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[Vor- und Geleitworte]

Geleitwort

Die Mystik gehört zu den meistbesprochenen und -kritisierten und gleichzeitig am wenigsten gekannten Erscheinungen des religiösen Lebens und Denkens. In der ganzen Diskussion über den Sinn und Wert und das christliche Recht der Mystik, wie sie sich gerade innerhalb der deutschen Theologie abspielt, machte sich immer wieder fühlbar das Fehlen eines grundlegenden und zusammenfassenden Werkes, das unmittelbar aus den Quellen schöpft. Die englische Literatur besitzt seit 1911 ein solches zusammenfassendes Werk über Mystik in dem Buche von Evelyn Underhill Underhill ist der Mädchenname der 1875 geborenen Verfasserin, den sie auch nach ihrer Verheiratung mit Mr. Hubert Stuart-Moore (1907) als Schriftstellernamen beibehalten hat.. Die zahlreichen, fast jedes Jahr erscheinenden Neuauflagen zeigen die Hochschätzung, welcher sich dieses Buch in der englischen Leserwelt erfreut. Seitdem Friedrich von Hügel von uns gegangen, gibt es auf der ganzen Welt keinen gründlicheren und intimeren wissenschaftlichen Kenner der Mystik als Evelyn Underhill; sie hat uns eine ganze Reihe wertvoller Arbeiten über Mystik geschenkt. Sie besitzt eine erstaunliche Kenntnis der mystischen Literatur aller Völker, Religionen und Zeiten wie der gesamten historischen, psychologischen und philosophischen Erforschung der Mystik. Aber, was noch weit wichtiger ist, sie besitzt eine persönliche, erfahrungsmäßige Kenntnis des mystischen Gottesumganges, wie sie unter unsern europäischen Zeitgenossen so selten ist. Als Anglokatholikin besitzt sie auch das rechte Verständnis für die kirchliche Mystik. Sie weiß die Bedeutung des kirchlichen, dogmatischen und sakramentalen Elements für die Mystik zu schätzen und hat es unter dem Einfluß ihres verstorbenen Freundes Friedrich von Hügel immer höher schätzen gelernt. Auf der andern Seite ist sie jedoch gänzlich frei von der eng konfessionellen Auffassung der Mystik, wie wir sie gerade bei den heutigen Theoretikern der Mystik innerhalb der römisch-katholischen Kirche finden. Sie umfaßt mit Liebe und Verständnis auch alle Formen der spezifischprotestantischen und der außerchristlichen Mystik. Selbst ausgesprochen kirchlich und sakramental eingestellt, versteht und würdigt sie mit größter Weitherzigkeit die überkirchliche, individualistische und spiritistische Mystik. Ich selbst habe – neben dem klassischen Werke des unvergeßlichen Baron Friedrich von Hügel über »Das mystische Element der Religion« – aus keinem Buche so viel über die Mystik gelernt wie gerade aus dem großen Werke von Evelyn Underhill. Die Beschäftigung mit Friedrich von Hügels und Evelyn Underhills Werken hat mich auch veranlaßt, meine früher von Ritschl, Herrmann, Harnack usw. beeinflußte Auffassung der Mystik zu korrigieren.

Evelyn Underhill gehört auch zu jenen religiösen und kirchlichen Geistern Englands, die auf mich bei meiner Studienreise in England den tiefsten Eindruck gemacht haben. Seit ich das Glück hatte, sie persönlich kennenzulernen und die wunderbare Harmonie und kindliche Freudigkeit verspürte, die ihre Persönlichkeit ausstrahlt, und seit ich ihr neuestes Büchlein über »Das innere Leben«, worin sie aus reichster Erfahrung konkrete Anweisungen zum persönlichen Gottesumgange gibt, gelesen habe, weiß ich noch besser als früher, warum sie die kongenialste Interpretin der Mystik unter unsern Zeitgenossen ist.

Ich wünsche diesem Buche, das viele falsche Vorstellungen von der Mystik beseitigt, recht zahlreiche, dankbare Leser. Es ist ein Buch für Kopf und Herz, das einen dauernden Platz auch in unserer deutschen Literatur verdient.

