Brüdern und dem Göttlichen, denn die Kunst ist das verbindende Glied zwischen Schein und Wirklichkeit In diesem Zusammenhange macht Godfernaux (Revue Philosophique, Februar 1902) eine höchst bedeutsame Bemerkung in dem Sinne, daß die Romantik das Eindringen der Mystik oder des religiösen Gefühls in die weltliche Literatur bedeutet. Er nennt es die »Säkularisation des inneren Lebens«..

Allein wir nennen nicht jeden, dem hin und wieder solche künstlerische Schau der Wirklichkeit zuteil wird, einen Mystiker, ebensowenig, wie wir jeden, der gelernt hat, Klavier zu spielen, einen Musiker nennen. Der wahre Mystiker ist der, in dem solche Fähigkeiten die rein künstlerische und visionäre Stufe übersteigen und zur Genialität erhöht sind, in dem das transzendentale Bewußtsein das normale Bewußtsein beherrschen kann, und der sich endgültig der Umarmung der Wirklichkeit hingegeben hat.

Wie der Künstler in besonderer Beziehung zur Welt der Erscheinungen steht, indem er Rhythmen fühlt und Wahrheiten und Schönheiten entdeckt, die andern Menschen verborgen sind, so steht der wahre Mystiker in besonderer Beziehung zur übersinnlichen Welt und bekommt dort Freuden zu kosten, die für uns unvorstellbar bleiben müssen. Sein Bewußtsein hat sich in einer besonderen Weise gewandelt, er lebt auf einer andern Daseinsebene als andere Menschen, und dies bedeutet natürlich, daß er eine andere Welt sieht, da die Welt, die wir kennen, das Produkt von besonderen Teilen oder Seiten der Wirklichkeit ist, wie sie auf ein normales und nicht gewandeltes Bewußtsein wirken. Daher ist seine Mystik nicht eine einzelne Vision, ein zufälliger flüchtiger Blick in die Wirklichkeit, sondern ein vollständiges Lebenssystem, ein Syntagma, um Euckens ausdrucksvolle Bezeichnung zu gebrauchen. Wie andere Menschen ganz auf das natürliche oder intellektuelle Leben eingestellt sind, so ist es der Mystiker auf das religiöse Leben. Er strebt dem letzten Ziel desselben zu, das er die »Vereinigung mit Gott« nennt. Man hat ihn eine einsame Seele genannt. Man könnte ihn mit mehr Recht einen einsamen Leib nennen, denn seine Seele, die von besonderer Empfänglichkeit ist, hat Verbindungen nach allen Seiten.

Der weltliche Künstler versucht, da die Wahrnehmung das gebieterische Verlangen nach Ausdruck mit sich bringt, uns durch Farbe, Ton oder Worte eine Andeutung von seiner Ekstase, seiner Vision der Wahrheit zu geben. Nur wer es versucht hat, weiß, einen wie kleinen Bruchteil davon er im günstigsten Falle darzustellen vermag. Auch der Mystiker bemüht sich mit Anstrengung, einer widerstrebenden Welt das einzige Geheimnis mitzuteilen. Doch in seinem Fall sind die Schwierigkeiten unendlich viel größer. Zunächst ist da der ungeheuere Abstand zwischen dem unaussprechlichen Erlebnis und der Sprache, selbst der best ausgebildeten, die ihm für dessen Ausdruck zur Verfügung steht. Und dann ist wiederum die große Kluft zwischen seinem Geiste und dem der Welt. Er muß nicht nur zu seinen Zuhörern sprechen, sondern er muß sie auch in seinen Bann zwingen, sie in gewissem Grade zu seinem Zustande emporheben, bevor er sich ihnen verständlich machen kann.

Wäre er Musiker, so könnte er wahrscheinlich andern Musikern seine Botschaft viel genauer in der Sprache dieser Kunst geben, als die Wortsprache es ihm je gestatten wird; denn wir müssen bedenken, daß wir nur der Bequemlichkeit halber Worten den Vorzug vor andern Ausdrucksmitteln gewähren. Diese entsprechen so gut der natürlichen Ebene und ihren Erlebnissen, daß wir vergessen, wie gering ihre Beziehung zu übersinnlichen Dingen ist. Selbst der Künstler muß sie, bevor er von ihnen Gebrauch machen kann, nach den Gesetzen des Rhythmus neu ordnen, indem er unbewußt dem Gesetz gehorcht, nach dem alle Künste »sich der Musik anzunähern streben«.

So auch der Mystiker. Die Mystik, das Romantischste, was es im Weltall gibt, in gewisser Hinsicht die Kunst aller Künste, ihr Urquell und auch ihr Endziel, findet ganz naturgemäß ihre nächste Entsprechung in der künstlerisch reinsten und bedeutungsvollsten aller Ausdrucksformen. Das Geheimnis der Musik wird selten von denen begriffen, die ihre Gaben so leicht hinnehmen. Doch unter allen Künsten ist es allein die Musik, die mit der großen mystischen Literatur die Macht teilt, uns das Leben des Alls spüren zu lassen, die uns – wir wissen nicht wie – Botschaft bringt von seinen jauchzenden Leidenschaften und von seinem unvergleichlichen Frieden. Beethoven hörte die Stimme der Wirklichkeit selbst, und wenig ging verloren, als er sie für unsere Ohren übertrug Seit dies geschrieben wurde, kam mir M. Heberts ausgezeichnete Monographie Le Divin (1907) in die Hände. Ich weise hier auf zwei Beispiele hin, die er für die Analogie des mystischen und des musikalischen Erlebens beibringt. Zunächst das von Gay, »dem Seele, Herz und Hirn erfüllt waren von einer Musik, die von einer andern Schönheit war als die Musik der Töne«. Dann das von Ruysbroeck, der in einer Stelle, die Keats hätte schreiben können, von der Kontemplation und der Liebe spricht als von »zwei himmlischen Flöten«, die, vom Heiligen Geiste geblasen, »Lieder ohne Töne« spielen (a. a. O. p. 29)..

Das Mittelalter, das mystischer veranlagt war als wir und daher ein stärkeres Empfinden dafür hatte, eine wie große Rolle die rhythmische Harmonie in der Welt der Natur und der Gnade spielt, legte der Musik eine kosmische Bedeutung bei und erkannte ihre Wirkung in vielen Erscheinungen, die wir jetzt auf das Naturgesetz, diese trostlose Erdichtung, zurückführen. »Es gibt drei Arten von Musik,« sagt Hugo von St. Victor, »die Musik der Welten, die Musik der Menschheit, die Musik der Instrumente. Von der Musik der Welten ist eine die der Elemente, eine die der Planeten, eine die der Zeit. Von der Musik der Elemente ist eine die der Zahl, eine die des Gewichts, eine die des Maßes. Von der Musik der Planeten ist eine die des Ortes, eine die der Bewegung, eine die der Natur. Von der Musik der Zeit ist eine die des Tages und des Wechsels von Licht und Dunkelheit, eine die des Monats und des Zu- und Abnehmens des Mondes, eine die des Jahres und des Wechsels von Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Von der Musik der Menschheit ist eine die des Leibes, eine die der Seele, eine die der Beziehung zwischen beiden Hugo von St. Victor, Didascalicon de Studio Legendi..« So besteht das Leben des sichtbaren und unsichtbaren Universums aus einer himmlischen Fuge.

Einer der Kontemplativen wenigstens, Richard Rolle von Hampole, »der Vater der englischen Mystik«, empfand diese Musik der Seele aufs intensivste und erkannte in ihren jauchzenden Perioden eine Gegenstimme zu den abgemessenen Harmonien der Welt des Geistes. In der wundervollen Schilderung seiner inneren Erlebnisse, einer der Perlen der mystischen Literatur, ist nichts so bezeichnend wie die beständige und bewußte Anwendung musikalischer Bilder. Es scheint, daß er nur durch sie das schwärmerische, ekstatische Entzücken des übersinnlichen Lebens zum Ausdruck bringen konnte. Der Zustand zur Klarheit erwachter, jauchzender Liebe, in den der Mystiker gelangt, wenn seine Reinigung vollendet ist, ist für ihn vor allem Gesang. Er »sieht« nicht die Wirklichkeit, er »hört« sie. Für ihn wie für den hl. Franziskus von Assisi ist sie »eine himmlische, unerträglich süße Melodie Fioretti: Delle Istimti (S. Die Blümlein des hl. Franziskus von Assisi. Übers. von K. G. Binding S. 152. Schluß der »zweiten Betrachtung über die hochheiligen Wundmale«.)«.

