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Drittes Kapitel
Mystik und Psychologie

Wir kommen nun zur Betrachtung des geistigen Apparats, der dem Selbst zur Verfügung steht, zu der Frage, auf welche Weise er ihm helfen kann, dem Kerker der Sinnenwelt zu entfliehen, über ihren Rhythmus hinauszugelangen und Erkenntnis der Wirklichkeit oder bewußten Kontakt mit ihr zu erreichen. Wir haben gesehen, wie das normale Selbst im Kerker der Sinne fest eingeschlossen sitzt und mit Hilfe der Naturwissenschaft und der Philosophie eine genaue Prüfung des Raumes und der Einrichtung vornimmt, die Dicke der Wände untersucht und Betrachtungen über die Möglichkeit anstellt, ob zuverlässige Nachrichten von außen her in seine Zelle eindringen können. In dieser Zelle mit ihm eingeschlossen sind zwei Kräfte, das Verlangen, mehr zu wissen, und das Verlangen, mehr zu lieben, unablässig am Werk. Wo der erste dieser Triebe vorherrscht, nennen wir das Resultat ein philosophisches oder wissenschaftliches Temperament; wo er hinter dem Verlangen unbefriedigter Liebe zurücktritt, ist die Art, wie das Selbst auf die Dinge reagiert, entweder poetisch, künstlerisch oder – wenn auch nicht ausgesprochen, so doch seinem Wesen nach – religiös.

Wir haben weiter gesehen, daß eine gewisse Anzahl von Menschen behaupten, diesem Kerker entronnen zu sein. Wenn dem so ist, so kann es nur geschehen sein, um jene zwei hungrigen Triebe zu befriedigen; denn diese, und nur diese, machen das zu einem Kerker, was sonst ein behagliches Hotel sein würde; und da nun diese Triebe aktiv oder latent in verschiedenem Grade in uns allen vorhanden sind, so verlohnt es sich schon der Mühe, zu versuchen, die schwachen Punkte in der Mauer zu entdecken und die Angriffsmethode, mittels deren wir uns am besten diese eine Fluchtmöglichkeit zunutze machen können.

Bevor wir versuchen, in psychologischer Sprache die Art, wie der Mystiker die Fesseln der Sinne abstreift und sich auf den Heimweg macht, zu definieren, erscheint es wünschenswert, den Mechanismus zu prüfen, der dem normalen, bewußten Selbst zur Verfügung steht: das Geschöpf oder den Teil des Geschöpfes, den wir als »uns selbst« erkennen. Die Psychologen pflegen uns zu sagen, daß die Nachrichten von draußen in diesem Selbst drei Hauptformen von Tätigkeit hervorrufen: 1. Sie erregen in ihm Gefühle der Anziehung oder der Abstoßung, der Begierde oder des Abscheus, die an Intensität verschieden sind von dem halb bewußten Verlangen des hungrigen Säuglings bis zur Leidenschaft des Liebenden, des Künstlers oder des Fanatikers. 2. Sie bewirken in ihm eine Art Verdauungsprozeß, in dem es den ihm dargebotenen Stoff geistig verarbeitet und endlich einen Teil der sich ergebenden Begriffe sich und seiner Welt einverleibt. 3. Die Gefühle des Verlangens oder die Tätigkeit der Vernunft oder beide auf mannigfache Weise verbunden erwecken in ihm einen Entschluß, durch den Wahrnehmen und Begreifen in – körperliche oder geistige – Tätigkeit auslaufen.

Daher sagen wir, daß die hauptsächlichen Äußerungen des Selbst Gefühl, Intellekt und Wille sind, und daß die Individuen ihrem Wesen nach Gefühlsmenschen, Intellektualisten oder Willensmenschen sind, je nachdem ob nun das Fühlen, das Denken oder das Wollen bei ihnen die Zügel ergreift.