Dem Herrn Verleger gebührt aufrichtiger Dank dafür, daß er durch die Herausgabe der Übersetzung dieses umfangreiche Buch der deutschen Leserwelt erschlossen hat. Desgleichen schulden wir Dank und Anerkennung den beiden Übersetzern, die mit Hingabe und Geschick sich der schwierigen Übersetzungsarbeit unterzogen haben.

Marburg, den 1. Oktober 1927.
Friedrich Heiler.

Vorrede

Dies Buch zerfällt naturgemäß in zwei Teile, von denen jeder ein in sich abgeschlossenes Ganzes bildet, obgleich sie sich in gewisser Weise ergänzen. Während der zweite und längste Teil eine ziemlich eingehende Untersuchung der Natur und Entwicklung des religiösen oder mystischen Bewußtseins des Menschen enthält, soll der erste vielmehr eine allgemeine Einführung in die Mystik geben. Indem er sie nacheinander vom Standpunkt der Metaphysik, Psychologie und Symbolik darstellt, macht er einen Versuch, das, was gegenwärtig in vielen wissenschaftlichen Abhandlungen und Lehrbüchern, in verschiedenen Sprachen, verstreut ist, in einem Bande zusammenzufassen und dem Studierenden wenigstens die elementaren Tatsachen in bezug auf die Gegenstände, die am engsten mit dem Studium der Mystiker zusammenhängen, in knapper Zusammenfassung darzubieten.

Man kann jene Mystiker eigentlich nur in ihren Werken studieren, Werken, die von denen, die heutzutage viel über Mystik reden, meistenteils ungelesen bleiben. Allerdings hat der gewöhnliche Leser die Entschuldigung, daß die Meisterwerke der mystischen Literatur bei all ihren wunderbaren Schönheiten doch denen, die unvorbereitet an sie herangehen, beträchtliche Schwierigkeiten bieten. In den ersten sieben Kapiteln dieses Buches habe ich versucht, einige von diesen Schwierigkeiten beiseite zu räumen, die notwendige Vorbereitung zu geben und die Beziehung nachzuweisen, in der die Mystik zu andern Lebensformen steht. Wenn daher die Leser durch diesen ersten Teil in den Stand gesetzt werden, der mystischen Literatur mit einer größeren Fähigkeit nachfühlenden Verstehens entgegenzutreten, so hat er den Zweck, für den er geschrieben ist, erfüllt.

Wahrscheinlich wird fast jeder Leser, je nach der Seite, von der er an den Gegenstand herantritt, hier manches finden, was ihm überflüssig erscheint. Doch verschiedene Geistestypen werden dieses Überflüssige an verschiedenen Orten finden. Der Psychologe, der vom Standpunkt seiner Wissenschaft aus nach pathologischen Erscheinungen sucht, wird für Erörterungen über Symbolik irgendwelcher Art wenig Interesse haben. Der Symboliker, der vom künstlerischen Standpunkte aus dem Gegenstand naht, hat selten Sinn für psychologische Untersuchungen. Ich glaube jedoch, daß niemand, der eine Vorstellung von der Mystik in ihrer Gesamtheit als Lebensform zu erhalten wünscht, irgendeinen Gesichtspunkt, unter dem dies Buch sie betrachtet, aus den Augen lassen darf. Der Philosoph und der Psychologe handeln töricht, wenn sie aus Vorurteil gegen die orthodoxe Theologie das Licht nicht sehen wollen, das von hier aus auf die Ideen der Mystik fällt. Der Theologe handelt noch törichter, wenn er sich weigert, die Feststellungen der Psychologie zu hören. Für die, deren Interesse an der Mystik hauptsächlich literarischer Art ist und die vielleicht gern einen Schlüssel zu dem symbolischen und allegorischen Element in den Schriften der Kontemplativen hätten, ist ein kurzer Abschnitt über die Symbole hinzugefügt, deren sie sich am häufigsten bedienen. Endlich hat die Hartnäckigkeit, mit der man immer noch Mystik mit Okkultismus und psychischen Phänomenen verwechselt, es nötig gemacht, den wesentlichen Unterschied darzulegen, der zwischen ihr und jeder Form der Magie besteht.

