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Zweites Kapitel
Mystik und Vitalismus

Wir haben am Anfang dieser Untersuchung einen Blick geworfen auf die verschiedenen Welten, so wie sie sich aus den Glaubensformen des Materialisten, des Idealisten und des Skeptikers ergeben. Wir haben gesehen, wie der Mystiker in Wort und Tat die Gültigkeit der Grundlagen verneint, auf denen diese Welten errichtet sind, indem er seine lebendige Erfahrung an Stelle ihrer begrifflichen Systeme setzt.

Es gibt indessen noch eine andere, sehr deutliche Art, die Wirklichkeit – oder genauer gesagt, einen Aspekt der Wirklichkeit – zu sehen, die hinsichtlich ihrer Zentralidee alt ist, doch neu hinsichtlich ihrer Anwendung dieser Idee. Diese Anschauung der Dinge, dies neue System hat den Vorzug, viele verschiedene Erfahrungsformen harmonisch in sich zu vereinigen, selbst jene höchsten Erfahrungen und Intuitionen, die den Mystikern eigen sind. Es ist der erste große Beitrag des zwanzigsten Jahrhunderts zur Geschichte des menschlichen Suchens nach Wirklichkeit. Ein echtes Kind seiner Zeit, liegt es überall in der Luft. Viele, die kaum seinen Namen kennen, sind von seinem Geist und dem vagen Lichtschein, den jedes kommende Gedankensystem vorauswirft, beeinflußt. Fast unmerklich hat es schon auf unsere Stellung nicht nur zur Philosophie, sondern auch zur Religion, Wissenschaft, Kunst und zum praktischen Leben eingewirkt und sie umgewandelt. Wie der Hauch des Frühlings, der sich nicht fassen und erklären läßt, so ist es voll neuer Lebenskraft und befruchtet alles, wohin es kommt. Es ist von verschiedenen Richtungen zu uns gekommen und hat seine Vertreter schon auf jeder der drei großen Gedankenebenen. Driesch The Science and Philosophy of Organism. Gifford Lectures 1907-08. und andere Biologen haben es in der Sphäre organischen Lebens zur Anwendung gebracht. Bergson Les Données Immédiates de la Conscience. 1889; Matière et Mémoire. 1896; L'Évolution Créatrice. 1907. (Deutsch bei Eugen Diederichs, Jena: Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen. – Materie und Gedächtnis. – Schöpferische Entwicklung.) hat, von der Psychologie ausgehend, seine intellektuelle und metaphysische Seite behandelt. Rudolf Eucken Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt. 1896; Der Sinn und Wert des Lebens. 1908, u. a., s. Bibliographie. hat aus oder neben ihm eine lebendige Philosophie des Geistes, der Beziehung des Menschen zum Wirklichen entwickelt und ist damit vielleicht von allen modernen Denkern einer konstruktiven Mystik am nächsten gekommen.

Auf dem Grunde dieser drei sehr verschiedenen Philosophien läßt sich dasselbe Prinzip erkennen, nämlich das Prinzip des Vitalismus, der Gedanke eines freien, spontanen und schöpferischen Lebens als des wahren Wesens aller Wirklichkeit. Nicht Gesetz, sondern Leben, unberechenbares und unbezähmbares Leben, ist ihr Motto; nicht menschliche Logik, sondern tatsächliche, lebendige Erfahrung ist ihr Evangelium. Die Vitalisten, ob nun das Gebiet ihrer Forschungen die Biologie, die Psychologie oder die Ethik ist, sehen den ganzen Kosmos, die physische und die geistige Welt als von Initiative und Spontaneität erfüllt, vor allen Dingen als frei. Für sie ist die Natur »in ewigem Tanze«, ihre Handlungen lassen sich nicht durch die sorgfältigen Methoden der Dialektik berechnen. Wenn sie auch durch den Stoff, mit dem sie arbeitet, bedingt ist, so ist ihre Freiheit doch stärker als ihre Ketten. Indem sie von innen nach außen drängt und nach Ausdruck sucht, knospet und erblüht sie zu ursprünglicher Schöpfung Die Forschungen von Driesch und de Vries (The Mutation Theory. 1910) haben viel dazu beigetragen, die Wahrheit dieser Behauptung in der Wissenschaft zur Anerkennung zu bringen. Man beachte besonders Driesch's Bericht über die Wandlungen, womit der Embryo des Seeigels auf Eingriffe von außen selbständig antwortet, und de Vries' außerordentliche Beschreibung des verwilderten Stammes der Nachtkerze ( Oenothera Lamarkkiana), die bald in dieser, bald in jener Richtung variiert, »wie von einer rastlosen inneren Flut hin und her bewegt«.. Die ehernen Gesetze der Deterministen sind nur ihre Gewohnheiten, nicht ihre Fesseln, und als der Mensch die Natur unter dem Gesetz von Ursache und Wirkung sah, wurde er durch seine eigenen Grenzen und Vorurteile getäuscht.

Wenn Bergson, Nietzsche und Eucken auch über den Sinn des Lebens verschiedener Meinung sind, so stimmen sie hier überein; sie legen den gleichen Nachdruck auf die überragende Wichtigkeit und den hohen Wert des Lebens – eines großen kosmischen Lebens, das über unser eigenes hinausgeht und es einschließt. Dies ist umgekehrter Materialismus, denn hier wird uns das, was wir das Weltall nennen, als ein Ausdruck des Lebens dargestellt; nicht das Leben als ein Nebenerzeugnis des Weltalls. Die eigenartige, leidenschaftliche Philosophie Nietzsches, jenes unausgeglichenen modernen Johannes des Täufers, ist in Wahrheit auf einem starken Glauben an die höhere Natur und den höheren Wert des Lebens, des Tuns und der Kraft aufgebaut, und sie wird nur entstellt durch den einseitigen Individualismus, der ihn hinderte, das große und bedeutsame Leben des Ichs und das größere und bedeutsamere Leben des Alls genau gegeneinander abzuwägen.

Offenbar besteht der besondere Vorzug der vitalistischen Philosophie in ihrer Fähigkeit, so vielen verschiedenen Denkern, die von so verschiedenen Standpunkten in unserer gemeinsamen Erfahrung ausgehen, zu genügen. Nach der Seite der Erscheinungen hin scheint sie imstande, die Feststellungen der Naturwissenschaft anzunehmen und umzubilden. In metaphysischer Hinsicht gibt sie jenen ontologischen Spekulationen Raum, die in der Psychologie aufkommen. Sie kommt denen freundlich entgegen, die für die sittliche und geistige Tätigkeit einen wichtigen Platz in der Welt fordern. Endlich läßt sie in den Händen der Mystiker jene einzige Macht, zur absoluten Wirklichkeit zu gelangen, die sie immer für sich beansprucht haben; sie weist sie aus als die wahren Besitzer der Freiheit, als die Fackelträger des Menschengeschlechts.

Wenn der Vitalismus seinen Vorfahren die Anerkennung und Verehrung zollen würde, die ihnen gebührt, so würde er sich mit dem großen Namen Heraklit identifizieren, mit jenem mystischen Philosophen, der im 5. Jahrhundert v. Chr. seinen Zentralgedanken in die europäische Welt einführte Was der Vitalismus Heraklit schuldet, wird von Prof. Schiller anerkannt in seinen Studies in Humanism p. 39 f.. Er ist – wenn diese Behauptung auch einige seiner Erklärer verdrießt – sowohl ein hellenisches wie ein christliches Gedankensystem und bedeutet das Wiedererscheinen von Intuitionen, die von den Führern der Menschheit allzu lange im Verborgenen gehalten wurden. Einer unserer lebenden Theologen hat gesagt, daß es mit den Ketzereien geht wie mit den Hüten: das jüngste Gebilde ist gewöhnlich ein Wiederaufleben einer vergessenen Mode der Vergangenheit. Dies Gesetz findet seine Anwendung besonders auf philosophische Systeme, die im allgemeinen der verständigen Wiedererweckung dessen, was schläft, mehr verdanken als einer neuen geistigen Empfängnis.