»Gesang nenne ich es,« sagt er, »wenn in der übervollen Seele die Süße ewiger Liebe zu heller Glut entbrennt und alles Denken zum Liede wird und der Geist in einen vollen, süßen Ton sich wandelt Richard Rolle, The Fire of Love (Incendium Amoris) I, 15..« Wer solche freudige Erhebung erfährt, »spricht nicht seine Gebete wie andere rechtschaffene Leute«, sondern »wird von einer wunderbaren Fröhlichkeit ergriffen, und von lieblicher Musik erfüllt, singt er gleichsam in Melodien seine Gebete Ebenda I, 23. Vgl. II, 5 und 6..« So sagt Gertrude More: »Oh, laß mich allein sitzen, laß mich der Welt und laß die Welt mir schweigen, daß ich das Lied der Liebe lernen möge Spiritual Exercises p. 30.

Rolle selbst scheint die mystische Freude tatsächlich in der Form erlebt zu haben, daß die Wahrnehmungen seines erhöhten Bewußtseins sich ihm als Musik darstellten, wie andern Mystikern in Gestalt von Bildern und Worten. Ich gebe mit seinen eigenen Worten den herrlichen Bericht von seinem Übergang aus dem ersten Zustande »brennender Liebe« in den zweiten Zustand »gesangvoller Liebe« – von calor zu canor –, wo »die Meditation zum Freudengesang wird«. »Wenn ich am Abend vor dem Essen meine Psalmen sang, war es mir, als vernähme ich um mich her Stimmen lesen oder vielmehr singen. Und während ich, meine Gebete sprechend, mit ganzer Seele ihnen lauschte, fühlte ich plötzlich, ich kann nicht sagen wie, in mir ein Singen ertönen, und ich vernahm die lieblichste himmlische Musik, die bei mir in meinem Geiste wohnte. Wahrlich, all mein Denken ward zu fröhlichem Gesang, und was ich liebend gedacht und in Gebeten und Psalmen ausgesprochen, machte ich jetzt gleichsam in Tönen offenbar The Fire of Love I, 16.

Doch dieser Sang ist eine mystische Melodie, die mit ihrem plumpen Abbilde, der irdischen Musik, wenig gemein hat. »Irdisches Singen macht sie verstummen, und der Lärm der Schwätzer wandelt sie wieder in Denken zurück, denn der süße Gesang der Seele verträgt sich nicht mit äußerlichem Gesang, wie er in Kirchen und sonstwo Brauch ist. Da ist kein Einklang möglich, denn alles, was Menschenstimme ist, ist für leibliche Ohren geschaffen; aber mit den Chören der Engel klingt solcher Sang der Seele harmonisch zusammen und entzückt die himmlischen Sänger, die ihn hören.« Andere können ihn nicht vernehmen. »Sterbliche, die uns mit Liebe suchen, mögen wohl Worte oder Text unseres Liedes kennenlernen, denn die Worte lesen sie; allein der Lieblichkeit der Töne bleibt ihr Ohr verschlossen Ebenda II, 3 und 12. Shelley ist derselben Meinung:
Die Welt hört nicht den süßen Klang der Sphären,
Die Lichtmusik, die Liebenden nur tönt.
(Der Triumph des Lebens.)

Eine solche Symbolik wie diese, eine lebendige Symbolik des Tuns und Erlebens sowohl wie der Darstellung, erscheint nahezu unentbehrlich für mystischen Ausdruck. Der Geist muß zu irgendeinem derartigen Mittel greifen, wenn seine übersinnlichen Wahrnehmungen, die so keinerlei Beziehung zu den Erscheinungen haben, mit denen es der Intellekt zu tun hat, jemals von dem Oberflächenbewußtsein erfaßt werden sollen. Bisweilen verschmelzen das Symbol und die Wahrnehmung, die es vertritt, im Bewußtsein in eins; dann stellt sich dem Mystiker sein Erleben dar als »Vision« oder »Stimme«, worin wir das Gewand sehen müssen, in das er selbst jene Wirklichkeit hüllt, deren Anblick kein sterbliches Auge zu ertragen vermag. Die Art dieses Gewandes wird in weitem Umfange durch seine eigene Naturanlage bestimmt sein – wie bei Rolle durch seinen augenscheinlichen Hang zur Musik, bei der hl. Katharina von Genua durch ihre Neigung, alles in Gestalt von Feuer und Licht wahrzunehmen, – und auch durch seine theologische Erziehung und Umgebung, wie in den in hohem Maße dogmatischen Visionen und Stimmen der hl. Gertrud, Seuses, der hl. Katharina von Siena, der sel. Angela von Foligno, vor allem der hl. Teresa, deren wunderbare Selbstanalysen das klassische Beispiel bieten für diese Versuche des Geistes, übersinnliche Wahrnehmungen in Begriffe zu kleiden, die ihm faßbar sind.

Die größten Mystiker jedoch – Ruysbroeck, der hl. Johannes vom Kreuz und die hl. Teresa selbst in ihren späteren Stadien – unterscheiden deutlich zwischen der unaussprechlichen Wirklichkeit, die sie wahrnehmen, und dem Bilde, unter dem sie sie beschreiben. Wieder und wieder sagen sie uns mit Dionysios und Eckehart, daß der Gegenstand ihrer Kontemplation »kein Bildnis hat«, oder mit dem hl. Johannes vom Kreuz, daß »die Seele zur Höhe der göttlichen Vereinigung, soweit sie in diesem Leben möglich ist, nie durch das Medium von Formen oder Bildern gelangen kann Subida del Monte Carmelo II, 16.«. Daher ist der Versuch, den man zuweilen gemacht hat, die Mystik mit solchen Formen oder Bildern – mit Visionen, Stimmen und übernatürlichen Gnaden – zu identifizieren, offenbar verkehrt.

»Die höchsten und göttlichsten Dinge, die uns zu sehen und zu erkennen vergönnt sind,« sagt Dionysios der Areopagit ausdrücklich, »sind in gewisser Weise der Ausdruck alles dessen, was die höchste Natur Gottes in sich enthält, ein Ausdruck, der uns das offenbart, was kein Denken je erreicht und was seinen Sitz jenseits der Höhen des Himmels hat Von mystischer Theologie I, 3.

Der Mystiker kann in der Regel nicht ganz ohne Symbol und Bild auskommen, so unzulänglich diese auch immer bleiben müssen, denn er muß seine Erfahrung irgendwie ausdrücken, wenn er sie mitteilen will, und ihr wirklicher Inhalt läßt sich nur mittelbar ausdrücken durch leise Andeutung, durch Bild oder Gleichnis, das die schlummernde Intuition des Lesers aufweckt und, wie alle poetische Sprache, einen tieferen Sinn, als der am Tage liegt, mit sich bringt. Daher spielen in allen mystischen Schriften Symbolik und Bildwerk eine so ungeheure Rolle, ebenso wie die rhythmische und gesteigerte Sprache, die in sensitiven Menschen etwas von der matten Ekstase des Traumes hervorruft. Die enge Beziehung zwischen Rhythmus und erhöhten Bewußtseinszuständen hat man sich bisher noch wenig klargemacht. Ihre weitere Erforschung wird wahrscheinlich ein helles Licht auf ontologische wie auf psychologische Probleme werfen. Die mystische Wahrnehmung, ebensogut wie die musikalische und dichterische, neigt irgendwie dazu, sich in rhythmischen Perioden darzustellen; eine Eigentümlichkeit, die auch stark ausgeprägt ist in Schriften, die im Zustande der Hypnose zustande gekommen sind. Dies Gesetz ist bei einigen Personen so konstant, daß Baron von Hügel in seiner Biographie der hl. Katharina von Genua das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein des Rhythmus als Kriterium nimmt, wonach er die echten Äußerungen der Heiligen von denen unterscheidet, die ihr von den späteren Bearbeitern ihrer Legende fälschlich zugeschrieben wurden Von Hügel, The Mystical Element in Religion I, p. 189..

Dem ausgeprägten Mystiker, der gewöhnlich auch dichterisch begabt ist, kommt jede Art symbolischer Sprache natürlich, so natürlich, daß er bisweilen vergißt, ausdrücklich zu erklären, daß seine Äußerung nur symbolisch ist, ein verzweifelter Versuch, die Wahrheit jener Welt in die Schönheit dieser zu übersetzen. Hier reicht die Mystik der Musik und Dichtkunst die Hand; hätten ihre Kritiker diese Tatsache immer erkannt, so wären ihnen viele bedauernswerte und einige lächerliche Mißverständnisse erspart geblieben. Das Symbol, das Gewand, das der Mystiker der Sinnenwelt entleiht, ist eine künstlerische Ausdrucksform. Das heißt, es ist nicht wörtlich, sondern suggestiv gemeint, wenn auch der Künstler, der es anwendet, sich dieses Unterschieds bisweilen nicht bewußt ist. Daher verraten diejenigen, welche meinen, hinter der »geistlichen Hochzeit« der hl. Katharina oder der hl. Teresa verberge sich eine perverse Geschlechtlichkeit, oder die Vision des heiligen Herzens enthalte eine unmögliche anatomische Vorstellung, oder der göttliche Rausch der Sufis sei eine Apotheose der Trunkenheit, nur ihre Unkenntnis des wahren Wesens der Kunst, wie die Dame, die da meinte, Blake müsse verrückt sein, weil er sagte, er habe den Himmel mit seinem Finger berührt.