Spezialisten auf irgendeinem dieser großen Gebiete der Wissenschaft werden wahrscheinlich Anstoß nehmen an der elementaren und oberflächlichen Art, mit der ihre Spezialwissenschaften hier behandelt sind. Aber dies Buch ist nicht für Spezialisten geschrieben. Von denen, die mit den behandelten Gegenständen schon vollkommen vertraut sind, erbittet es die Nachsicht, die wahrhaft gütige Erwachsene immer den Bestrebungen der Jugend entgegenzubringen bereit sind. Die Philosophen seien ernstlich gebeten, die ersten beiden Kapitel zu überschlagen, und die Theologen, dieselbe Nachsicht walten zu lassen bei dem Abschnitt, der von ihrer Wissenschaft handelt.

Es liegt nicht im Plan dieses Buches, Kenntnisse rein historischer Art mitzuteilen, außer soweit die Chronologie für die fesselndste Geschichte, die es gibt: die Geschichte des menschlichen Geistes, von Belang ist. Viele Bücher über Mystik gründen sich auf die historische Methode, unter andern zwei so sehr verschiedene Werke wie das oberflächliche und belanglose Buch von Vaughan »Stunden mit den Mystikern« und Dr. Inges gehaltvolle Bamptoner Vorträge. Gegen diese Methode ließe sich der Einwand erheben, daß die Mystik es eingestandenermaßen nicht mit der Beziehung des einzelnen zur Kultur seiner Zeit zu tun hat, sondern mit seiner Beziehung zu zeitlosen Wahrheiten. Alle Mystiker, sagt Saint-Martin, sprechen dieselbe Sprache und stammen aus demselben Lande. Im Vergleich zu dieser Tatsache bedeutet es wenig, welchen Platz sie zufällig im Reiche dieser Welt einnehmen. Nichtsdestoweniger wird es vielleicht denen, die mit der eigentlichen Geschichte der Mystik nicht vertraut sind und denen die Namen der großen Kontemplativen noch keine genaue Vorstellung von ihrer Zeit und Nationalität geben, willkommen sein, eine kurze Übersicht ihrer zeitlichen Folge und räumlichen Verteilung zu erhalten. Auch ist eine gewisse Kenntnis der geschichtlichen Entwicklung der Mystik wünschenswert, um den schöpferischen Beitrag des einzelnen von der Masse der Gedanken und Feststellungen zu unterscheiden, die er von der Vergangenheit ererbt hat. Denen, die mit diesen Gegenständen gänzlich unbekannt sind, wird es vielleicht von Nutzen sein, erst einen Blick in den Anhang zu werfen, bevor sie mit dem Werke selbst beginnen, da nichts unangenehmer ist, als fortwährend auf Personen zu stoßen, die einem nicht vorgestellt sind.

Der zweite Teil des Buches, dem die ersten sieben Kapitel als Vorbereitung dienen sollen, ist ausgesprochen psychologisch. Er ist ein Versuch, eine Theorie von der Natur des mystischen Bewußtseins des Menschen aufzustellen und zu begründen, von den notwendigen Stadien organischen Wachstums, durch welche der typische Mystiker hindurchgeht, dem Zustande innern Gleichgewichts, dem er zustrebt. Jedes dieser Stadien – auch die eigentümlich mystischen und immer noch höchst mysteriösen Erfahrungen von Visionen und Stimmen, Kontemplation und Ekstase – wird, obgleich vom Standpunkte der Psychologie aus betrachtet, aus dem Leben der Mystiker illustriert, womöglich mit ihren eigenen Worten. Bei der Vorarbeit für diese Kapitel sind mir die ausgezeichneten »Etudes sur le Mysticisme« von M. Delacroix eine wertvolle Hilfe gewesen, wenn ich auch seine Schlüsse nicht annehmen konnte, und ich spreche ihm bei dieser Gelegenheit gern meinen Dank aus, ebenso wie dem Baron von Hügel für sein klassisches Buch »The Mystical Element of Religion«. Letzteres, das mir erst in die Hände kam, als mein eigenes bereits entworfen und zum Teil geschrieben war, ist mir seitdem eine beständige Quelle der Anregung und Förderung gewesen.