Ich habe gesagt, daß diese neue Art, das Wirkliche zu sehen, soweit es sich um ihre Lehre vom Sein handelt, auf Heraklit zurückgeht, dessen »Logos« oder belebendes Feuer nur ein anderes Symbol für jenen freien und lebendigen Geist des Werdens ist, für jene den Wesen innewohnende schöpferische Kraft, die der Vitalismus als die wahre Seele oder immanente Wirklichkeit der Dinge bezeichnet. Diese ewige und wesentliche Wahrheit haben die Vitalisten aufgegriffen, in moderne Ausdrücke übersetzt und für moderne Menschen zurechtgemacht. In bezug auf die eigentliche Funktion des Intellekts hat der Vitalismus einige überraschende Ähnlichkeiten mit Aristoteles und nach ihm mit Thomas von Aquino, indem er ihm nur bestimmte Aufgaben zuerkennt, nicht – wie die Platoniker – ihn als das Organ letzter Erkenntnis betrachtet. Seine Erkenntnistheorie steht der der Mystiker nahe oder würde ihr nahe stehen, wenn jene mit offenen Augen auf die Wirklichkeit starrenden Seher dafür Interesse gehabt hätten, irgendeine psychologische Theorie ihrer eigenen Erfahrungen auszubilden.

Eine Philosophie, die so verschiedene Elemente wie diese in Harmonie setzen kann, verspricht uns bei unserm gegenwärtigen Versuch zum Verständnis der Mystik von Nutzen zu sein, denn sie gibt uns deutliche Illustrationen zu gewissen Seiten der wahrgenommenen Wirklichkeit, die andere Systeme übersehen. Sie hat den weiteren Vorzug, daß sie keine bloße Konstruktion metaphysischer Möglichkeiten enthält, sondern eine wirkliche Erkenntnistheorie. Das heißt, ihr Gesichtsfeld umfaßt sowohl Psychologie wie Philosophie: die Betrachtung nicht nur der Natur der Wirklichkeit, sondern auch der Fähigkeit des Menschen, sie zu erkennen: den Berührungsmechanismus zwischen dem Geist und dem Strom der Dinge. Daher hat sie etwas Ganzes, etwas Umfassendes, das sehr verschieden ist von den sorgfältig eingezäunten Systemen anderer philosophischer Schulen. Sie hat keine Grenzlinien und sollte, wenn sie sich treu ist, auch keine Negationen haben. Sie ist eine Vision, keine Landkarte.

Der Grundunterschied zwischen dem Vitalismus und den Philosophien, die wir bereits betrachtet haben, ist nun dieser. Sein Losungswort, sein Zentralgedanke ist nicht das Sein, sondern das Werden Zum Inhalt dieser und der folgenden Seiten vergleiche man die schon erwähnten Werke von H. Bergson. Sehr viel verdanke ich hier auch der persönlichen Hilfe meines Freundes Mr. William Scott Palmer, dessen lichtvolle Erklärungen soviel dazu beigetragen haben, englische Leser mit der Philosophie Bergsons vertraut zu machen, ebenso wie dem Vortrage Mr. Willdon Carrs über »Bergsons Erkenntnistheorie«, den er im Dezember 1908 in der Aristotelischen Gesellschaft hielt.. In der Sprache der platonischen Theologie würde es heißen: Nicht der unwandelbare Eine, der Absolute, sondern sein belebender Gedanke – der Sohn, der schöpferische Logos – ist zugleich der Prüfstein der Wahrheit, das Ziel der Erkenntnis, die höchste Wirklichkeit, die der Vitalismus als dem menschlichen Bewußtsein zugänglich hinstellt.

»Alle Dinge«, sagt Heraklit, »sind in beständigem Flusse.« »Alles entsteht durch den Streit.« »Die Wirklichkeit ist ein Zustand der Unruhe [Die Verfasserin gibt als Beleg: Heracleitus frgm. 46, 84 Bywater = 8, 125 Diels, wo sich die angezogenen Sätze nur teilweise finden. Der erste meint die vielzitierte Formel πάντα ῥεῖ, die jedoch in dieser Fassung für Heraklit nicht bezeugt ist. Am nächsten kommt Plato, Kratylos 402 A, Kap. 19: Heraklit sagt, daß alles dahingeht und nichts bleibt; vgl. dazu 439 C (Kap. 44: ὡς ἰόωτων ἁπάντων ἀεὶ καὶ ῥεόωτων) und Theaitetos 182 C (Kap. 28: κινεῖται καὶ ῥεῖ, ὥς φατε, τὰ πάωτα), ohne Namensnennung. Für den letzten Spruch gibt Diels: Auch der Gerstentrank zersetzt sich, wenn man ihn nicht umrührt.]«. Dies ist auch die Ansicht Bergsons und seiner Schüler, die in Übereinstimmung mit den Verfechtern der Naturwissenschaft das Wirkliche mehr als dynamisch denn als statisch, mehr als sich vollendend denn als vollendet betrachten und uns auffordern, in der Zeit – der Bewegung, dem Flusse der Dinge – die eigentliche Materie der Wirklichkeit zu sehen.

»Aus unbewegter Himmelsstille
Sah sie die Zeit wie einen Puls
Durch alle Welten jagen«,

sagte Rosetti von dem seligen Ritterfräulein The Blessed Damozel, Gedicht von Dante Gabriel Rossetti, Str. 10 der ersten Ausgabe.. Bergson, der von einem andern Standpunkte aus sieht, weiß nichts von dem Dasein der »unbewegten Stille«, der schweigenden Ewigkeit, dem Ort der Ruhe; er findet überall den Puls der Zeit, den gewaltigen, endlosen Sturm des Lebens und der Liebe. Die Wirklichkeit, sagt Bergson, ist reines schöpferisches Leben – eine Definition, die jene Ideen von Vollkommenheit und Endgültigkeit ausschließt, die in der idealistischen Konzeption des reinen Seins als des absoluten und unwandelbaren Einen enthalten sind. Dies Leben, wie er es sieht, wird vielmehr von innen genährt als von außen aufrecht erhalten. Es entwickelt sich durch seine eigene ihm innewohnende und spontane Schöpferkraft. Die so auf den Gattungstypus bedachte Natur des Biologen, der außerhalb seines Weltalls wohnende Gott des Theologen, der alle Dinge in seiner hohlen Hand hält, diese sind verschwunden, und an ihrer Stelle haben wir ein Weltall, das von freien Wesen wimmelt, von denen jedes selbst-schöpferisch, in ewiger Entwicklung ohne Ziel begriffen ist.

Das erste Gefühl des Philosophen, der in dies System eingeweiht wird, ist das des verwirrten Wanderers, der »den Wald vor Bäumen nicht sehen konnte«. Der tiefe Instinkt der menschlichen Seele, daß es eine Einheit, einen geordneten Plan im Weltall geben muß, daß die aufgereihten Perlen der Erfahrung doch einen Rosenkranz bilden, wenn auch einen, den wir nicht abbeten können, dieser Instinkt wird hier entschlossen zurückgewiesen. Schöpfung, Tätigkeit, Bewegung, dies, sagt der Vitalismus, vielmehr als irgendeine nur scheinbare Gesetzlichkeit und Ordnung, irgendeine Ganzheit, ist die wesentliche Eigenschaft der Wirklichkeit – dies ist die Wirklichkeit; und das Leben ist ein ewiges Werden, ein unaufhörliches Wechselspiel. Indem er kühn den hermetischen Grundsatz der Analogie Quod inferius sicut quod superius (das Untere ist wie das Obere) S. unten Teil I Kap. VII., den Okkultisten und mystische Denker immer geliebt haben, sich aneignet, fordert er uns auf, in dem ununterbrochenen Wechsel, der der Zustand unseres normalen Bewußtseins ist, ein wahres Bild, einen Mikrokosmos des lebendigen Universums zu erblicken, als dessen Teil sich das Bewußtsein entwickelt hat.

Wenn wir diese Theorie annehmen, so müssen wir dem Leben in seiner Fülle – dem ungeheuren, vielstufigen, vielfarbigen Leben, den unzähligen Welten, die dem Rhythmus unserer Sinne entgehen; nicht nur dem kleinen Fleckchen physischen Lebens, den jene Sinne wahrnehmen – eine Göttlichkeit, eine Größe und Herrlichkeit seiner Bestimmung beimessen, die weit über alles hinausgeht, was die, welche an einer physikalisch-chemischen Theorie festhalten, ihm zuerkennen. Wir müssen in ihm, wie die Mystiker es getan haben, »den Herzschlag Gottes« wahrnehmen und mit Heraklit sagen, daß es »nur eine Weisheit gibt, die Vernunft zu verstehen, die alle Dinge durch das All hindurchsteuert Herakleitos 41 Diels.«.