Weiter bringt das Studium der Mystiker, der wenn auch noch so bescheidene Umgang mit ihrem Geiste, ebenso wie die Musik oder Dichtkunst, jedoch in noch weit größerem Maße, eine wunderbare Frohheit mit sich, als ob wir einer mächtigen Quelle des Seins nahegebracht wären, als ob wir am Rande des Geheimnisses stünden, das alle suchen. Wenn wir die verwendeten Symbole, die wirklich gebrauchten Worte analysieren, so scheinen sie nicht ausreichend, um solche Wirkung zu erklären. Es ist vielmehr so, daß diese Botschaften von dem wachen transzendentalen Selbst eines andern unser eigenes tieferes Selbst aus seinem Schlaf aufrütteln. Man könnte ohne Übertreibung sagen, daß diejenigen Schriften, die das Ergebnis wahrer und unmittelbarer mystischer Erfahrung sind, sich daran erkennen lassen, daß sie die Kraft haben, dem Leser das Gefühl erhöhten und erweiterten Lebens mitzuteilen. »Alle Mystiker«, sagt Saint-Martin, »sprechen dieselbe Sprache, denn sie kommen aus demselben Lande.« Auch das tiefe, unsterbliche Leben, das in uns herbergt, kam aus jenem Lande, und es erkennt den heimischen Akzent wieder, wenn es die Worte auch nicht immer versteht.

Wenden wir uns jetzt wieder zu unserer ursprünglichen Aufgabe, die charakteristischen Eigentümlichkeiten der wahren Mystik, soweit wir können, zu bestimmen, so glaube ich, daß wir bereits einen Punkt erreicht haben, wo William James' berühmte vier Kennzeichen des mystischen Zustandes Varieties of Religious Experience p. 380 (Deutsche Ausg. S. 306). uns nicht mehr befriedigen können. An ihre Stelle will ich vier andere Thesen setzen, durch Beispiele erläutern und, wie ich hoffe, rechtfertigen, an denen wir jeden Fall, der auf einen Platz innerhalb der Mystik Anspruch erhebt, nachprüfen können.

1. Wahre Mystik ist tätig und praktisch, nicht passiv und theoretisch. Sie ist ein organischer Lebensprozeß, ein Etwas, was das ganze Selbst tut, nicht etwas, worüber sein Verstand eine Ansicht hat.

2. Ihre Ziele sind durchaus transzendent und geistlich. Sie ist in keiner Weise mit Erforschungen, Neuordnungen oder Verbesserungen in der sichtbaren Welt bemüht. Der Mystiker schiebt diese Welt, selbst in ihren übernormalsten Erscheinungen, beiseite. Obwohl er nicht, wie seine Feinde behaupten, seine Pflicht gegen die Vielen vernachlässigt, so ist sein Herz doch immer auf das wandellose Eine gerichtet.

3. Dies Eine ist für den Mystiker nicht nur die Wirklichkeit von allem, was da ist, sondern auch ein lebendiger und persönlicher Gegenstand der Liebe; nie ein Gegenstand der Forschung. Es zieht sein ganzes Wesen heimwärts, doch immer unter der Führung des Herzens.

4. Lebendige Vereinigung mit diesem Einen – dies ist der Ausdruck für das höchste Erlebnis, das er sucht – ist ein bestimmter Zustand oder eine bestimmte Form erhöhten Lebens. Zu diesem Zustand gelangt man nicht durch verstandesmäßige Erkenntnis seiner Freuden, auch nicht durch ein noch so heftiges gefühlsmäßiges Verlangen. Obgleich beides vorhanden sein muß, genügt dies noch nicht. Er wird erreicht durch einen bestimmten mühsamen psychologischen Prozeß, den sogenannten mystischen Weg, der die vollständige Erneuerung des Charakters und die Freimachung einer neuen oder vielmehr bisher latenten Form des Bewußtseins mit sich bringt, die das Selbst in den Zustand versetzt, den man bisweilen ungenau mit »Ekstase« bezeichnet, doch den man richtiger den Zustand der Einigung nennt.

Mystik ist also nicht eine Ansicht, es ist keine Philosophie. Sie hat nichts zu tun mit dem Streben nach okkultem Wissen. Sie ist auch nicht die bloße Fähigkeit, die Ewigkeit anzuschauen. Mystik ist der Name für den organischen Prozeß, durch den die Liebe Gottes zu ihrer vollkommenen Erfüllung und der Mensch im Hier und Jetzt zu seinem unsterblichen Erbe gelangt. Oder, wenn man will – denn dies bedeutet genau dasselbe –, sie ist die Kunst, eine bewußte Verbindung mit dem Absoluten herzustellen.

Zu diesem Ziel gelangt das mystische Bewußtsein nicht durch eine plötzliche, überwältigende Vision der Wahrheit, sondern indem es stufenweise zu immer höheren Ebenen der Wirklichkeit, zu immer vollkommenerem Einswerden mit dem Unendlichen aufsteigt. »Das letzte Wort der mystischen Erfahrung«, sagt Récéjac, »heißt: ›Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Gott lebet in mir.‹« Dies Gefühl des Einsseins, das das Ziel der mystischen Tätigkeit ist, ist von sehr hoher Bedeutung. In seinen früheren Stadien fühlt das mystische Bewußtsein das Absolute als einen Gegensatz zum Ich … In ihrem Fortgange hat die mystische Tätigkeit die Tendenz, diesen Gegensatz aufzuheben … Wenn sie am Ziel ist, fühlt das Bewußtsein sich beherrscht von dem Gefühl eines Wesens, das zu gleicher Zeit größer ist als das Selbst und identisch mit ihm; groß genug, um Gott zu sein, innerlich genug, um Ich zu sein Les Fondements de la Connaissance Mystique p. 45 f..

Dies ist die mystische Einigung, die die einzige Erfüllung mystischer Liebe ist, denn

»Alles, was nicht Eins ist, leidet
Immer an dem Weh der Trennung,
Und wer in die Stadt der Liebe
Eintritt, findet Raum für Einen
Nur, und findet ihn im Einssein Dschami. Angeführt bei Jelalu 'd Din (Wisdom of the East Series) p. 25

Die Geschichte der Mystik ist die Geschichte der Veranschaulichung dieses Gesetzes auf der Ebene der Wirklichkeit.

Wie stimmen nun diese Feststellungen zu dem Leben und Wirken der großen Mystiker und zu den verschiedenen Formen der Tätigkeit, die man irgendwann als mystisch bezeichnet hat?

1. Mystik ist praktisch, nicht theoretisch.

Diese Feststellung, allein genommen, genügt natürlich nicht, um die Mystik als solche zu erkennen, da sich das gleiche von der Magie sagen läßt, welche auch vielmehr auf das Tun als auf das Glauben gerichtet ist. Sie kommt jedoch sofort in Widerstreit mit der Meinung einer Gruppe, welche die Mystik für »die Reaktion des geborenen Platonikers auf die Religion« hält.