Dank dem System wasserdichter Abteilungen der Popularpsychologie können wir diese Eigenschaften personifizieren, indem wir sie uns wie die drei Parzen im Geiste sitzend vorstellen, wo sie den Flachs der Erfahrung zum Lebensfaden spinnen. Allein diese drei sind nicht als getrennt und einander ausschließend zu denken, sie sind vielmehr eine Dreieinigkeit, drei Aspekte, Methoden oder Momente derselben Sache: der Art, wie das bewußte Selbst auf sein Universum reagiert Bei den jüngeren Psychologen besteht eine Neigung, sich gegen dies überlieferte Schema aufzulehnen. So sagt Godfernaux (in der Revue Philosophique vom September 1902): »Gefühl, Verstand, Wille! Wann werden wir von dieser langweiligen Trinität befreit werden? Wann werden wir diese Einteilung, der nichts entspricht, ein für allemal aufgeben?« Die Einteilung ist hier jedoch als allgemein angenommen beibehalten. Solange man sich ihren symbolischen Charakter gegenwärtig hält, überwiegen doch wohl ihre Vorzüge..

Nun hat, wie wir schon sagten, das unbefriedigte Selbst von seinem Gefühl aus das Verlangen, mehr zu lieben; sein wißbegieriger Verstand hat das Verlangen nach mehr Erkenntnis. Beide Triebe sind sich bewußt, daß sie auf magere Kost gesetzt sind, daß es wirklich irgendwo in der geheimnisvollen Welt draußen mehr zu lieben und mehr zu erkennen gibt. Sie wissen auch, daß ihre eigene Kraft der Liebe und des Verstehens eines größeren und weniger vergänglichen Gegenstandes würdig ist, als das ihm durch die Täuschungen der Sinne Gegebene. Daher versucht das Bewußtsein immer, vom Verlangen des Gefühls oder des Verstandes getrieben, sich aufzumachen und dem Absoluten entgegenzugehen, und immer wird es zur Umkehr gezwungen. Die kunstvollen Systeme der Philosophie, die Konstruktionen der Naturwissenschaft, der » sunset-touch [»sunset-touch«. Zitat aus Browning, Bishop Blougram's Apology. Der Bischof rechtfertigt sein Festhalten am Dogmenglauben mit folgender Begründung: Werfen wir, da wir die Schwierigkeiten und Zweifel, die uns quälen, nicht lösen können, unsern Glauben über Bord, was haben wir gewonnen? Finden wir Ruhe im Unglauben? Nein, denn wie vorher die Ruhe des Glaubens durch die Zweifel des Unglaubens gestört wurde, so nun umgekehrt:
»… ein Abendsonnenblick (sunset-touch),
Ein blumenkelchgeborenes Bild, ein Tod,
Ein Chorfinale aus Euripides –
Und siehe! tausend Hoffnungen und Ängste,
So ewig alt und jung wie die Natur,
Drängen sich mit Gewalt in unsre Seele
Und tanzen Hand in Hand in wildem Reigen,
Um das aufs neue thronende Idol,
Das mächtige Vielleicht …«]
« werden abwechselnd probiert. Kunst und Leben, die Zufälligkeiten unseres Menschentums, bieten dem Gefühl einen Ausblick, bis der vernachlässigte Verstand sich dagegen erhebt und den Wert dieses Ausblicks bestreitet. Metaphysik und Naturwissenschaft scheinen dem Intellekt ein offenes Fenster nach der Wahrheit hin zu bieten, bis das Herz hinausblickt und erklärt, diese Landschaft sei eine kalte Wüste, wo es keine Nahrung finden könne. Diese verschiedenen Aspekte der Dinge müssen entweder in eins verschmelzen oder überboten werden, wenn das ganze Selbst befriedigt werden soll; denn die Wirklichkeit, die es sucht, muß beiden Ansprüchen gerecht werden, und in vollstem Maße.