Vereinigung mit der Wirklichkeit – Erfassen derselben – würde also nach dieser Hypothese Vereinigung mit dem Leben in seiner höchsten Intensität, seiner am meisten dynamischen Erscheinungsform bedeuten. Es würde bedeuten, daß man sich in Harmonie zu setzen sucht mit dem Logos, den jener selbe weitblickende Philosoph als »des Menschen treuesten Gefährten Ebenda 72 (»Mit dem Worte, mit dem sie doch am meisten beständig zu verkehren haben, entzweien sie sich.« Diels).« bezeichnet. Das bedeutet also, sagt der Mystiker, Vereinigung mit einem persönlichen und bewußten geistigen Sein, das dieser Welt innewohnt – eine Form, eine Seite der Vereinigung, wie ich sie immer gesucht habe, da dies ja zweifellos die höchste Manifestation des Lebens ist. Schönheit, Güte, Majestät, Liebe, all diese Zauberworte, die die Seele erfreuen, sind nur von Menschen gemachte Namen für einzelne Erscheinungsweisen oder Eigenschaften, die menschliche Intuition als charakteristisch an diesem intensiven und ewigen Leben, in dem das Leben der Menschen beschlossen ist, herausgreift.

Wie können wir denn dies Leben erkennen, diese schöpferische und ursprüngliche Seele der Dinge, in die wir eingetaucht sind, in der wir wie in einem Strom dahingetrieben werden? Nicht durch irgendwelche intellektuelle Mittel, sagt Bergson geradeheraus. Der Geist, der da denkt, er kenne die Wirklichkeit, weil er sich eine Konstruktion der Wirklichkeit gemacht hat, läßt sich nur von seinen eigenen Kategorien täuschen. Der Intellekt ist eine spezialisierte Seite des Selbst, eine Form des Bewußtseins, die jedoch zu ganz andern Zwecken entwickelt ist als zu denen metaphysischer Spekulation. Das Leben hat ihn im Interesse des Lebens selbst hervorgebracht, hat ihn fähig gemacht, sich mit konkreten Dingen zu befassen. Mit diesen ist er vertraut. Darüber hinaus wird er verwirrt und seiner selbst unsicher, denn hier erfüllt er nicht mehr seine natürliche Aufgabe, die darin besteht, dem Leben zu dienen, nicht es zu erkennen. Im Interesse der Erfahrung und um zu Begriffen zu gelangen, zerlegt der Intellekt die Erfahrung, die in Wirklichkeit ein fortlaufender Strom, eine unaufhörliche Folge von Wechsel und Antwort ohne gesonderte Teile ist, in rein konventionelle »Momente«, »Perioden« oder psychische »Zustände«. Er hebt aus dem Strom der Wirklichkeit einzelne Teilchen heraus, die bedeutungsvoll für das menschliche Leben sind, die ihn »interessieren«, seine Aufmerksamkeit fesseln. Aus diesen baut er eine mechanische Welt auf, in der er wohnt und die als ganz wirklich erscheint, solange sie nicht der Kritik unterworfen wird. Er verrichtet, wie Bergson in einem sehr passenden und bereits berühmt gewordenen Gleichnisse sagt, die Arbeit eines Kinematographen; macht Momentaufnahmen von etwas, was in beständiger Bewegung ist, und vermittels dieser sukzessiven statischen Darstellungen – von denen keine wirklich ist, da das Leben, das photographiert wird, nie stillsteht – schafft er ein Bild des Lebens, der Bewegung. Dies Bild, diese ziemlich sprunghafte Darstellung göttlicher Harmonie, in der unzählige Momente fehlen, ist für praktische Zwecke sehr nützlich, doch sie ist nicht Wirklichkeit, weil sie nicht lebendig ist Über die vollständige und ungeteilte Art unserer Erfahrung in ihrer »Ganzheit« und das traurige Stückwerk, das unser analysierendes Gehirn daraus macht, wenn es anfängt, sie zu zerstückeln, macht Bradley ein paar sehr wertvolle Bemerkungen in seinen Oxford Lectures on Poetry p. 15..

Diese »wirkliche Welt« ist also das Resultat unserer Auswahl, und die Art dieser Auswahl liegt ganz außerhalb unserer Kontrolle. Unser kinematographischer Apparat hat sein bestimmtes Tempo, macht seine Aufnahmen in bestimmten Zwischenräumen. Was für dieses Tempo zu schnell geht, wird entweder nicht mit aufgenommen oder fließt mit den vorhergehenden und folgenden Bewegungen in eins zusammen. So verfahren wir z. B. mit der Flut von Schwingungen, die wir in »Schall« und »Licht« umwandeln. Würde ihr Tempo sich verlangsamen oder beschleunigen, ihr Rhythmus sich verändern, so würden wir sogleich eine verschiedene Reihe von Momentaufnahmen machen und als Resultat ein ganz anderes Bild von der Welt gewinnen. Dank dem besonderen Zeitmaß, auf das die normale menschliche Maschine eingestellt ist, verzeichnet sie für uns das, was wir in unserer Einfalt »die wirkliche Welt« nennen. Ein wenig mehr Bescheidenheit oder Einsicht könnte uns lehren, daß wir lieber sagen sollten: unsere wirkliche Welt.

Setzen wir den Fall, das menschliche Bewußtsein wandelte sich oder steigerte seinen Rhythmus, wer weiß, was für ein Bild von was für einer Welt wir dann haben würden. Daher darf man die Behauptung der Mystiker, daß in der Ekstase der Zustand ihres Bewußtseins sich verändere und eine tiefere Wirklichkeit sich ihnen offenbare, die Menschenzungen nicht schildern können, nicht als unsinnig zurückweisen. Laßt uns denn jenen Intellekt, jenes Oberflächenbewußtsein, das der Mensch als Organ bloßer Nützlichkeit und zu keinem andern Zweck entwickelt hat und das daher nur auf dem Gebiete der »gegebenen Sinnenwelt« kompetent ist, nicht verwechseln mit diesem geheimnisvollen Etwas in uns, das, wenn auch nicht deutlich vernehmbar, doch nie in uns zum Schweigen kommt und das uns von dem Dasein einer höheren Wahrheit zeugt. Diese Wahrheit, deren Nähe wir fühlen und nach der wir uns sehnen, ist das Leben. Wir sind die ganze Zeit mitten darin »wie der Fisch in der See, wie der Vogel in der Luft«, wie die heilige Mechthild von Hackborn vor vielen Jahrhunderten sagte Liber Specialis Gratiae II, 26..

Laßt uns denn diesem göttlichen und unendlichen Leben, diesem geheimnisvollen kosmischen Wirken, in das wir eingetaucht und aus dem wir geboren sind, uns hingeben! Laßt uns ihm vertrauen! Laßt uns ganz von ihm überfluten! Laßt uns, der beständigen Mahnung der Mystiker folgend, die Fesseln der Sinne, die Hemmungen der Begierde abwerfen und, uns eins mit dem All fühlend, zur Freiheit aufsteigen, zu dem spontanen, schöpferischen, künstlerischen Leben, das, jedem von uns innewohnend, unser Anteil am Leben des Universums ist. Wir sind selbst vital, freie Zentren der Lebenskraft, wenn wir uns nur dessen bewußt werden. Wir können auf höhere Daseinsebenen, zu größerer Wirklichkeit, zu wahrerer Selbsterfüllung gelangen, wenn wir nur wollen. Sind wir auch, wie Platon sagte, gleich einer Auster in ihrer Schale, so können wir doch diese Schale den lebendigen Wassern draußen öffnen und aus der unsterblichen Lebensfülle schöpfen. Nur so – durch Berührung mit dem Wirklichen – werden wir die Wirklichkeit erkennen. Cor ad cor loquitur.