Der Unterschied zwischen solchen frommen Philosophen und dem wahren Mystiker ist derselbe, der nach dem verstorbenen Pater Tyrrell zwischen Theologie und Offenbarung besteht Through Scylla and Charybdis, p. 264.. Die Mystik ist wie die Offenbarung etwas Endgültiges und Persönliches. Sie ist nicht nur ein schönes und suggestives Schema des Erlebens, sondern ist die Substanz des Lebens selbst. Sie ist, um es mit den herrlichen Worten Plotins zu sagen, das einsame Abenteuer der Seele: »die Flucht des einzig Einen zum einzig Einen Sechste Enneade IX, 11 (φυγὴμόνουπρὸςμόνον; Schluß des Ganzen)..« Ihr Schauen liefert das Material, die Substanz, die tatsächliche Erfahrung, worüber die mystische Philosophie nachsinnt, wie die Theologen über die einzelnen Offenbarungen nachsinnen, die den Grund ihres Glaubens bilden. Daher müssen die, die wir als Mystiker gelten lassen sollen, Intuitionen einer Wahrheit erhalten haben, die für sie unbedingt ist und nach der sie handeln. Wenn wir zugeben sollen, daß sie »die Lehre kannten«, müssen sie »das Leben gelebt haben«, müssen sich der inneren Mühsal des mystischen Weges unterworfen, nicht nur über die mystischen Erfahrungen anderer Überlegungen angestellt haben. Wir können unsere christlichen Platoniker und mystischen Philosophen nicht gut entbehren. Sie sind die Stufen zu höheren Dingen, sie deuten unserm dumpfen und in die Sinnenwelt verstrickten Geiste die glühende Vision derer, die zu uns aus dem Reiche der Wirklichkeit sprechen. Doch sie sind ebensowenig Mystiker wie die Meilensteine auf der Doverer Straße Wanderer nach Calais sind. Bisweilen geschieht es wohl, daß ihre Worte – die sehnsüchtigen Worte derer, die das Wissen haben, aber denen das Sein fehlt – Mystiker erwecken, wie der plötzliche Anblick eines Wegweisers zum Meere den Abenteuergeist in einem Knaben weckt. Auch gibt es viele Fälle, wo wahre Mystiker, wie z. B. Eckehart, über ihre eigenen Erfahrungen philosophiert haben, sehr zum Vorteil der Welt; und wiederum gibt es platonische Philosophen – Plotin ist das charakteristischste Beispiel –, die weit über die Grenzen ihrer Philosophie hinausgegangen sind und auf alles Konstruieren von Schemata verzichtet haben zugunsten eines wenn auch noch so unvollkommenen Erlebens der Wirklichkeit, auf welche diese Schemata hindeuten. Es wäre richtiger, wenn man das oben erwähnte Epigramm umkehrte und sagte, daß der Platonismus die Reaktion des geborenen Intellektualisten auf die mystische Wahrheit sei.

Immer wieder berichten uns die großen Mystiker, nicht von ihrem Philosophieren, sondern von ihrem Tun. Für sie ist der Übergang vom Sinnenleben zum Geistesleben ein wirkliches Unternehmen, das Anstrengung und Beharrlichkeit fordert. Die paradoxe »Ruhe« des Kontemplativen ist nur die äußere Stille, die für die innere Arbeit wesentlich ist. Ihre Lieblingssymbole sind die der Tat: Kampf, Suche und Pilgerschaft.

»In einer Nacht gar dunkel,
Da ganz mein liebend Herz vor Inbrunst glühte,
O hochbeglückte Stunde!
Entschlich mit leisem Tritte
Ich meiner tief in Ruh versunknen Hütte En una noche obscura, Str. 1 (übers, von Diepenbrock. Vgl. den vollständigen Text in Teil II, Kap. 7).

»Da erkannte ich deutlich,« sagt Ghâzâlî von seinem Suchen nach der mystischen Wahrheit, »daß der Sufismus eine Sache des Erlebens und nicht der Worte ist; daß ich alles, was davon auf dem Wege der Wissenschaft gelernt werden kann, gelernt hatte, und daß mir nur das übrig blieb, wozu man nicht gelangt durch Hören und Lernen, sondern durch Schmecken und Erfahren Schmölders p. 55; Meynard p. 56..« »Niemand denke,« sagt die Theologia Deutsch, »daß man zu diesem wahren Licht und vollkommenen Erkennen … kommen könne … von Hörensagen oder durch Lesen und Studieren, noch mit hoher Kunst und großer Wissenschaft Kap. XIX (Bernhart S. 122)..« »Es ist nicht genug, nur aus bloßer Schätzung zu wissen,« sagt Gerlac Petersen, »sondern wir müssen aus Erfahrung wissen Ignitum cum Deo Soliloquium XI.

Ebenso sagt Mechthild von Magdeburg über ihre Offenbarungen: »Die Schrift dieses Buches ist gesehen, gehört und an allen Gliedern empfunden … ich sehe es mit den Augen meiner Seele und höre es mit den Ohren meines ewigen Geistes Das fließende Licht der Gottheit IV, 13.

»Die Aufforderung des mystischen Lebens an uns lautet: Kommt und seht! Seine Verheißung ist, daß wir hingelangen und sehen werden A. E. Waite, Studies in Mysticism p. 53..« Die, welche meinen, es sei nur ein angenehmes Bewußtsein des Göttlichen in der Welt, ein Gefühl des »Andersseins« der Dinge, ein Sichsonnen in den Strahlen des Unerschaffenen Lichtes, diese spielen nur mit der Wirklichkeit. Wahre mystische Leistung ist der vollständigste und schwierigste Ausdruck des Lebens, der bis jetzt dem Menschen möglich ist. Sides Erlebens, die Fühlen, Wollen und Denken, die drei Tätigkeiten des Selbst zugleich aufruft und befriedigt. Die Religion vermag uns den ersten, die Metaphysik den dritten dieser inneren Vorgänge zu verschaffen. Nur die Mystik kann alle drei in eins verbinden. »Geheimnisse«, sagt die hl. Katharina von Siena, »werden dem Freunde offenbart, der mit seinem Freunde eins geworden ist, nicht dem Diener Dialogo, Kap. LX (in freier Wiedergabe).

2. Mystik ist eine ausschließlich geistliche Tätigkeit.

Diese Regel bringt eine weitere Einschränkung mit sich, die alles, was Magie oder magische Religion ist, selbst in ihren höchsten und vergeistigtsten Formen, naturgemäß ausschließt. Wie wir sehen werden, wenn wir zur Betrachtung dieses Gegenstandes kommen, ist der Zweck allemal – und er ist nicht unbedingt unberechtigt –: das Sichtbare mit Hilfe des Unsichtbaren zu verbessern und aufzuhellen; die übernormalen Kräfte des Selbst zur Vermehrung von Macht, Heilkraft, Glück oder Wissen zu benützen. Der Mystiker wendet sich nie in dieser Weise auf sich selbst zurück oder versucht die Vorteile zweier Welten zu vereinigen. Am Ziel seiner Entwicklung erkennt er Gott durch Vereinigung mit ihm, und diese unmittelbare Anschauung des Absoluten tötet alle niedern Begierden. Er besitzt Gott und bedarf nichts weiter. Obgleich er sich unaufhörlich und unermüdlich für andere Menschen ausgibt und »ein Werkzeug der ewigen Güte« geworden ist, ist er gänzlich frei von übersinnlichen Ambitionen, strebt nicht nach okkultem Wissen oder übernatürlicher Macht. Da er seinen Blick auf die Ewigkeit gerichtet, sein Bewußtsein in sie eingetaucht hat, berühren die Verwirrungen der Zeit ihn nicht. »Und es kommt so weit,« sagt Tauler, »daß der Geist in diesem so versinkt, daß er alle Unterscheidung verliert. Er wird so eins mit der Süßigkeit der Gottheit, daß sein Wesen so mit dem göttlichen Wesen durchdrungen wird, daß er sich verliert wie ein Tropfen Wasser in einem großen Fasse Wein. So versinkt der Geist in Gott in göttlicher Einigkeit, daß er da alle Unterschiede verliert, … und es ist eine lautere, stille, heimliche Einigkeit ohne allen Unterschied Tauler S. 33, 21-28 Vetter (Lehmann I, S. 31; Predigt auf Septuagesimä)..« »Ich will nicht das, was von dir ausgeht,« sagt die hl. Katharina von Genua, »sondern allein dich, o süße Liebe S. 48 f..« »Wenn die Seele«, sagt Plotin in einer seiner tiefsten Stellen, »an dem Ziel angelangt ist und Anteil an ihm genommen hat, dann erkennt sie, daß der Chorführer des wahrhaftigen Lebens gegenwärtig ist und es keines andern mehr bedarf; im Gegenteil, man muß dann alles andere ablegen und in diesem allein bleiben und dies allein werden, indem man alles andere, was einen umgibt, von sich abstreift Sechste Enneade IX, 9.

3. Weg und Ziel der Mystik ist Liebe.

Hier ist eins der deutlichsten Kennzeichen wahrer Mystik, das sie von jeder andern Art transzendentaler Theorie oder Praxis unterscheidet und uns die Antwort auf die Frage gibt, mit der unser letztes Kapitel schloß. Es ist die eifrige, nach außen wirkende Tätigkeit, deren Triebkraft selbstlose Liebe ist, nicht die aufsaugende, an sich reißende Tätigkeit, die nur nach neuen Erkenntnissen strebt, welche ihr sowohl in der geistigen wie in der physischen Welt nützen sollen.