Wenn Dionysius der Areopagit die Engel einteilt in die von vollkommener Liebe entflammten Seraphim und die mit vollkommener Erkenntnis ausgestatteten Cherubim, so gibt er damit nur den beiden stärksten Trieben der menschlichen Seele Ausdruck und stellt im Bilde die unerreichbaren Bedingungen der seligen Vollendung dar Die weisen Cherubim sind nach dem schönen Bilde des Dionysius »ganz Auge«, aber die liebenden Seraphim sind »ganz Flügel«. Während die Seraphim, das Bild reinster und tiefster Liebe, sich unaufhörlich auf die göttlichen Dinge hin bewegen und Energie und Eifer ihre charakteristischen Eigenschaften sind, ist die der Cherubim ihre Fähigkeit, die Strahlen des himmlischen Lichtes zu absorbieren. (Dionysius der Areopagit, Von der himmlischen Hierarchie VI, 2 und VII, 1.). Nun kann man in einem gewissen Sinne sagen, daß das Verlangen nach Erkenntnis ein Teil des Verlangens nach vollkommener Liebe ist, da eine Seite dieser ursprünglichen allumfassenden Leidenschaft offenbar ein Verlangen ist, den Gegenstand der Liebe im vollsten und genauesten Sinne zu erkennen. Die der Liebe eigentümliche Tätigkeit – denn die Liebe, die ganz Flügel ist, ist von Natur tätig und »kann nicht müßig sein«, wie die Mystiker sagen – ist ein Streben und ein Suchen nach einem ersehnten Gegenstand, der erst, wenn erreicht, voll erkannt werden, und erst, wenn voll erkannt, vollkommen angebetet werden kann So sagt Récéjac von den Mystikern: »Sie wollen erkennen, nur um zu lieben, und ihr Verlangen nach Vereinigung mit den Prinzipien der Dinge, mit Gott, der die Summe aller Dinge ist, gründet sich auf ein Gefühl, das weder Neugierde noch Eigennutz ist.« (Fondements de la Connaissance Mystique p. 50.). Ihr Wesen ist ebensowohl Einssein wie Anbetung. Freudiger Genuß ist ihre eigentliche Erfüllung. Dies gilt von allem Liebesstreben, ob nun der Gegenstand der Liebe göttlich oder menschlich ist – die Braut, der Gral, die mystische Rose, die Fülle der Gottheit. Aber es läßt sich in keinem Sinne sagen, daß das Verlangen der Liebe nur ein Teil des Verlangens nach vollkommener Erkenntnis sei; denn dieses rein intellektuelle Streben schließt keine Anbetung, keine Selbsthingabe, keine Gegenseitigkeit des Gefühls zwischen Erkennendem und Erkanntem ein. Bloße Erkenntnis, für sich genommen, ist Sache des Empfangens, nicht des Handelns; der Augen, nicht der Flügel; eine Sache ohne wirkliches Leben.

Man muß also eine genaue Scheidelinie ziehen zwischen diesen beiden großen Ausdrucksformen des Lebens: der tätigen Liebe und dem passiven Erkennen. Die eine ist verbunden mit dem tatkräftigen Streben, dem dynamischen Impuls, etwas zu tun, physisch oder geistig, der allen lebenden Wesen eingeboren ist und den die Psychologen conatio nennen; die andere ist verbunden mit dem uns innewohnenden Bewußtsein, dem passiven Erkennen, das sie cognitio nennen.

Wenn wir zu unserm ursprünglichen Schema zurückkehren, so ist conatio fast ausschließlich Sache des Willens, doch des durch ein Gefühl getriebenen Willens. Denn eine Willenshandlung jeder Art, wie verstandesmäßig sie auch erscheinen mag, ist immer das Resultat eines Gefühls. Wir handeln, weil wir es wünschen, unser Impuls zum Handeln ist eine Synthese von Entschluß und Wunsch. Alle menschlichen Taten sind das Resultat des Willens, nie des bloßen Denkens. »Der Intellekt an sich bewegt nichts«, sagt Aristoteles, und die moderne Psychologie hat dies Gesetz nur bestätigt. Daher geht unser Suchen nach Wirklichkeit nie von der intellektuellen Seite unseres Bewußtseins aus, wenn es auch in hohem Maße von ihr unterstützt werden mag; denn die intellektuellen Kräfte haben wenig Initiative. Ihr Gebiet ist die Analyse, nicht das Erforschen. Sie bleiben zu Hause und zergliedern und ordnen den Stoff, der ihnen zuhanden kommt; sie wagen sich nicht auf Nahrungssuche über ihr Gebiet hinaus. Das Denken dringt nicht weit in einen Gegenstand ein, für den das Selbst kein Interesse fühlt, d. h. der nicht eine Willensregung, ein Verlangen in ihm weckt, denn Interesse ist das einzige uns bekannte Mittel, unsern Willen aufzurütteln und die Aufmerksamkeit so zu fixieren, wie es für jeden intellektuellen Vorgang nötig ist. Niemand denkt lange an etwas, was ihm gleichgültig ist, d. h. das nicht irgendeine Saite seines Gefühlslebens berührt. Mag er es nun hassen, lieben, fürchten, begehren: irgendein Gefühl muß er ihm gegenüber haben. Das Gefühl ist das Fühlhorn, das wir der Welt der Dinge entgegenstrecken.