Die indischen Mystiker verkünden im wesentlichen dieselbe Wahrheit, wenn sie sagen, daß man der Täuschung der Endlichkeit nur entflieht, wenn man in das wahre Leben des Universums eintaucht und sein Ich aufgibt. Ebenso nahten die Eingeweihten des Dionysos sich der Gottheit durch ein freiwilliges Sichaufgeben in einem Zustande, den Platon »den rettenden Wahnsinn der Ekstase« nennt [Vgl. Phaidros, Kap. 22, 244 f.]. So versichern auch ihre christlichen Brüder, daß »Selbstaufgabe« der einzige Weg zum Heil ist, daß wir sterben müssen, um zu leben, verlieren, um zu finden; daß Erkennen Sein einschließt, daß das Geheimnis ihrer Methode, die sie immer geübt haben, nur besteht in demütigem und liebendem Einswerden – einer Synthese von Leidenschaft und Selbstverleugnung mit jenem göttlichen und ungeteilten Leben, jenem größeren Bewußtsein, in dem die Seele gegründet ist, und von dem sie glauben, daß es an das göttliche Bewußtsein grenzt. In ihren Stunden der Kontemplation löschen sie bewußt alle falschen Bilder des Intellekts in sich aus und kümmern sich nicht um den Kinematographen der Sinne. Nur so sind sie imstande, sich über die rein verstandesmäßigen Stufen des Bewußtseins zu erheben und jene Wirklichkeit zu schauen, von der es kein Bild gibt.

»Zu der Stätte der Weisen pilgern«, sagt Dschelal ed Din, »heißt dem Feuer der Trennung entfliehen«. Das ist das Geheimnis der Mystiker in nuce. »Wenn ich ledig stehe in dem Willen Gottes und ledig stehe des Willens Gottes und aller seiner Werke und Gottes selbst,« ruft Eckehart mit seiner gewohnten Gewalt der Sprache, »dann bin ich ob allen Kreaturen und bin weder Gott noch Kreatur, sondern ich bin, was ich war und was ich bleiben werde nun und immerdar Meister Eckehart, Predigt LXXXVII (S. 284, 14-18 Pfeiffer; Büttner I, S. 176; Lehmann S. 183).«. Das heißt, er gelangt durch dieses Entfliehen aus der Enge des Selbst – nicht zur Identität mit Gott –, dies wäre nur auf pantheistischer Basis denkbar –, sondern zur Identität mit seinem eigenen wahren Leben und dadurch mit dem Leben eines wirklichen und lebendigen Alls; symbolisch gesprochen, mit »dem Gedanken des göttlichen Geistes«, wodurch eine Vereinigung mit diesem Geiste im Wesen oder Grund der Seele möglich wird.

Die erste große Botschaft dieser vitalistischen Philosophie, dieses grandiosen Traumes von Zeit und Bewegung, ist also: Höre auf, dich mit deinem Verstande zu identifizieren; eine Grundlehre, die niemand, der sich dem Studium der Mystik hingeben will, mißachten darf. Gewahre wenigstens, wenn du es nicht erkennen kannst, das größere, wahre Selbst: das freie, schöpferische Selbst, das dein Leben ausmacht, als unterschieden von dem Stückchen Bewußtsein, das sein Diener ist.

Wie soll ich denn, so fragt das kleine bewußt suchende Ich des normalen Menschen, dies mein größeres Selbst und das freie, ewige, geistige Leben, das es lebt, gewahren?

Hier ruft die Philosophie, indem sie aus dem hermetisch abgeschlossenen Abteil, in dem die Metaphysik so lange zurückgezogen gelebt hat, hervorkommt, die Psychologie zum Zeugen und sagt uns, daß die beste Möglichkeit für den normalen Menschen, sich gleichsam eine schnelle und übersichtliche Kenntnis dieses Wirklichen zu verschaffen, in der Intuition, in einem kühnen Vertrauen auf den Kontakt zwischen der Totalität des Selbst und der äußeren Welt liegt – vielleicht auch in jenen merkwürdigen Zuständen der Hellsichtigkeit, die, eine Begleiterscheinung großer Gemütsbewegung, sich nicht analysieren lassen. In solchen großen Augenblicken kommt die Wirklichkeit, die im Alltagsleben durch die aufreibenden Tätigkeiten unseres Oberflächenbewußtseins erstickt wird, ans Licht, und in ihrem Glanze erkennen wir uns und sehen, was wir sind. »Wir sind nicht reine Verstandeswesen …, um unser begriffliches und logisches Denken webt sich ein vages, nebelhaftes Etwas, die Substanz, aus der der leuchtende Zellenkern, den wir Intellekt nennen, gebildet ist Willdon Carr, a. a. O..« In dieser Atmosphäre, diesem diffusen Empfindungskreise, sollen wir das Medium für die Verbindung des Menschen mit dem All-Leben finden.

Von solchen einseitigen, unklaren und fragmentarischen Wahrnehmungen des Wirklichen, solchen »kurzen Ausflügen ins Absolute«, kann man jedoch nicht erwarten, daß sie des Menschen Hunger nach Wahrheit stillen. Er will mehr als einen flüchtigen Schimmer davon erhaschen, er will darin leben. Daher kann er sich nicht mit weniger zufrieden geben als mit einer vollständigen und dauernden Anpassung seines Wesens an das größere Leben der Wirklichkeit. Dies allein kann, wie Rudolf Eucken so überzeugend nachgewiesen hat, die Disharmonie zwischen dem Ich und der Welt lösen und dem menschlichen Leben Bedeutung und Wert verleihen »Von seiner besonderen Art scheint der Mensch sich nirgends ablösen zu können, und zugleich verfällt sein Leben einer unerträglichen Leere, wenn es sich gänzlich im eigenen Bereiche einspinnt. Die Lage, die daraus erwächst, ist in keiner andern Weise zu überwinden als dadurch, daß im Bilde des Menschen selbst sich eingreifende Wandlungen vollziehen, daß in ihm eine Scheidung erfolgt zwischen einer engeren und einer weiteren Art, zwischen einem bloß- und engmenschlichen Leben, das nie sich selbst überschreiten kann, und einem mehralsmenschlichen, das ihn unmittelbar in eine Weite und Wahrheit des Alls versetzt. Auf der Möglichkeit einer solchen inneren Erhöhung des Menschen beruht alle Hoffnung, unserm Leben einen Sinn und Wert zu bewahren.« Der Sinn und Wert des Lebens S. 81 f..

Die Möglichkeit dieser Anpassung – der Vereinigung zwischen dem Leben des Menschen und jenem »selbständigen Geistesleben«, das die Materie der Wirklichkeit ist – ist sowohl das Thema der Mystik wie das des religiösen Vitalismus Euckens oder, wie er es lieber nennt, seiner aktivistischen Philosophie Das Wesentliche von Prof. Euckens Lehre ist in allen seinen Hauptwerken enthalten; doch findet man eine bequeme Zusammenfassung in »Der Sinn und Wert des Lebens.« Sehr viel verdanke ich auch Mr. Boyce Gibsons vortrefflicher Schrift »Rudolph Eucken's Philosophy«.. Die Wirklichkeit, sagt Eucken, ist eine selbständige Geisteswelt, die nicht durch die Erscheinungswelt der Sinne bedingt ist. Sie zu erkennen und in ihr zu leben ist des Menschen wahre Bestimmung. Sein Berührungspunkt mit ihr ist die Persönlichkeit, der innere Quell seines Seins, sein Herz, nicht sein Kopf. Der Mensch ist wirklich und im tiefsten Sinne lebendig kraft dieses freien, persönlichen Lebensprinzips in ihm; aber er ist geblendet und gefesselt durch die Bande, die sein Oberflächenbewußtsein mit der Sinnenwelt verbinden. Das Streben nach Wirklichkeit muß ein Ringen des Menschen sein, über die Sinnenwelt hinauszugelangen, ihrer Knechtschaft zu entfliehen. Er muß ihr entsagen und zu einer höheren Bewußtseinsstufe »wiedergeboren« werden, indem er das Zentrum seines Interesses von der natürlichen auf die geistige Ebene verlegt. In dem Maße, wie er dies tut, wird er zum wirklichen Leben gelangen. Der erste Schritt, der Bruch mit der Welt, die Weigerung, sein Leben in der Gemeinschaft mit seinem eigenen Kinematographenbilde zu verbringen, ist wesentlich, wenn er zur Freiheit des Unendlichen gelangen will. Unser Leben, sagt Eucken, bewegt sich nicht auf einer einzigen Ebene, sondern auf zwei Ebenen zugleich – der natürlichen und der geistigen. Der Schlüssel zu dem Rätsel Mensch liegt in der Tatsache, daß »verschiedene Stufen der Wirklichkeit in ihm zusammentreffen Der Sinn und Wert des Lebens S. 121.«. Alle seine Schwierigkeiten und Triumphe gründen sich darauf. Die ganze Frage für ihn ist, welche Welt die zentrale für ihn sein soll – das wirkliche, wesentliche, allumfassende Leben, das wir Geist nennen, oder das niedere Leben der Sinne? Soll das äußere Sein, das sichtbar an der Oberfläche liegt, oder das »Wesen«, die darunter verborgene Wahrheit, seine Heimat sein? Soll er der Sklave seiner Sinne bleiben, mit ihren Sitten und Gewohnheiten, oder sich zu einer Bewußtseinsebene heroischen Strebens erheben, wo er – am Geistesleben teilhabend – die Wirklichkeit erkennt, da er selbst wirklich ist?