Wir müssen hier jedoch hinzufügen, was wir schon in bezug auf das Wort »Herz« sagten, daß das Wort »Liebe«, wenn wir es auf die Mystiker anwenden, in seinem tiefsten und vollsten Sinne zu verstehen ist: als der letzte Ausdruck des innersten Triebes der Seele, nicht als die oberflächliche Zuneigung oder Gemütsbewegung, die man oft dieses Namens würdigt. Die mystische Liebe ist das Kind der himmlischen Aphrodite, das tiefwurzelnde Verlangen und Streben der Seele nach ihrem Ursprung Plotin, a. a. O.. Sie ist ein Zustand demütiger Annäherung, eine Lebensbewegung des Selbst, unmittelbarer in ihren Methoden, gültiger in ihren Resultaten – selbst in den Händen ihrer ungelehrtesten Adepten – als die eindringlichste intellektuelle Vision des größten philosophischen Geistes. Immer wieder haben die Mystiker dies hervorgehoben. »Denn Schweigen ist nicht Gott, und Reden ist nicht Gott; Fasten ist nicht Gott und Essen ist nicht Gott; Alleinsein ist nicht Gott und Beisammensein ist nicht Gott, noch irgendeine von all den andern entgegengesetzten Größen. Er ist zwischen ihnen verborgen und kann nicht durch irgendeine Tätigkeit deiner Seele gefunden werden, sondern einzig und allein durch die Liebe deines Herzens. Er läßt sich nicht durch die Vernunft erkennen, noch durch das Denken erfassen, noch durch den Verstand erschließen; doch er läßt sich erwählen und lieben von dem wahren liebenden Willen deines Herzens … solch ein Pfeil der sehnenden Liebe, ins Dunkel gesandt, geht geradewegs ins Zentrum, ins Herz Gottes »An Epistle of Discretion.« Dieser schöne, alte, englische Traktat, der wahrscheinlich von dem Verfasser der Cloud of Unknowing stammt, ist gedruckt bei E. Gardner, The Cell of Self Knowledge, p. 108.

»Steig eilends herab,« sagt die Unbegreifliche Gottheit zu der Seele, die wie Zachäus auf den Gipfel des theologischen Baumes hinaufgeklettert ist, »denn heute will ich in deinem Hause einkehren.« Das eilige Herabsteigen, wozu Gott auffordert, ist nichts anderes als ein Herabsteigen durch Verlangen und Liebe in den Abgrund der Gottheit, was keinem bloß von geschaffenem Lichte erleuchteten Verstande möglich ist. Wo aber der Verstand draußen bleibt, da gehen Verlangen und Minne ein Ruysbroeck, Zierde der geistl. Hochzeit I, 26 (Verkade S. 57 f.)..

Man könnte Bände von Auszügen aus den Mystikern anhäufen als Belege für diese Regel, die in der Tat der Hauptgrundsatz der Mystik ist; denn »die Liebe«, sagt Rolle, »läßt die liebende Seele nicht in sich bleiben, sondern reißt sie hin zu dem Geliebten, so daß die Seele mehr da ist, wo sie liebt, als wo der Leib ist, der es erlebt und fühlt«. »O einzige Freude der ewigen Liebe«, sagt er wiederum, »die alles, was ihr gehört, über alle Welten hinauf zum Himmel hebt und mit Banden der Tugend bindet! O himmlische Liebe, die Erde hat nichts, so sie dich nicht hat! Der, in dem du wirkst, wird alsbald emporgehoben zu überirdischer Freude! O fröhliche Liebe, starke, hinreißende, brennende, eigenwillige, nicht zu stillende Liebe, die meine ganze Seele in ihren Dienst zwingt und sie an nichts denken läßt als an dich allein … O du lautere Liebe, geh in mich ein und nimm mich in dich auf und bringe mich so meinem Schöpfer dar. Du bist köstlicher Wohlgeschmack, holde Lieblichkeit, süßer Duft, läuterndes Feuer, unvergänglicher Trost. Du führst die Menschen zur Einkehr, öffnest ihnen das Himmelstor, schließest den Mund der Verleumder, machst Gott sichtbar und bedeckst der Sünden Menge. Wir preisen dich, wir verkünden dich, durch dich überwinden wir in einem Augenblick die Welt und steigen die himmlische Leiter empor zur Freude The Mending of Life Kap. XI.

Die Liebe des Mystikers ist also: a) der aktive Ausdruck seines auf das Absolute gerichteten Willens und Verlangens, b) sein eingeborener Trieb zum Absoluten: seine geistige Schwere. Er ist nur ganz natürlich, ganz lebendig, wenn er ihrer Stimme gehorcht. Für ihn ist sie die Quelle der Freude, das Geheimnis des Weltalls, das belebende Prinzip der Dinge. Wie Récéjac sagt: »Die Mystik macht sich anheischig, ohne alle Hilfe der Dialektik sich des Unerkennbaren bewußt zu werden, und glaubt, daß sie auf dem Wege der Liebe und des Willens einen Punkt erreicht, wohin das Denken allein nicht gelangen kann.« Und wiederum: »Es ist das Herz und niemals die Vernunft, was uns zum Absoluten führt Fondements de la Connaissance Mystique p. 7..« So sind es in der wunderbaren Allegorie der hl. Katharina von Siena die Füße der Liebe, die die Seele zuerst zur Brücke tragen, »denn die Liebe trägt die Seele, wie die Füße den Leib tragen Dialogo Kap. XXVI.

Aus jeder Seite der Juwelen der mystischen Literatur leuchtet diese inbrünstige, leidenschaftliche Liebe zum Absoluten, die sich über die Sprache des Dogmas, in die sie gekleidet ist, erhebt und den Mystikern aller Völker und Religionen gemeinsam wird. Hier ist wenig Unterschied zwischen den Extremen des morgenländischen und des abendländischen Geistes, zwischen dem Christen Thomas von Kempen und dem mohammedanischen Heiligen Dschelal ed Din.

»Ein großes Ding ist die Liebe, und ein gar großes Gut; sie ist es, die alles Drückende leicht macht und alles Ungleiche mit Gleichmut trägt …

Die Liebe will aufwärts und läßt sich durch nichts Niederes zurückhalten. Die Liebe will frei sein und fern von aller Weltliebe, damit ihr inneres Schauen nicht gehemmt werde, damit es nicht durch irgendwelches zeitliche Gut gefesselt werde noch unter Ungemach erliege.

Nichts ist süßer als die Liebe, nichts stärker, nichts höher, nichts weiter, nichts freudiger, nichts vollkommener und besser im Himmel und auf Erden, denn die Liebe ist aus Gott geboren und kann nicht ruhen außer in Gott, hoch über allem Geschaffenen.

Der Liebende fliegt, läuft und ist voll Freude; er ist frei und läßt sich nicht halten. Er gibt alles für alles und hat alles in allem, denn er ruht in dem Einen, der der Höchste ist über alles, aus dem alles Gute fließt und hervorgeht.

Er sieht nicht auf die Gaben, sondern wendet sich über alle Güter hinweg zum Geber.

… Wer liebt, versteht den Schrei dieser Stimme. Denn ein lauter Schrei ist in den Ohren Gottes diese glühende Leidenschaft der Seele selbst, die da spricht: ›Gott, meine Liebe! Du ganz mein, und ich ganz dein De Imitatione Christi III, 5, 3-5 (übers. von Sailer S. 141 f).!‹«

Soweit der Christ. Hören wir nun den persischen Mystiker.

»Während der Gedanke an den Geliebten unser Herz erfüllt,
Ist all unsre Arbeit, Ihm zu dienen und unser Leben für Ihn zu verspenden.
Überall, wo Er Seine vernichtende Fackel entzündet,
Verbrennen Myriaden von Seelen Liebender daran.
Die Liebenden, die im Heiligtum wohnen,
Sind Motten, die sich an der Fackel des geliebten Antlitzes verbrennen.
O Herz, dorthin eile! Denn Gott wird auf dich scheinen
Und dir nicht wie ein Schrecken, sondern wie ein lieblicher Garten sein.
Er wird deiner Seele eine neue Seele einflößen
Und dich wie einen Kelch mit Wein füllen.
Nimm Wohnung in Seiner Seele!
Nimm Wohnung am Himmel, o strahlender Vollmond!
Er wird das Buch deines Herzens öffnen
Und seine Geheimnisse dir enthüllen Dschelal ed Din, nach: Jalalu 'd Din (Wisdom of the East Series) p. 79.

Wohl mag Hilton sagen: »Vollkommene Liebe macht, daß Gott und die Seele gleichsam nur Ein Ding sind The Scale of Perfection p. 339.«, und Tauler: »Der Brunnen des Lebens ist die Liebe, und wer nicht in der Liebe ist, der ist tot Tauler (1521) 196c (Pred. II, 38, auf Donnerstag in den Osterfeiertagen).

»Wenn ich Gott mit meinem Willen liebe«, sagt der hl. Bernhard, »so verwandle ich mich selbst in Ihn, denn das ist die Wunderkraft der Liebe, daß sie dich dem, was du liebst, gleichmacht Angeführt in den Soliloquies of St. Bonaventura Ex. I.