Hier gibt uns die Psychologie dieselbe Lehre, die Dante von seiner Pilgerfahrt heimbrachte: die Lehre von der überragenden Bedeutung und der harmonischen Bewegung des Wünschens und Wollens. Sì come rota ch'egualmente è mossa Paradies XXXIII, 143. (wie ein gleichmäßig bewegtes Rad) wirken diese zusammen, um den kosmischen Plan auszuführen. In allem menschlichen Leben, soweit es nicht nur ein Zustand passiven Bewußtseins ist, ist das Gesetz, das Dante im Weltall fand, das Gesetz jedes einzelnen Geistes. Nicht Logik, nicht »gesunder Menschenverstand«, l'amor che move il sole e le altre stelle (Liebe, die Sonne und Sterne bewegt) ist die bewegende Kraft des Menschengeistes; bei den Erfindern, den Philosophen und den Künstlern nicht weniger als bei den Helden und Heiligen.

Es ist eine der Hauptleistungen der neueren Psychologie, daß sie die Wichtigkeit des Gefühls in unserm Leben und besonders seinen Vorrang vor dem Verstand in allem, was den Kontakt des Menschen mit der übersinnlichen Welt angeht, siegreich verfochten hat. Besonders auf dem Gebiet der Religion ist man darin übereingekommen, daß »ein im Herzen erkannter Gott« ein besseres und endgültigeres Ergebnis der höchsten Erfahrung ist als »ein mit dem Hirn vermuteter Gott«; daß das aktive Erlebnis des Geistes fruchtbarer und vertrauenswürdiger ist als der dialektische Beweis. Ein Gemeinplatz der Mystik nach dem andern wird auf diese Weise von der offiziellen Wissenschaft neu entdeckt und enthält seinen ihm gebührenden Platz in der Psychologie des Geisteslebens. Das beständige Wachstum vitalistischer Daseinstheorien mit ihrer Tendenz, die lediglich partielle und utilitaristische Natur des Intellekts zu betonen und alles vom Standpunkt der Vitalität aus zu erklären, fördert diese Entwicklung. So steht Leuba nicht an, zu behaupten: »Leben, mehr Leben, ein weiteres, reicheres, befriedigenderes Leben ist im letzten Grunde das Endziel aller Religion The Monist, Juli 1901, p. 572.«, und wir haben gesehen, daß das Leben, so wie wir es kennen, viel enger mit dem Willen und dem Gefühl als mit dem Denken verknüpft ist.

Das, was unsere religiösen und ethischen Lehrer »bloßes Gefühl« zu nennen pflegten, wird jetzt als Urstoff des Bewußtseins anerkannt. Das Denken ist nur sein Diener, ein geschickter und oft anmaßender Diener, der beständig die Neigung hat, widerrechtlich die Herrschaft an sich zu reißen. Im Grunde also werden wir im Gefühl die Kraft finden, die den Mechanismus des Geistes treibt, eine Kraft, die stark wie die Dampfkraft ist, doch ebenso flüchtig, wenn sie nicht in Tätigkeit gesetzt wird. Ohne sie würde der Wille schlafen und der Intellekt zu einer Rechenmaschine herabsinken. Und was seine Vergänglichkeit anbetrifft, so hat Bergson den ewigen Wechsel als eine notwendige Bedingung des Bewußtseins, ja des Lebens überhaupt, bezeichnet H. Bergson, Les Données Immédiates de la Conscience, Kap. II..