Die Mystiker haben durchweg diese Frage in demselben Sinne beantwortet, und Jahrhunderte vor der Geburt der aktivistischen Philosophie haben sie in ihrer eigenen Erfahrung den Beweis gefunden, daß ihre Voraussetzungen richtig sind. Diese philosophische Konstruktion, diese Anwendung der vitalistischen Idee auf die übersinnliche Welt stimmt tatsächlich viel genauer zu den beobachteten Tatsachen der Mystik als zu denen des gewöhnlichen geistigen Lebens des Menschen.

1. Der Bruch mit der Sinnenwelt; 2. die »neue« Geburt und Entwicklung des geistigen Bewußtseins auf höheren Stufen, die in Euckens Augen ein wesentlicher Faktor zur Erlangung der Wirklichkeit ist; 3. die immer engere und tiefere Verbundenheit mit der Fülle des göttlichen Lebens, die bewußte Teilnahme am Unendlichen und Ewigen und aktive Vereinigung mit ihm: Diese drei Imperative der Euckenschen Methode geben, wie wir später sehen werden, eine genaue Beschreibung des psychologischen Prozesses, den die Mystiker durchmachen. Wenn also Eucken recht hat, indem er diesen Aufstieg zu einer übersinnlichen Welt als die höchste Bestimmung der Menschheit bezeichnet, so ist die Mystik die höchste Stufe im Aufstieg des Menschen zur Wirklichkeit, die regelrechte Vollendung des Weltplanes.

Wir sehen, wie dieses selbständige Geistesleben, dieser Genuß des Absoluten, den Mystikern in einer Fülle zuteil wird, die andere nie erreichen. Sie sind die heldenhaften Vorbilder des Lebens im Geiste, wie die großen Künstler, die großen Entdecker die heldenhaften Vorbilder des Lebens in der Schönheit und in der Wahrheit sind. Indem sie, wie alle Künstler, unmittelbar am göttlichen Leben teilnehmen, sind sie immer von einer überquellenden Lebenskraft; doch diese Lebenskraft äußert sich in ungewohnten Formen, die für gewöhnliche Menschen schwer zu verstehen sind. Wenn wir ein Bild sehen, ein Gedicht lesen, ein Musikstück hören, so nehmen wir es als einen Ausdruck des Lebens, als ein Zeugnis der Kraft, die es hervorbrachte. Allein die tiefen Kontemplationen des großen Mystikers, seine visionären Rekonstruktionen der Wirklichkeit und die Bruchstücke, die er davon mitteilen kann, erscheinen uns nicht, wie sie es doch sind, als den künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen anderer großer Männer gleichwertig oder öfter noch an Wert überlegen.

Die Mystik bietet uns die mit den Anfängen der Kultur beginnende Geschichte eines Geschlechts von Abenteurern, die den Prozeß einer bewußten und aktiven Rückkehr zum göttlichen Quell der Dinge bis zum Ende durchgeführt haben, die, sich ganz an das Alleben hingebend, ein intensiveres Leben gelebt haben, als es andere Menschen je erfahren können. Sie sind über die »Sinnenwelt« hinausgelangt und haben auf höheren Ebenen ein Leben im Geiste geführt. Daher sind sie die Urbilder dessen, was unser latentes geistiges Bewußtsein, das sich in dem »Hunger nach dem Absoluten« kundgibt, wenn wir es entwickeln, für uns bedeuten kann, und so haben sie für die Menschheit einen ganz einzigen Wert.

Ebenso sind es die Mystiker, die die Methode der Intuition, die Erkenntnis durch Vereinigung, deren Vorhandensein die Philosophie endlich hat zugeben müssen, zur Vollendung gebracht haben. Aber während der Metaphysiker im besten Falle einen flüchtigen Blick auf das »unwandelbare, doch unfaßbare« Wesen wirft, das er so oft genau bestimmt, doch nie entdeckt hat, während dem Künstler eine kurze, blendende Vision der Schönheit, die Wahrheit ist, zuteil wird, schauen sie vertrauensvoll dem Geliebten ins Auge.

Die Mystiker erklären andrerseits, daß sie die göttlich wirkliche, freie und aktive »Welt des Werdens« kennen, die die vitalistische Philosophie uns lehrt. Sie sind sich eben auf Grund ihrer Naturanlage der göttlichen Immanenz und ihres unablässigen Wirkens deutlich bewußt; sie sind in Gott, und Gott ist in ihnen oder, wie sie in ihrer einfachen theologischen Art sagen: »Der Geist Gottes ist in euch«. Allein sie sind mit dieser Feststellung und Gewißheit nicht zufrieden, und in diesem Punkt trennen sie sich von den Vitalisten. Dies ist für sie erst die halbe Wahrheit. Die Wirklichkeit in dieser Weise erkennen, in ihrem dynamischen Aspekt erkennen, in »das große Leben des Alls« eingehen, das heißt allerdings, sie vom Standpunkte des Menschen vollkommen erkennen – das menschliche Bewußtsein aus der Enge des Selbst befreien –, doch es heißt nicht, sie vom Standpunkte Gottes aus erkennen. Es gibt höhere Daseinsebenen, Länder, die dem Verstand dunkel sind, Tiefen, in die nur die größten Kontemplativen geblickt haben. Diese sind aufgetreten und haben mit Ruysbroeck erklärt, daß »Gott nach den Personen ewiges Wirken, aber nach seinem Wesen ewige Ruhe ist Von sieben Stufen der Minne Kap. XIV (Werken IV, 54, 7 f.).«.

Das volle geistige Bewußtsein des wahren Mystikers ist nicht nach einer, sondern nach zwei scheinbar entgegengesetzten, doch in Wirklichkeit sich ergänzenden Richtungen entwickelt.

»… denn ich sah
Des Himmels beide Höfe sichtlich prangen Dante, Paradies XXX, 95 (übers. von Otto Gildemeister).

Einerseits ist er sich dieser aktiven Welt des Werdens, dieses tiefen und ursprünglichen Lebens des Alls, aus dem sein eigenes Leben entsprungen ist, intensiv bewußt und weiß sich eins mit ihm. Daher hat für ihn, wenn er sich auch für immer vom Joch der Sinne befreit hat, jede Offenbarung des Lebens einen sakramentalen Sinn –, er sieht in ihr eine Lieblichkeit, ein Wunder, eine erhöhte Bedeutung, die andern Menschen verborgen ist. Er nennt mit dem hl. Franziskus Sonne, Mond, Wasser und Feuer seine Brüder und Schwestern oder empfängt mit Blake die Botschaft der Bäume. Weil er sich in interesseloser Liebe geübt, weil nicht die ausschließliche Wirkung des »Willens zum Leben« die Art, wie er die Dinge sieht, bestimmt, hat er die Fähigkeit erlangt, mit der lebendigen Wirklichkeit des Alls in Gemeinschaft zu treten und kann daher in Wahrheit sagen, daß er »Gott in allem und alles in Gott« findet. So sah Lady Juliane, deren geübtes geistiges Sehvermögen über die Grenzen menschlicher Wahrnehmung hinausreichte und im Einklang stand mit einer größeren Welt, deren Rhythmen gewöhnliche Sterbliche nicht aufnehmen können, das allumfassende göttliche Leben, das Gewebe der Wirklichkeit. »Denn wie der Leib in das Kleid gehüllt ist«, sagt sie, »und das Fleisch in die Haut, und die Knochen in das Fleisch und das Herz in das Ganze, so sind wir, Seele und Leib, in die Güte Gottes gehüllt. Ja, und dies Gewand ist dauerhafter, denn all jene Hüllen nutzen sich ab und vergehen, doch seine Güte bleibt immer ganz Revelations of Divine Love VI..« Viele mystische Dichter und pantheistische Mystiker gelangen nie über diesen Grad der Hellsichtigkeit hinaus.