Dies sind gleichwohl objektive und lehrhafte Äußerungen; wenn sie auch ihrem Inhalt nach persönlich sein mögen, der Form nach sind sie es nicht. Doch wenn wir sehen wollen, was es in Wahrheit heißt, »von Liebe zum Absoluten entbrannt zu sein« – wie lebendig gegenwärtig dem Mystiker der Gegenstand seiner Leidenschaft ist, wie weit entfernt von der Sphäre frommer Pflicht oder philosophischer Spekulation, wie konkret positiv und beherrschend solche Leidenschaft sein kann –, so müssen wir die Literatur der Autobiographie studieren, nicht die der Dichtung oder Erbauung. Ich wähle zu diesem Zweck lieber als die wohlbekannten Selbstanalysen des hl. Augustin, der hl. Teresa oder Seuses, die jedem zugänglich sind, die intimeren Bekenntnisse der bemerkenswerten, aber wenig beachteten Mystikerin Gertrude More, wie sie in ihren »Spiritual Exercises« enthalten sind.

Diese Nonne, die Ururenkelin des Sir Thomas More und Lieblingsschülerin des berühmten benediktinischen Kontemplativen Augustin Baker, stellt die romantische und persönliche Seite der Mystik weit vollkommener dar als selbst die hl. Teresa, deren Werke zur Erbauung ihrer geistlichen Töchter geschrieben wurden. Sie war eine eifrige Schülerin des hl. Augustinus, von dem sie wiederholt als von ihrem »lieben, lieben Heiligen« spricht. Er hat augenscheinlich ihre Sprache beeinflußt; doch ihre Leidenschaft ist ganz persönlich.

Man vergesse nicht, daß Gertrude Mores Bekenntnisse die geheimste Zwiesprache ihrer Seele mit Gott darstellen. Sie waren nicht für die Veröffentlichung bestimmt, sondern zum größten Teil auf die unbedruckten Seiten ihres Breviers geschrieben und wurden erst nach ihrem Tode gefunden und veröffentlicht. Sie nannte sie, wie das Titelblatt mit rührender Schlichtheit verkündet: » Amor ordinem nescit: die Andachten einer Törin«. Ihr einziger geistlicher Vater und Führer, Pater Baker, nannte sie: » Confessiones Amantis, die Bekenntnisse einer Liebenden. Amans Deum anima sub Deo despicit universa. Eine Seele, die Gott liebt, verachtet alle Dinge, die geringer sind als Gott Gedruckt 1658 »At Paris by Lewis de la Fosse in the Carme Street at the Signe of the Looking Glase«. Ich zitiere nach dieser Ausgabe.

Der Geist ihres kleinen Buches ist in zwei Epigrammen zusammengefaßt, Epigrammen, auf die ihr Zeitgenosse Crashaw hätte stolz sein können. »Alles um Liebe hinzugeben ist süßester Gewinn S. 138.«. »O laßt mich lieben oder nicht mehr leben S. 181.!« Dies ist sicher eine edlere Auffassung von den Pflichten des geistlichen Rittertums als die berühmtere und unerbittliche Alternative der hl. Teresa: Aut pati aut mori (Leide oder stirb). Ihr Leben war in Wahrheit Liebe, und sie schreibt davon mit einer Begeisterung, die bald an den hl. Franz von Sales, bald an die Liebeslyrik der Elisabethanischen Dichter erinnert.

»Niemals gab es eine solche Liebe, noch kann man sich eine solche Liebe vorstellen wie die zwischen einer demütigen Seele und dir. Wer vermag das auszudrücken, was zwischen einer solchen Seele und dir vorgeht? Wahrlich, weder Mensch noch Engel ist dazu imstande … In deinem Lobe nur bin ich glücklich, du, meine Freude, jauchzend will ich dich preisen mit allen, die dich lieben. Denn welchen andern Trost habe ich, während ich getrennt von dir lebe, als den Gedanken, daß mein Gott, der mehr mein eigen ist, als ich es selbst bin, vollkommen und unendlich glücklich ist? … Aus dieser wahren Liebe zwischen einer Seele und dir erwächst in der Seele eine solche Erkenntnis, daß sie alles verabscheut, was ihrem weiteren Fortschreiten in ihrer Liebe zu dir hinderlich ist. O Liebe, Liebe, wenn ich nur deinen Namen nenne, verliert sich meine Seele in dir … Nichts kann eine vernünftige Seele befriedigen als nur du; und wenn sie dich hat, der in Wahrheit alles ist, so gibt es nichts, was ihr fehlt. Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gottschauen. O begehrens- und ersehnenswertes Schauen, denn wer dich einmal erfahren hat, kennt und weiß alle Dinge. Nichts kann uns zu diesem Schauen führen als allein die Liebe. Aber was für eine Liebe muß das sein? Nicht eine bloß sinnliche, kindische Liebe, die mehr sich selbst als den Geliebten sucht. Nein, nein, es muß eine inbrünstige, eine reine, eine mutige Liebe sein, eine barmherzige, demütige, standhafte Liebe, die sich nicht durch Mühsal ermatten und nicht durch Hemmnisse schrecken läßt … Denn die Seele, die ihre ganze Liebe und ihr ganzes Verlangen auf dich gesetzt hat, kann nirgends wahre Befriedigung finden als allein in dir a. a. O. S. 9, 16, 25, 35, 138, 175.

Wer sieht nicht sogleich, daß wir hier kein literarisches Erzeugnis haben, sondern die Früchte intensivsten Erlebens? Sie entsprechen genau einer der besten neueren Definitionen der Mystik als »Konzentration aller Kräfte der Seele auf ein übernatürliches Objekt, das als lebendige Person vorgestellt und geliebt wird Berger, William Blake S. 72..« »Liebe und Verlangen«, sagt derselbe Kritiker, »sind die Grundbedingungen, und wo die fehlen, kann der Mensch, mag er auch ein Visionär sein, niemals ein Mystiker genannt werden Ebenda S. 74..« Eine solche Definition ist natürlich nicht vollständig. Sie ist jedoch wertvoll, da sie die Tatsache unterstreicht, daß alle wahre Mystik in der Persönlichkeit wurzelt und daher im Grunde eine Wissenschaft des Herzens ist.

»Die Liebe, die die Sterne zwingt«, zwingt auch das sternenhafte Wesen, die Seele. Anziehung, Begehren und Vereinigung als Erfüllung des Begehrens, das ist die Art, wie das Leben wirkt, in seinen höchsten und niedersten Formen. Das Streben des Mystikers gleicht dem des Liebenden. Es hat dasselbe Ungestüm, dieselbe Leidenschaft, die gleiche selbstlose und abenteuerliche Hingabe, dieselbe Verbindung von Verzücktheit und Demut. Diese Parallele ist mehr als ein hübscher Einfall, denn der Mystiker und der Liebende antworten in gleicher Weise, wenn auch auf verschiedenen Ebenen, dem Ruf des Lebens. Die Sprache der menschlichen Leidenschaft ist matt und arm neben der Sprache, in der die Mystiker von der Herrlichkeit ihrer Liebe künden. Sie zwingen dem unvoreingenommenen Leser die Überzeugung auf, daß es sich bei ihnen um eine viel inbrünstigere Leidenschaft für ein viel wirklicheres Objekt handelt.

»Dieser Mönch kann Liebenden Unterricht geben!« rief Arthur Symons in Erstaunen über den hl. Johann vom Kreuze aus Contemporary Review, April 1899.. Es wäre merkwürdig, wenn er es nicht könnte, da ihre irdische Leidenschaft nur ein schwaches Abbild seiner himmlischen, der Gegenstand ihrer Liebe nur das unvollkommene Symbol seines Erst- und Einzigschönen ist. »Ich sah Ihn und suchte Ihn; ich hatte Ihn und verlangte nach Ihm«, sagt Juliane von Norwich und faßt damit die ganze selige Verzücktheit und bangende Sehnsucht der menschlichen Seele gleichsam in einem Wort zusammen. Nur diese mystische Leidenschaft kann uns aus unserer Gefangenschaft führen. Ihre Schwester, die Sehnsucht nach Erkenntnis, kann die Wohnräume so weit ausbauen und verbessern, wie man es sich nicht hätte träumen lassen; doch die Tore aufschließen kann sie nicht.

4. Die Mystik bringt eine bestimmte psychologische Erfahrung mit sich.

Das will sagen, sie zeigt sich nicht nur als ein Zustand des Gemüts und des Herzens, sondern als eine Form organischen Lebens. Sie ist nicht eine Theorie des Verstandes noch eine noch so leidenschaftliche Sehnsucht des Herzens, sondern eine bestimmte und eigene Entwicklung des ganzen Selbst, des bewußten und des unbewußten, unter dem Ansporn einer solchen Sehnsucht; eine Erneuerung der ganzen Persönlichkeit auf höherer Ebene im Dienste des übersinnlichen Lebens. Die Mystiker betonen aufs nachdrücklichste, daß alles geistliche Verlangen umsonst ist, wenn es nicht eine Bewegung des ganzen Selbst auf das Wirkliche hin zur Folge hat.