Weiter, »das Herz hat seine Gründe, von denen der Verstand nichts weiß«. Es ist eine Tatsache der Erfahrung, daß wir in den Augenblicken seelischer Erregung, so flüchtig diese auch sein mögen, tiefer in die Wirklichkeit der Dinge hinabtauchen, als wir in den Stunden glänzendster Beweisführung zu tun hoffen können. Bei der Berührung der Leidenschaft fliegen Türen auf, an die die Logik vergeblich gepocht hat; denn die Leidenschaft rüttelt nicht nur den Geist, sondern die ganze Lebenskraft des Menschen zur Tätigkeit auf. Es ist der Liebende, der Dichter, der Leidtragende, der Bekehrte, der einen Augenblick das Vorrecht des Mystikers teilt, den Schleier der Isis aufzuheben, an dem die Naturwissenschaft so hilflos hantiert, daß sie nur ihre schmutzigen Fingerspuren daran läßt. Das Herz zieht eifrig und ruhelos hinaus ins Unbekannte und bringt tatsächlich und buchstäblich »frische Nahrung für das Denken« heim. Daher besitzen diejenigen, welche »fühlen, um zu denken«, häufig eine reichere, wirklichere, wenn auch weniger geordnete Erfahrung als die, welche »denken, um zu fühlen«.

Dies psychologische Gesetz, das sich in bezug auf weltliche Dinge leicht beweisen läßt, gilt auch auf der übersinnlichen Ebene. Einer der frühesten englischen Mystiker hat es ein für allemal formuliert, indem er von Gott sagte: »Durch Liebe kann man ihn erlangen und festhalten, durch Verstandesdenken niemals The Cloud of Unknowing VI..« Das Erste, was unser Auge erleuchtet, sagt Ruysbroeck, ist das lebendige Gefühl, das unser Bewußtsein überflutet und durchstrahlt, wenn es eine Botschaft aus der Geisteswelt empfängt. Dies gesteigerte Gefühl, dies Verlangen, nicht die scharfsinnigen Deduktionen der Logik, die »Beweise« des Apologeten für die Existenz des Absoluten, erschließt dem Auge nie zuvor gesehene Dinge. »Aus diesem jähen Gefühl«, fährt er fort, »wird im Menschen dann das Zweite geboren: eine Sammlung aller innern und äußern Kräfte in der Einheit des Geistes und in den Banden der Liebe Die Zierde der geistlichen Hochzeit II, 4 (3. 7 frei wiedergegeben)..« Hier sehen wir das Gefühl bei seinem eigentlichen Wirken, als Quelle und Trieb des Handelns, indem der Erregung des Verlangens sofort die Konzentration folgt, die Sammlung aller Kräfte des Selbst zu einem Zustande entschlossener Aufmerksamkeit, die Sache des Wollens ist.

Dieser Akt vollkommener Konzentration, dieses leidenschaftliche Sichsammeln des Selbst auf Einen Punkt macht, wenn es »in der Einheit des Geistes und in den Banden der Liebe« auf übersinnliche Dinge gerichtet ist, den Zustand aus, den man in der technischen Sprache der Mystik als den der Meditation oder Sammlung bezeichnet S. unten, Teil II, Kap. 6., ein Zustand, der für das mystische Bewußtsein besonders charakteristisch ist und die notwendige Vorstufe zur reinen Kontemplation, zu jenem Zustande, in dem der Mystiker in Verbindung mit der Wirklichkeit tritt.

Soweit sind wir also mit unserer Beschreibung der geistigen Ausrüstung des Mystikers gekommen. Während er gleich andern Menschen mit Kräften des Fühlens, Denkens und Wollens ausgestattet ist, ist es wesentlich, daß seine Liebe und sein Wille, mehr noch als sein Denken, auf die transzendente Wirklichkeit gerichtet ist. Er muß eine starke Anziehung von Seiten des Absoluten, dem er zustrebt, spüren, die Liebe, die die scholastische Philosophie als die Kraft definiert, die jedes Geschöpf treibt, seiner Bestimmung zu folgen. Aus dieser muß der Wille geboren werden, mit dem Absoluten in Gemeinschaft zu treten. Dieser Wille, dies brennende und tätige Verlangen muß sich verdichten zur und auswirken in der bestimmten und bewußten Konzentration des ganzen Selbst auf das Objekt, die dem Zustande der Kontemplation vorausgeht. Wir sehen schon, wie sehr die irren, die das mystische Temperament für typisch passiv halten.