Andrerseits erreicht das volle mystische Bewußtsein das, was ich für seine wirklich charakteristische Eigenschaft halte. Es entwickelt die Gabe, das absolute, reine Sein, das schlechtweg Transzendente zu erfassen, oder, wie der Mystiker sagen würde, er kann zur passiven Vereinigung mit Gott gelangen. Diese allseitige Ausdehnung des Bewußtseins, mit seinem doppelten Vermögen, durch unmittelbare Vereinigung sowohl den zeitlichen wie den ewigen, den immanenten wie den transzendenten Aspekt der Wirklichkeit zu erkennen – das lebendige, strömende, wechselnde Leben des Alls und das wandellose, unbedingte Leben des Einen – ist das besondere Kennzeichen, das ultimo sigillo des großen Mystikers und darf beim Studium seines Lebens und Werkes nie außer acht gelassen werden.

Wie im gewöhnlichen Menschen zwei Stufen der Wirklichkeit zusammentreffen, die Sinnenwelt und die Welt des Geisteslebens, so begegnen sich wiederum im Mystiker, der über die gewöhnlichen Menschen um Haupteslänge hinausragt, zwei verschiedene Ordnungen. Oder man könnte auch sagen, er ist fähig, auf zwei verschiedene Arten die Wirklichkeit wahrzunehmen und auf sie zu reagieren. Einerseits kennt er die ewige Welt reinen Seins, den »stillen Ozean« der Gottheit, die ihm im Zustande seiner Verzückung unzweifelhaft gegenwärtig ist, und ruht in ihr. Andrerseits kennt er die stürmische See der lebendigen Welt des Werdens, die der Ausdruck ihres Willens ist, und wirkt in ihr. »Erleuchtete Menschen«, sagt Ruysbroeck, »werden über die Vernunft emporgehoben in die nackte Vision. Dort wohnt die göttliche Einheit und ruft sie. Und nun durchdringt ihr freigewordener und gereinigter Blick das Tun aller erschaffenen Dinge und verfolgt es, um es bis in seine letzte Tiefe zu ergründen Ruysbroeck, Buch der höchsten Wahrheit (Samuel), Kap. VIII (Werken VI, 255, in freier, kurzer Zusammenfassung).«.

Obwohl, seit der Mensch zu denken begann, die Philosophie sich vergeblich bemüht hat, den Gegensatz von Sein und Werden, von Ewigkeit und Zeit zu lösen, so hat sie doch merkwürdigerweise übersehen, daß ein bestimmter Persönlichkeitstypus die lebendige Erfahrung an Stelle ihrer theoretischen Mutmaßungen gesetzt und die Lösung dieses Problems vollbracht hat, nicht auf dem unsichern Wege der Spekulation, sondern durch unmittelbare Wahrnehmung. Dem großen Mystiker stellt sich das »Problem des Absoluten« von selbst durchweg in der Sprache des Lebens, nicht in der Sprache der Dialektik. Er löst es in Formen des Lebens, durch Umwandlung oder Erweiterung des Bewußtseins, das, dank seinem besonderen Genius, ihn befähigt, jenes zwiefache Bild der Wirklichkeit zu erfassen, das dem Wahrnehmungsvermögen anderer Menschen entgeht. Es ist erstaunlich, daß diese Erfahrungstatsache, eine Tatsache von zentraler Bedeutung für das Verständnis des mystischen Typus, von denen, die über Mystik geschrieben haben, bisher gar nicht beachtet worden ist. In dem Maße, wie wir in unserer Untersuchung fortschreiten, wird die Wichtigkeit dieser Tatsache, ihre weitreichenden Folgen auf dem Gebiete der Psychologie, der Theologie, des praktischen Handelns mehr und mehr offenbar werden. Sie gibt uns den Grund, warum die Mystiker die Konstruktion der Vitalisten nicht als ausreichende Erklärung der Natur der Wirklichkeit hinnehmen können. »Was auch die Grenzen euerer Erkenntnis sein mögen, wir wissen,« so sagen sie, »daß die Welt noch ein anderes Antlitz hat als dieses: das Antlitz, das dem Geiste Gottes gegenwärtig ist.« »Ruhe Seinem Wesen nach, Tätigkeit Seiner Natur nach; vollkommene Stille, vollkommene Fruchtbarkeit Ruysbroeck, Von den zwölf Beginen, Kap XII [nach dem Englischen; im Original ist eine genau entsprechende Stelle nicht gefunden].«, sagt wiederum Ruysbroeck, »dies ist der zwiefache Charakter des Absoluten.« Was für uns Handeln ist, sagen sie, ist für Ihn Ruhe, denn »eben Sein Friede und Seine Stille kommen aus der überschäumenden Fülle Seines unendlichen Lebens Von Hügel, The Mystical Element of Religion II, p. 132 [vgl. Goethe:
Und alles Drängen, alles Ringen,
Ist ewige Ruh' in Gott dem Herrn].
«. Was für uns Vielheit ist, ist für den höchsten Erkennenden Einheit. Unsere Welt des Werdens ruht am Busen jenes reinen Seins, das von jeher das letzte Ziel des menschlichen Strebens gewesen ist. Der »Fluß, in dem wir nicht zweimal baden können [Herakleitos 91 Diels: »Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen.« Auch bei Plato, Kratylos 402 A, vgl. S. 38. Danach Goethe, Dauer im Wechsel:
Ach, und in demselben Flusse
Schwimmst du nicht zum zweitenmal.]
«, ist die stürmische Lebensflut, die jenem göttlichen Ozean zuströmt. »Wie selig«, sagt die Stimme des Ewigen zur hl. Katharina von Siena, »ist die Seele, die es wirklich verstanden hat, aus dem stürmischen Meere in mich, den stillen Ozean, einzumünden, und in diesem Meer, das ich selbst bin, den Krug ihres Herzens zu füllen Die hl. Katharina von Siena, Dialogo C. 89.

Die Entwicklung des mystischen Bewußtseins führt also den Menschen zu diesem transzendentalen Standpunkt: ihr Geheimnis ist diese Einheit in der Mannigfaltigkeit, diese Stille im Kampf. Hierin stimmen sie vielmehr mit Heraklit als mit seinen modernen Interpreten überein. Dieser mystischste aller Philosophen erkannte eine verborgene Einheit hinter dem Kampf, über alle erschaffenen Gegensätze hinaus, und im mystischen Geiste lehrte er seine Schüler: »Nicht ich, sondern der Logos lehrt euch die Weisheit, daß alle Dinge Eins sind Herakleitos 50 Diels..« Dies ist das Geheimnis, auf das die dürre idealistische Konzeption des reinen Seins schüchtern hinzudeuten suchte und das der Vitalismus durch seine der Wirklichkeit näher bleibende Konzeption vom Werden unnötigerweise zu beseitigen versucht hat. Wir werden das herrliche Gewand sehen, in das die christlichen Mystiker es hüllen, wenn wir an die Betrachtung der Landkarte ihrer theologischen Forschungsreisen gehen.

Wenn man einwendet – und dieser Einwand ist von Vertretern jeder philosophischen Schule gemacht worden –, daß die Existenz des »Absoluten« der Idealisten und der Mystiker gänzlich unvereinbar sei mit dem tief lebendigen, strebenden Geistesleben, das die Wirklichkeit der Vitalisten ist, so erwidere ich, daß diese beiden Konzeptionen im Grunde nur Symbole von Wirklichkeiten sind, die der menschliche Geist nie erreichen kann, und daß die Vorstellung von Ruhe, Einheit und Frieden von jeher der Menschheit beste Übersetzung ihrer höchsten intuitiven Anschauung Gottes gewesen ist und noch ist. »›Mitten in das Schweigen wurde ein verborgenes Wort in mich hinein gesprochen.‹ Wo ist das Schweigen, und wo ist der Ort, wo dies Wort hineingesprochen wird? Es ist in dem Reinsten, was die Seele zu bieten vermag, in ihrem edelsten Teil, im Grunde, ja im Wesen der Seele Meister Eckehart, Pred. I (S. 4, 21-26 Pfeiffer; Büttner I, S. 34; Lehmann S. 138)..« So Eckehart, und hier bestätigt er nur eine allgemeine Überlieferung. Die Mystiker haben immer behauptet, daß »Schweige, schweige und erkenne« die Weisung ist, nach der der Mensch am reinsten und unmittelbarsten die Wirklichkeit begreift: daß Stille in gewisser Weise die wahrste und tiefste Tätigkeit ist; und als das Christentum seine Philosophie formulierte, machte es sich sogleich diese Paradoxie zu eigen.