So lesen wir in den Visionen der Mechthild von Magdeburg: »Die Seele sprach also zu ihrem Verlangen: Wohlauf, geh hin und sieh, wo mein Geliebter ist; sag' ihm, ich wolle minnen. Da machte das Verlangen sich eilig auf, denn es ist schnell von Natur, und kam zu der Höhe und rief: Großer Herr, tu auf und laß mich ein. Da sprach der Herr des Hauses: Was begehrst du so feurig? – Herr, ich tu dir kund, meine Herrin vermag nicht länger also zu leben. Wenn du fließen wolltest, so könnte sie schwimmen, denn der Fisch vermag nicht lange auf dem Sande zu leben und frisch zu bleiben. – Kehr' wieder um, ich lasse dich nicht ein, wenn du mir nicht die hungrige Seele bringst, nach der mich vor allen Dingen verlangt Das fließende Licht der Gottheit III, 1.

Wir haben oben S. 48 f. gesagt, daß das volle mystische Bewußtsein in zwei deutlich unterschiedenen Richtungen geht. So gibt es auch zwei bestimmte Seiten des vollen mystischen Erlebens: 1. Die Vision oder intuitive Erkenntnis der absoluten Vollkommenheit; 2. die innere Umwandlung, zu der jene Vision den Mystiker zwingt, damit er bis zu einem gewissen Grade dessen, was er geschaut hat, würdig werde und seinen Platz innerhalb des Bereichs der Wirklichkeit einnehmen könne. Er hat das Vollkommene gesehen, auch er möchte vollkommen werden. Die »dritte Bedingung«, die notwendige Brücke zwischen dem Absoluten und dem Selbst, kann, das fühlt er, nur eine sittliche und geistige Erhöhung, mit einem Wort, Heiligkeit, sein, denn »das einzige Mittel, vom Absoluten Besitz zu ergreifen, ist: sich Ihm anpassen Récéjac, Fondements de la Connaissance Mystique p. 35..« Die sittlichen Tugenden sind also für ihn der obligatorische »geistliche Hochzeitsschmuck«, wie Récéjac sie nennt, wenn auch noch viel mehr zum Zustandekommen dieser Hochzeit erforderlich ist. Wenn dieser Trieb zu sittlicher Vollkommenheit ihm nicht eingeboren ist, diese mühevolle Arbeit des innern Lebens nicht begonnen hat, ist er kein Mystiker, obgleich er sehr wohl ein Visionär, ein Prophet oder ein »mystischer« Dichter sein kann.

Weiter werden durch diesen Umwandlungsprozeß, diese Erneuerung des Selbst auf höherer Ebene, jene unterbewußten geistlichen Wahrnehmungen, die das primäre Material mystischer Erfahrung sind, ins Bewußtsein gehoben und in den Mittelpunkt des Lebens gerückt. Ziel und Zweck dieser »innern Alchimie« ist die Erhebung des ganzen Selbst bis zu der Stufe, wo eine bewußte und dauernde Vereinigung mit dem Absoluten stattfindet, wo der Mensch, zum Gipfel seines Menschentums aufsteigend, in das größere Leben, für das er geschaffen wurde, eintritt.

Auf seiner Reise zu dieser Vereinigung hat der Mystiker gewisse, deutlich gekennzeichnete Stadien zu durchschreiten, die zusammen den sogenannten »mystischen Weg« bilden. Durch diese Feststellung wird sowohl alle rein gefühlsschwärmerische Frömmigkeit und visionäre Poesie wie alle mystische Philosophie vom wahren Reich der Mystik ausgeschieden. Sie führt uns wieder zu unserm ersten Satz von der konkreten und praktischen Natur des mystischen Lebens zurück.

Also noch nicht das Wahrnehmen Gottes, noch nicht der leidenschaftliche Trieb zum Absoluten allein, machen den Mystiker. Beides muß verbunden sein mit einer besonderen psychischen Anlage, mit einer außerordentlichen Fähigkeit zur Konzentration, einem gesteigerten sittlichen Gefühl, einem Nervensystem vom Typus des künstlerischen. Alles dies ist notwendig für eine erfolgreiche Entwicklung des mystischen Lebensprozesses. In den Berichten, die uns die Mystiker über ihr eigenes Leben hinterlassen haben, sind die verschiedenen Stadien dieses Lebensprozesses immer deutlich zu verfolgen. Im zweiten Teile dieses Buches werden wir sie eingehend behandeln. Rolle, Seuse, Madame Guyon, die hl. Teresa und viele andere haben uns wertvolle Selbstanalysen zum Vergleich hinterlassen, und aus ihnen sehen wir, wie mühevoll, wie genau bestimmt und wie weit entfernt von bloßer Gefühls- oder Verstandestätigkeit jene Erziehungsdisziplin ist, durch die »das Auge, das die Ewigkeit schaut«, zu seinem Erbe kommen kann. »Eins der Kennzeichen des wahren Mystikers,« sagt Leuba, »ist die beharrliche und heldenhafte Energie, mit der er ein bestimmtes sittliches Ideal verfolgt Revue Philosophique, Juli 1902.»Er ist«, sagt Pacheu, »der Pilger einer innern Odysee Psychologie des Mystiques Chrétiens p. 14..« Wenn wir auch über seine Abenteuer und Entdeckungen auf seiner Fahrt erstaunt und entzückt sind, so ist für ihn die Reise und das Ziel alles. »Die Straße, die wir ziehen, ist eine königliche Straße, die zum Himmel führt«, sagt die hl. Teresa. »Ist es da zu verwundern, daß die Eroberung eines solchen Schatzes uns nicht so leicht gemacht wird? Camino de Perfeccion Kap. XXIII.«

Es ist eins der vielen indirekten Zeugnisse für die objektive Wirklichkeit der Mystik, daß die Stadien dieser Straße, die Psychologie des geistlichen Aufstiegs, wie sie uns von verschiedenen Schulen der Kontemplativen geschildert wird, tatsächlich immer dieselbe Folge von Zuständen darstellt. Die »Schule der Heiligen« hat nie nötig befunden, ihren Studienplan zu modernisieren. Der Psychologe wird es z. B. nicht schwer finden, die »Gebetsstufen«, wie sie die hl. Teresa beschreibt In El Castillo Interior., – Sammlung, Stille, Einigung, Ekstase, Verzückung, der »Schmerz Gottes« und die geistliche Hochzeit der Seele – mit den vier Formen der Kontemplation, die Hugo von St. Victor aufzählt, oder mit den sieben Stadien der Sufis, in denen die Seele zu Gott hinansteigt, die mit der Anbetung beginnen und mit der geistlichen Hochzeit enden, in Einklang zu bringen Vgl. Palmer, Oriental Mysticism V, 5.. Wenn die Pilger auch vielleicht verschiedene Marksteine wählen mögen, so geht aus dem Vergleich doch klar hervor, daß ihre Straße dieselbe ist.

5. Als Zusatz zu diesen vier Regeln ist es vielleicht gut, noch einmal die Feststellung zu wiederholen, daß wahre Mystik nie das Ihre sucht. Sie ist nicht, wie viele meinen, das Trachten nach übersinnlichen Freuden, die Befriedigung eines hohen Ehrgeizes. Der Mystiker begibt sich nicht auf seinen Weg, weil er das Glück der Visio beatifica, die Ekstase der Vereinigung mit dem Absoluten oder irgendeinen andern persönlichen Lohn sucht.

In »einer so eigenartigen, hochgespannten und heldenhaften Persönlichkeit, wie es der christliche Mystiker ist Leuba, a. a. O.«, überwiegt der edelste aller Triebe, der Trieb nach Vervollkommnung um der Liebe willen, bei weitem das Verlangen nach transzendentaler Befriedigung. »O Herr«, sagt die hl. Katharina von Genua, »ich will dir nicht nachfolgen um dieser Freuden willen, sondern allein aus wahrer Liebe Vita Kap. III, 3..« Solche, bei denen es anders ist, sind nur, wie der hl. Johannes vom Kreuze ganz ungeschminkt Sagt, »geistliche Schlemmer Subida del Monte Carmelo II, Kap. VII.«, oder um es in unserer milderen Bildersprache auszudrücken, Magier von höherem Streben. Der wahre Mystiker verlangt keine Verheißungen und stellt keine Forderungen. Er macht sich auf, weil er muß, wie Galahad sich zum Gral aufmachte, in der Erkenntnis, daß für die, die dazu berufen sind, dies allein Leben bedeutet. Er rastet nie in seiner Suche nach Gott, die er als die Erfüllung seiner höchsten Pflicht betrachtet; doch er sucht ohne irgendwelche Sicherheit des Erfolges. Er glaubt mit St. Bernhard, daß »Er allein Gott ist, den man nie vergebens suchen kann, selbst wenn man ihn nicht findet De Consideratione V, 11.«. Mit Mechthild von Magdeburg hört er den Absoluten in seiner Seele sagen: »O Seele, ich habe dein begehrt von Anfang der Welt; ich begehre dein, und du begehrst mein. Wo zwei heiße Verlangen sich begegnen, da ist die Liebe vollkommen Das fließende Licht der Gottheit VII, 16.