Unsere nächste Betrachtung gilt also diesem Zustande der Kontemplation: was er wirkt und wohin er führt. Wie ist er psychologisch zu erklären, und was ist sein empirischer Wert? Nun können wir bei diesen und andern seltenen seelischen Zuständen natürlich nur versuchen, von außen zu beschreiben, was nur von innen her zutreffend beschrieben werden kann; was soviel sagt, daß in Wahrheit nur Mystiker über Mystik schreiben können. Zum Glück haben viele Mystiker dies getan, und so sind wir imstande, aus ihren Erfahrungen und den Forschungen der Psychologie auf einer andern Ebene gewisse elementare Schlüsse zu ziehen. Danach scheint im allgemeinen der Akt der Kontemplation eine Art Tor für die Mystiker zu sein; ein Durchgang von einem Bewußtseinszustand in einen andern. In technischer Sprache ist es die Bedingung, unter der er sein »Wahrnehmungsfeld« verlegt und den für ihn charakteristischen Ausblick auf das Universum erhält. Daß es solch einen besonderen Ausblick gibt, der nicht einem besondern Glauben oder Volke eigentümlich ist, beweist die Geschichte der Mystik, die deutlich genug zeigt, daß sich in einigen Menschen eine andere Art von Bewußtsein, ein anderer »Sinn« entwickelt, der über die normalen Eigenschaften des Selbst, die wir besprochen haben, hinausgeht. Dieser »Sinn« ist sowohl mit dem Gefühl wie mit dem Intellekt und dem Willen verknüpft. Er kann sich in jeder dieser Grundformen des Seelenlebens ausdrücken. Doch geht er über das Gefühls-, Geistes- und Willensleben des gewöhnlichen Menschen hinaus. Platon erkannte ihn als das Bewußtsein, das die wirkliche Welt der Ideen wahrzunehmen imstande ist. Seine Entwicklung ist das letzte Ziel der Erziehung, die Platons »Staat« schildert. Plotin nennt ihn »einen andern Intellekt, verschieden von dem sogenannten logischen Denkvermögen Sechste Enneade IX, 5.«. Seine Aufgabe, sagt er, ist die Wahrnehmung des Übersinnlichen – oder in neuplatonischer Sprache, der intelligiblen Welt. Es ist der Sinn, der nach den Worten der »Theologia Deutsch« die Kraft hat »in die Ewigkeit zu schauen Theologia Deutsch VII.«, »das geheimnisvolle Auge der Seele«, mit dem der hl. Augustinus »das Licht, das sich nie wandelt Confessiones VII, 10.«, erblickte. Er ist, sagt AI Ghazâlî, ein persischer Mystiker des elften Jahrhunderts, »wie ein Schauen und ein Ergreifen mit der Hand Schmölders, p. 68; Meynard, p. 71.«. Sein großer christlicher Nachfolger, der hl. Bernhard, nennt ihn »die wahre, untrügliche Anschauung der Seele«, »das sichere Erfassen der Wahrheit De Consideratione II, 2.« und »diese einfache Vision der Wahrheit«, sagt Thomas von Aquino, »endet in einer Bewegung des Verlangens Summa Theologica II. II, Quaest. CLXXX, Art. 3 (Opera 4, 466).«.

Dieser Sinn ist getränkt mit brennender Liebe, denn er erscheint denen, die ihn besitzen, zunächst als eine Regung des Herzens; er ist verbunden mit Feinheit des Intellekts, denn er verwendet seine ganze Inbrunst auf den erhabensten Gegenstand des Denkens; und mit einem unbeugsamen Willen, denn er begibt sich auf sein Abenteuer, allen natürlichen Zweifeln und Vorurteilen, aller menschlichen Trägheit und Schwäche zum Trotz. Diese Abenteuer, die von denen, die zu Hause bleiben, als eine höhere Art des Müßigganges angesehen werden, sind in Wirklichkeit die letzten und schwierigsten Arbeiten, die die Menschheit zu verrichten berufen ist. Sie sind die einzigen bekannten Möglichkeiten, in den bewußten Besitz all unserer Kräfte zu gelangen und, von den niedern zu den höheren Bewußtseinsebenen aufsteigend, das weitere Leben, in das wir eingetaucht sind, gewahr zu werden und in Gemeinschaft zu treten mit der transzendenten Persönlichkeit, in der jenes Leben beschlossen ist.