»Was also ist mein Gott?« fragt der hl. Augustinus und gibt eine Antwort, in der sich die Vision des Mystikers und das Genie des Philosophen vereinten, um von dem flammenden Herzen der Wirklichkeit, von der großen Paradoxie, daß der allumfassende, allüberragende Eine zugleich so vertraut und so erhaben ist, wenigstens eine Ahnung zu geben. »Höchster, Bester, Mächtigster du, Allermächtigster, Allerbarmer und Allgerechter, Verborgenster und Allgegenwärtiger, Schönheitsherrlicher, Kraftgewaltiger. Du stehest fest und bist unfaßbar, unwandelbar bist du und wandelst alles. Nie neu, nie alt, erneuerst du alles … Ständig wirkend ruhest du ständig, sammelst immer und hast nie Bedarf. Träger, Erfüller, Beschützer du! Schöpfer, Erhalter, Vollender! Der du suchest, wo nichts dir fehlt … Aber was sagt das alles von dir, mein Gott, mein Leben, meine heilig süße Wonne? Und was vermag ein Mensch zu sagen, wenn er von dir redet? Conf. I, 4 (Hefele S. 3). Man vergleiche die auffallend ähnliche sufische Definition der Natur Gottes, wie sie in Palmers Oriental Mysticism pp. 22, 23 gegeben wird. »Das Erste und das Letzte, das Ende und die Grenze aller Dinge, unvergleichlich und unwandelbar, immer nahe, doch immer fern« usw.«

Man hat gesagt: »was wir auch tun mögen, unser Hunger nach dem Absoluten wird nie aufhören«. Der Hunger, dies eingeborene Verlangen nach einer letzten Einheit, einem unwandelbaren Guten und die intuitive Erkenntnis desselben, wird nicht aufhören, wie herzhaft wir uns auch zu sättigen suchen an diesen modernen Systemen, die uns ein pluralistisches oder empirisches Weltall darbieten. Wenn wir nun zugeben – wie die Vitalisten es müssen –, daß allen lebenden Wesen ein Instinkt der Selbsterhaltung, eine freie, richtunggebende Kraft innewohnt, der man trauen darf und die zum Leben führt, ist es da gerecht, der menschlichen Seele solch einen Instinkt abzusprechen? Die »Entelechie« der Vitalisten, der »verborgene Steuermann« treibt die Erscheinungswelt vorwärts und aufwärts. Wie steht es mit jenem andern sichern Instinkt, der der Menschheit eingepflanzt ist und immer wieder hervorbricht, der den Geist vorwärts und aufwärts treibt, ihn ewig nach einem Ziele spornt, das er als endgültig empfindet, aber doch nicht definieren kann? Sollen wir diesem Trieb zum Absoluten, der so lebendig und unausrottbar ist wie irgendwelche andere Triebe, mißtrauen, nur weil die neue Philosophie ihn in ihrem System schwer unterbringen kann?

»Wir müssen«, sagt Platon im »Timaios«, zuerst »zwischen den beiden großen Formen des Seins einen Unterschied machen und fragen: Was ist das, was immer ist und kein Werden hat, und was ist das, was stets im Werden ist und nie ist Timaios, Kap. V (27 D).?« Ohne daß wir Platons Antwort auf diese Frage notwendig unterschreiben müssen, können wir, glaube ich, auf jeden Fall zugeben, daß die Frage an sich selbst ihren guten Sinn hat, daß sie ein dauerndes Verlangen der menschlichen Natur zum Ausdruck bringt und daß die Analogie der andern menschlichen Triebe und Instinkte uns zeigt, daß diese seine fundamentalen Bedürfnisse schon die Gewähr ihrer Befriedigung in sich tragen »Ein natürliches Verlangen«, sagt Thomas von Aquino, »kann nicht vergeblich sein«, und die neueste Philosophie kommt allmählich zu diesem mittelalterlichen Standpunkte zurück. Vgl. Summa Contra Gentiles II, 79, 4.. Der große Fehler des Vitalismus, als System betrachtet, ist der, daß er nur die eine Hälfte zu beantworten unternimmt, die Hälfte, die der absolute Idealismus überhaupt zu beantworten verschmäht.

Wir haben gesehen, daß die mystische Erfahrung, die vollständigste und weitestgehende Erfahrung, die der Mensch in bezug auf die übersinnliche Welt erreichen kann, uns erklärte, daß es zwei Aspekte, zwei Ebenen entdeckbarer Wirklichkeit gibt. Wir haben auch gesehen, daß die mystische Literatur reich ist an Andeutungen, ja, an klaren Berichten unmittelbarer Zeugen hinsichtlich dieser beiden Ebenen Vgl. Dantes Vision im 30. Gesang des Paradiso, wo er die Wirklichkeit zuerst als Strom von Licht, als den Fluß der Dinge sieht und dann, als sein Blick geläutert ist, als Vollendung, als unvergängliche Rose.. Das reine Sein, sagt Boutroux in seiner Darstellung Boehmes E. Boutroux, Le Philosophe Allemand, Jacob Boehme p. 18., hat zwei charakteristische Erscheinungsformen. Es offenbart sich uns als Kraft im Kampfe, im Widerstreit seiner eigenen Attribute. Doch es zeigt sich uns als Wirklichkeit, indem es diese Gegensätze in sich versöhnt und in Einklang bringt.

Als Kraft offenbart es sich uns also in der dynamischen Welt des Werdens, im Gewoge des Lebens, das aus Gegensätzen von Gut und Böse, Freude und Leid, Leben und Tod besteht. Hier offenbart sich freiwillig, so behauptet Boehme, der absolute Gott. Doch jede Offenbarung hat das Erscheinen ihres Gegensatzes zur Bedingung: das Licht kann nur erkannt werden durch das Dunkel, das Leben braucht zu seiner Offenbarung den Tod, die Liebe den Zorn. Wenn daher das reine Sein – das Gute, Schöne und Wahre – sich offenbaren will, so kann es dies nur, indem es zugleich seinen Gegensatz hervorruft und sich gegenüberstellt, wie in der Hegelschen Dialektik keine Idee vollkommen ist ohne ihre Verneinung. Allein der Mensch empfindet mit Recht eine solche Offenbarung durch Kampf als unvollkommen. Zwar ist die absolute Wirklichkeit, der Spieler, dessen erhabene Musik um den Preis dieser unaufhörlichen Reibung zwischen Bogen und Saiten zum Ausdruck kommt, in seiner Musik gegenwärtig. Allein am besten erkennt man ihn in jenem »Licht hinter den Dingen«, jener Einheit, wo all diese Gegensätze in Harmonie, in einer höheren Synthese aufgelöst sind und wo die Melodie nicht als schwierige Folge von Tönen, sondern als Ganzes wahrgenommen wird.

Wir haben also a) die absolute Wirklichkeit, die die griechischen Philosophen und alle nach ihnen unter der scheinbar kalten Abstraktion verstanden, die sie das reine Sein nannten: den absoluten, unbedingten und unerforschlichen Einen, in dem alles beschlossen ist. Unwandelbar, doch alles wandelnd, ist dieser Eine die undifferenzierte Gottheit Eckeharts, der himmlische Vater der herkömmlichen christlichen Theologie. Es ist der große Beitrag der Mystiker zur menschlichen Erkenntnis des Wirklichen, daß sie in diesem Absoluten, den Metaphysikern zum Trotz, einen persönlichen Gegenstand der Liebe, das Ziel ihres Strebens, das »Land der Seele« finden.

b) Allein im Gegensatz zur Lebensverneinung der orientalischen Kontemplativen, sehen sie auch in der dynamischen Seite der Dinge, in dem Wirbel der Erscheinungen, eine Wirklichkeit. Für sie ist dies ewige Werden, dies strebende, freie, sich entfaltende Leben, nicht nur ein Schattenspiel, sondern ein wesentlicher Bestandteil ihres Kosmos: eine Offenbarung oder Erscheinung Gottes, der er innewohnt, in der sein Geist tatsächlich wirkt und strebt. Diese Ebene der Wirklichkeit ist gleichsam der Strom, in den alles individuelle Leben eingetaucht ist, der dem Herzen Gottes entspringt und dort wieder mündet.