Zum Schluß ist es vielleicht gut, etwas über den genauen Sinn zu sagen, in dem der Ausdruck »Mystik« hier gebraucht wird. Es ist mit diesem Worte viel Mißbrauch getrieben, und man hat es in verschiedenen und oft sich gegenseitig ausschließenden Bedeutungen in bezug auf Religion, Dichtung und Philosophie angewendet; man hat es als Deckmantel benutzt für jede Art von Okkultismus, verwässertem Transzendentalismus, schalem Symbolismus, religiöser oder ästhetischer Gefühlsschwärmerei und schlechter Metaphysik. Andrerseits wurde von ihm ausgiebiger Gebrauch gemacht als Ausdruck der Verachtung von denen, die an diesen Dingen Kritik übten. Es ist sehr zu hoffen, daß es früher oder später seine alte Bedeutung als die Wissenschaft oder Kunst des geistlichen Lebens zurückerhält.

Inzwischen müssen die, die den Ausdruck Mystik gebrauchen, sich vor Mißverständnis schützen, indem sie erklären, was sie darunter verstehen. Ganz allgemein gesagt, verstehe ich darunter die Äußerung des eingeborenen Strebens des menschlichen Geistes nach vollkommener Harmonie mit der übersinnlichen Ordnung der Dinge, wie auch die theologische Formel für diese Ordnung lauten mag. Dies Streben erobert bei den großen Mystikern allmählich das ganze Feld ihres Bewußtseins, es beherrscht ihr Leben und erreicht sein Ziel in dem Zustande, den man als »mystische Vereinigung« bezeichnet. Ob nun das Ziel der Gott des Christentums heißt oder die Weltseele des Pantheismus oder das Absolute der Philosophie, immer ist der Wunsch, es zu erreichen, und das Streben danach – solange dies ein echter Lebensprozeß und nicht intellektuelle Spekulation ist – der eigentliche Gegenstand der Mystik. Ich glaube, daß dies Streben die wahre Entwicklungslinie der höchsten Form des menschlichen Bewußtseins darstellt.

Es ist mir eine angenehme Pflicht, den vielen gütigen Freunden und Studiengenossen der verschiedensten Richtungen und Auffassungen, die mir Hilfe und Förderung zuteil werden ließen, bei dieser Gelegenheit meinen herzlichsten Dank auszusprechen. Vor allem bin ich Mr. W. Scott Palmer aufs tiefste verpflichtet für seinen höchst wertvollen, großmütigen und aufopfernden Beistand, besonders bei dem Kapitel über den Vitalismus, und Miß Margaret Robinson, die außer vielen andern freundlichen Diensten, die sie mir bei meiner Arbeit erwies, alle Übersetzungen aus Meister Eckehart und Mechthild von Magdeburg besorgte.

Einzelne Abschnitte des Manuskripts wurden von Rev. Dr. Inge, von Miß May Sinclair und von Miß Eleanor Gregory durchgesehen, und ihnen allen verdanke ich manche fördernden, sachverständigen Ratschläge. Besondern Dank schulde ich Herrn Arthur Symons für die großmütige Erlaubnis, von seiner schönen Übersetzung der Gedichte des hl. Johannes vom Kreuz unbeschränkten Gebrauch machen zu dürfen. Andere, die mir in verschiedener Beziehung wertvolle Hilfe geleistet haben und denen ich an dieser Stelle meinen Dank abstatten möchte, sind: Miß Constance Jones, Miß Ethel Barker, Mr. J. A. Herbert vom Britischen Museum, der mich zuerst auf den neu entdeckten »Mirror of Simple Souls« aufmerksam machte, Rev. Dr. Arbuthnot Nairn, Mr. A. E. Waite und Mr. H. Stuart Moore, F. S. A. Die Abschnitte über »Die charakteristischen Eigentümlichkeiten der Mystik« und »Mystik und Magie« sind bereits im »Quest« und in der »Fortnightly Review« veröffentlicht und sind hier mit gütiger Erlaubnis der betreffenden Verleger wieder abgedruckt.

Am Tage des hl. Johannes vom Kreuze 1910.
E. U.

Anmerkung zur dritten Auflage

Bei der Revision dieser Auflage habe ich mir die Anregungen mehrerer freundlicher Kritiker, besonders des Barons von Hügel, zunutze gemacht und spreche ihnen hiermit meinen verbindlichsten Dank aus.

November 1911.
E. U.


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