Wie sein Abbild, der hingebungsvolle Ritter der Romanze, so dient also auch der Mystiker ohne Hoffnung auf Lohn. Das ist eine der vielen Paradoxien des geistlichen Lebens, daß ihm Lohn wird, weil er ihn nicht sucht, daß er sein Selbst vollendet, weil er es aufgibt. Ans Ziel, sagt Dionysios der Areopagit in Worten, die mit großen Buchstaben in den Annalen der christlichen Ekstase geschrieben stehen, gelangst du nur »durch ein spontanes und unbedingtes Hinaustreten aus dir selbst und allen Dingen Von mystischer Theologie I, 1.. Nur mit der gänzlichen Vernichtung der Selbstheit kommt die Erfüllung der Liebe. Fragte man den Mystiker nach der Ursache seines oft seltsamen Betragens, seines unentwegten mühseligen Suchens, so würde seine Antwort kaum einen Hinweis auf göttliche Erleuchtung oder unaussprechliche Freuden enthalten. Es ist wahrscheinlicher, daß er ähnlich wie Jakob Boehme antworten würde: »Ich bin nicht durch meine Vernunft oder durch meinen vorsätzlichen Willen auf diese Meinung oder in diese Arbeit und Erkenntnis gekommen; ich habe auch diese Wissenschaft nicht gesucht, auch nichts davon gewußt; ich habe allein das Herz Gottes gesucht, mich vor dem Ungewitter des Teufels darein zu verbergen Aurora XXIII, 84.

Man hat sehr richtig gesagt, daß solch ein Suchen »nicht ein Suchen nach Freude« ist, sondern »die Befriedigung eines durch den Sporn der Notwendigkeit getriebenen Verlangens A. E. Waite, Strange Houses of Sleep p. 211..« Dies Verlangen ist das Verlangen der Seele, die in den Symbolen der Sinnenwelt, die nur das engbegrenzte Gebiet des normalen Bewußtseins füllen, nicht ihr Genüge zu finden vermag, zu jener Fülle des Lebens zu gelangen, für die sie geschaffen wurde, »zu dem zu gelangen, was durchaus unsichtbar und unberührbar ist, indem sie sich ganz dem hingibt, was über alles erhaben ist, und niemand, weder sich selbst noch andern, anzugehören; und mit dem gänzlich Unerkennbaren durch das Aufhören aller erkennenden Tätigkeit ihrem bessern Teil nach vereinigt, durch dies absolute Nichterkennen eine Erkenntnis zu gewinnen, an die kein Verstand hinanreicht Dionysios der Areopagit, Von mystischer Theologie I, 3.

Die Mystik ist also »der eine Ausweg« für den wach gewordenen Geist des Menschen. Sie ist die Heilung von jener menschlichen Unvollkommenheit, die die Ursache der göttlichen Unrast der zu vollem Bewußtsein und zu vollem Leben erwachten Seele ist angesichts der »ewigen Wahrheit, der wahren Liebe und der geliebten Ewigkeit Augustinus, Conf. VII, 10..« »Ich bin des gewiß,« sagt Eckehart, »erkennte eine Seele das geringste, das Wesen hat, sie würde sich auch nicht einen Augenblick davon abkehren Pred. LXXXII (Pfeiffer S. 263, 15 f.; Lehmann 216; Landauer, Myst. Schriften S. 137)..« Die Mystiker haben sich nie abgewandt; das wäre ihnen als Selbstzerstörung erschienen. Hier, in dieser Welt der Täuschung, sagen sie, haben wir keine bleibende Statt. Für euch ist dies nur ein Lehrsatz, für uns aber die zentrale Lebenstatsache. »Daher müssen wir eilen, von hier fortzukommen, und unwillig sein über unsere Fesseln, damit wir mit unserm ganzen Wesen ihn umfangen und keinen Teil mehr an uns haben, mit dem wir nicht an Gott hangen Plotin, Sechste Enneade IX, 9 (Müller II, S. 449).

Um nun zusammenzufassen: Wir haben gesehen, daß die Mystik eine höchst eigenartige Form jenes Strebens nach Wirklichkeit, nach höherem und vollkommenerem Leben ist, das wir als dem menschlichen Bewußtsein eigentümlich erkannt haben. Dies mystische Streben wird in weitem Maße geleitet von jenem »himmlischen Funken«, jener transzendentalen Fähigkeit, die, ob sie gleich das Leben unseres Lebens ist, bei gewöhnlichen Menschen unter der Schwelle des Bewußtseins bleibt. Beim Mystiker tritt sie aus ihrer Verborgenheit hervor und wird allmählich zum beherrschenden Faktor seines Lebens, indem sie alle Lebenskräfte in ihren Dienst zwingt und durch die heilsame Berührung mit der Wirklichkeit steigert, und zwar vielmehr die Kräfte der Liebe und des Willens, die wir dem Herzen zuschreiben, als die des bloßen Verstandes und der Wahrnehmung, die wir dem Kopf zuschreiben. Unter dem Sporn dieser Liebe und des Willens erhebt sich die Persönlichkeit in der Kontemplation und Ekstase zu einer Bewußtseinsebene, auf der sie ein ganz neues Wahrnehmungsfeld gewahr wird. Durch dieses Gewahren, dieses »liebende Schauen« wird sie zu einem neuen Leben getrieben, das mit der Wirklichkeit, die sie geschaut hat, in Einklang steht. So fremdartig und gesteigert ist dies Leben, daß es stets entweder den Zorn oder die Bewunderung anderer Menschen hervorruft. »Wenn die großen christlichen Mystiker«, sagt Leuba, »durch irgendein Wunder alle an Einen Ort zusammengebracht werden könnten, jeder in seiner gewohnten Umgebung, um da nach seiner Art zu leben, so würde die Welt bald merken, daß sie eine der erstaunlichsten und tiefsten Variationen darstellen, die das Menschengeschlecht noch erlebt hat Leuba, a. a. O.

Eine Untersuchung der Mystik als eines Ganzen wird daher zwei Abschnitte umfassen. Zunächst den Lebensprozeß des Mystikers, die Erneuerung seiner Persönlichkeit, die besondere Art und Weise, wie er zum Bewußtsein des Absoluten gelangt, und die Fähigkeiten, die er für die Bedürfnisse der Erscheinungswelt entwickelt hat, nun in den Stand setzt, auf der übersinnlichen Ebene ihren Dienst zu tun. Dies ist der »mystische Weg«, auf dem das Selbst durch die Zustände der Entwicklungsstadien hindurchgeht, die von den Neuplatonikern und nach ihnen von den mittelalterlichen Mystikern als Reinigung, Erleuchtung und Ekstase kodifiziert sind. Zweitens muß sich diese Untersuchung richten auf den Inhalt des mystischen Wahrnehmungsfeldes, auf die Offenbarung, kraft deren der Mystiker das Absolute wahrnimmt. Dies führt zu einer Betrachtung der sogenannten Doktrinen der Mystik: der Versuche des zur Klarheit vorgedrungenen Mystikers, uns ein Bild der Welt, in die er geblickt hat, zu entwerfen, in einer Sprache, die nur der Welt, in der wir übrigen leben, angepaßt ist. Hier tritt die schwierige Frage der Symbolik und der symbolischen Theologie auf, ein Punkt, an dem viele verheißungsvolle Darlegungen der Mystiker gescheitert sind. Es wird unsere Aufgabe sein, soweit wie möglich die symbolische Hülle abzustreifen und eine Synthese dieser Lehren zu versuchen, die scheinbaren Widersprüche zu lösen zwischen objektiven und subjektiven Offenbarungen, Verneinung und Bejahung, Emanation und Immanenz, Selbstaufgabe und Vergöttlichung, dem göttlichen Dunkel und dem innern Licht, und endlich, wenn wir es können, die wesentliche Einheit jenes Erlebens aufzuweisen, in dem die menschliche Seele bewußt in die Gegenwart Gottes eingeht.


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