Der Mystiker weiß, daß seine Aufgabe die Erlangung des Seins, die Vereinigung mit dem Einen, die »Rückkehr zum Vaterherzen« ist. Denn die Parabel vom verlorenen Sohn ist für ihn die Geschichte des Weltalls. Diese Vereinigung wird erreicht zunächst durch Zusammenwirken mit dem Leben, das ihn trägt, in das er eingetaucht ist. Er muß sich dieses »großen All-Lebens« bewußt werden, darin untertauchen, wenn er seinen Weg dahin zurückfinden will, von wannen er gekommen ist. Vae soli. So gibt es in Wahrheit zwei gesonderte Akte der »göttlichen Vereinigung«, zwei besondere Arten mystischer Erleuchtung. Der zwiefache Charakter des geistigen Bewußtseins führt eine zwiefache Verpflichtung mit sich. Zunächst ist da die Vereinigung mit dem Leben, mit der Welt des Werdens und parallel mit ihr die Erleuchtung, kraft deren der Mystiker »eine wirklichere Welt schaut«. Zweitens ist da die Vereinigung mit dem Sein, mit dem Einen: und die höchste und letzte Erleuchtung reiner Liebe, die wir »die Erkenntnis Gottes« nennen. Die abnorme Entwicklung des dritten Faktors, des freien, schöpferischen »Geistes«, des Stückchens absoluten Lebens, das den Grund seiner Seele bildet, ist es, die es dem Mystiker möglich macht, dieses letzte Ziel zu begreifen und zu erreichen. Nur das Sein kann das Sein erkennen; wir »schauen das, was wir sind, und sind das, was wir schauen«. Aber es ist ein Funke in der menschlichen Seele, sagen die Mystiker, der wirklich ist, der tatsächlich ist, und dadurch, daß wir ihn pflegen, können wir zur Erkenntnis der Wirklichkeit gelangen.

Immer wieder und wieder – als Sein und Werden, als Ewigkeit und Zeit, als Transzendenz und Immanenz, als Wirklichkeit und Erscheinung, als das Eine und das Viele – werden diese beiden herrschenden Vorstellungsweisen und Tendenzen, diese beiden inneren Gewißheiten des menschlichen Selbst, die Kette und Einschlag im Gewebe seines Weltalls bilden, aufs neue erscheinen. Auf der einen Seite ist seine unausrottbare intuitive Gewißheit eines fernen unwandelbaren Etwas, das ihn ruft; auf der andern ist seine ebenso klare Gewißheit eines vertrauten, wunderbaren Etwas, das ihm nahe ist und nach dem er sich sehnt. Die wahre Wirklichkeit des Menschen, sein einzig ihm gemäßer Gott, muß groß genug sein, diese scheinbaren Widersprüche in einer höheren Synthese in sich zu vereinen. Weder die extreme Transzendenz des unbedingten Idealismus noch die extreme Immanenz des Vitalismus geben die ganze Wahrheit. Beide sind nach der Ansicht der Mystiker unvollständig. Die Vorstellung der Mystiker ist, daß das absolute Sein sich in einer Welt des Werdens offenbart, mit ihr ringend und in ihr leidend, und doch eins mit ihr; doch wenn auch semper agens, so doch auch semper quietus. Der göttliche Geist, von dem sie wissen, daß er dem menschlichen Herzen wie dem Weltall innewohnt, kommt her von und kehrt zurück zu dem transzendenten Einen, und diese Trennung der Personen bei Einheit der Substanz vollendet den »ewigen Kreis von Gott, durch Gott, zu Gott«.

Das absolute Sein und das absolute Werden, das All und das Eine, sind gleich unzulängliche Definitionen dieser Wirklichkeit, dieses »Dreigestirns des Guten, Wahren und Schönen«. Immer von der Erfahrung ausgehend – der vollkommensten Erfahrung, die für den Menschen möglich ist –, schildern die Mystiker uns ein Absolutes, das über das Absolute der Philosophie hinausgeht und es einschließt; das auch weit über das kosmische Leben hinausgeht, das es erfüllt und erhält und das sich am besten als transzendente Persönlichkeit bestimmen läßt. Wegen seines Reichtums und der Armut der menschlichen Sprache werden sie bisweilen dazu getrieben, es nur negativ zu definieren. Zugleich statisch und dynamisch, über dem Leben und mitten darin, »ganz Liebe, doch ganz Gesetz«, ewig seinem Wesen nach, obwohl in der Zeit wirkend, löst diese Vision, die Gegensätze auf, die diejenigen verwirren, welche es von außen erforschen.

Hier also steht der Mystiker. Mit Hilfe zweier philosophischer Systeme, die er durch die Mittel seines symbolischen Ausdrucks ergänzte, ist es ihm gelungen, uns etwas von seiner Vision und von seinem Anspruch zu sagen. Dieser Vision, diesem erhabenen Bilde der Ewigkeit gegenüber, mögen wir wohl fragen und müssen wir fragen: durch welche Mittel hat dieses Selbst, das doch dem eingekerkerten und sinnengenährten Selbst unserer täglichen Erfahrung verwandt ist, es fertig gebracht, seine Fesseln abzustreifen und sich zu den Höhen geistiger Wahrnehmung zu erheben, auf denen allein eine solche Vision dem Menschen möglich ist? Wie hat es jene intuitiven Erkenntnisse, die ins Gebiet des absoluten Lebens übergreifen, in den Kreis seines Bewußtseins gebracht? Wie hat es Kräfte in sich entwickeln können, die es befähigen zu dieser erstaunlichen, dieser übermenschlichen Konzeption der Natur der Wirklichkeit zu gelangen? Die Psychologie wird uns vielleicht zu einer Antwort auf diese Frage verhelfen können, und ihre Aussage ist es, die wir zunächst prüfen müssen. Doch die endgültige Lösung ist das Geheimnis der Mystiker, und sie antworten uns, wenn wir sie fragen, in der unmittelbaren, unzweideutigen Form lebendigen Wirkens, nicht in künstlichen und spitzfindigen Wendungen spekulativen Denkens.

»Komm mit uns,« rufen sie dem verwirrten und verstrickten Selbst zu, das sich nach endgültiger Wahrheit und Frieden sehnt, »wir wollen dir einen Weg zeigen, der nicht nur ein Ausweg aus deinem Kerker sein wird, sondern auch ein Pfad in die Heimat. Zwar bist du ganz eingetaucht in die Welt des Werdens, schlimmer noch, du wirst beständig von allen Seiten durch die Täuschungen der Sinne bedrängt. Aber auch du bist ein Kind des Absoluten. Du trägst in dir die Bürgschaft deines Erbes. Auf dem Gipfel deines Geistes ist eine kleine Tür, so hoch oben, daß du sie nur durch mühseliges Emporklimmen erreichen kannst. Dort steht der Gegenstand deiner Sehnsucht und klopft an; von dort kommen jene beständigen Botschaften, die das behagliche Sinnenleben störten, schwache Echos der Wahrheit, die ewig an deine Tore pocht. So komm denn auf diesem Pfade hinauf zu den höheren Ebenen der Wirklichkeit, wohin du durch den göttlichen Funken in dir gehörst. Laß dein niederes Behagen, dein kluges Geschwätz, deine sinnlosen Versuche, die scheinbaren Widersprüche eines Ganzen zu lösen, das für dein auf den Nutzen eingestelltes kleines Hirn zu groß ist. Vertraue deinen tieferen Instinkten, gebrauche deine latenten Kräfte. Ergreife Besitz von jenem göttlichen, schöpferischen Leben, das die eigentliche Substanz deines Wesens ist. Beginne mit deiner Erneuerung, wenn du seine Schönheit und seine Wahrheit kennenlernen willst. Du kannst nur das schauen, was du bist. Nur das Wirkliche kann die Wirklichkeit erkennen.«


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