Maria hat das bessere, nicht das bequemere Teil erwählt. Vergeblich wiederholt der hämische gesunde Menschenverstand angesichts des kontemplativen Typus das Spottwort des Mucius » Encore sont-ils heureux que la pauvre Marthe leur fasse la cuisine«. Es bleibt eine Paradoxie der Mystiker, daß die Passivität, nach der sie zu streben scheinen, in Wahrheit ein Zustand höchster Aktivität ist, ja, daß ohne einen solchen Zustand keine große schöpferische Tat geschehen kann. In diesem Zustande zwingt das Selbst der Oberfläche sich zur Stille, damit eine andere, tiefer liegende Kraft frei werde, die in der Ekstase des kontemplativen Genius den höchsten Grad ihrer Wirksamkeit erreicht.

»Dies ruhevolle Wirken«, sagt Walter Hilton, »ist weit entfernt von fleischlicher Trägheit und von blinder Sicherheit. Es ist ein geistiges Arbeiten, aber wir nennen es Ruhe, weil die göttliche Gnade das schwere Joch der fleischlichen Liebe von der Seele löst und durch die Gabe der geistlichen Liebe sie mächtig und frei macht, um froh und sachte und freudig zu wirken … Daher wird es ein heiliger Müßiggang, eine höchst geschäftige Ruhe genannt, und das ist es, da es nichts von dem lauten Geschrei und tierischen Lärm der sinnlichen Begierden hat Walter Hilton, The Scale of Perfection III, 10.

Wenn die Behauptungen derer, die diese latente Kraft entwickelt haben, richtig sind, so war das Selbst im Irrtum, wenn es sich von dem wahren Universum draußen gänzlich abgeschnitten glaubte. Es hat, so scheint es, gewisse Fühlhörner, die, wenn es nur einmal gelernt hat, sie auszustrecken, weit aus der engen Hülle, die sein normales Bewußtsein einschließt, hervorsehen und ihm Tatsachen zuführen, aus denen es eine höhere Wirklichkeit aufbauen kann als die aus den Wahrnehmungen der Sinne abgeleitete. Die voll entfaltete und voll bewußte menschliche Seele kann also gleich dem Lotus ihren Kelch öffnen und den Ozean, der sie umspült, erkennen. Dieser Akt, dieser Bewußtseinszustand, in dem die Schranken weichen, das Absolute in uns einströmt und wir seiner Umarmung entgegeneilen, wo wir »das Unendliche, das über alle Vernunft und alle Erkenntnis ist, finden und fühlen Ruysbroeck, Von sieben Stufen der Minne XIV [im Orig. nicht zu finden].«, ist der wahre »mystische Zustand«. Der Wert der Kontemplation besteht darin, daß sie diesen Zustand herbeiführen hilft und die »niedere Knechtschaft«, in der der natürliche Mensch unter der Herrschaft seiner irdischen Umgebung lebt, in die »höhere Knechtschaft« bewußter Abhängigkeit von jener Wirklichkeit wandelt, »in der wir leben und weben und sind«.

Wie ist also, so fragen wir, dieser besondere Sinn, dies transzendentale Bewußtsein beschaffen, und inwiefern wird er durch die Kontemplation befreit?

Jeder Versuch, diese Frage zu beantworten, führt uns zur Betrachtung einer andern Erscheinung des menschlichen Seelenlebens, einer Erscheinung, die für das Studium der Mystik von höchster Wichtigkeit ist. Wir haben uns die hauptsächlichen Arten vergegenwärtigt, in denen das normale Selbst auf die Erfahrung reagiert mit Hilfe seines Oberflächenbewußtseins, eines Bewußtseins, das seit unendlich vielen Zeitaltern zur Beschäftigung mit den konkreten Dingen, die die Sinnenwelt ausmachen, erzogen ist. Wir wissen jedoch, daß die Persönlichkeit des Menschen etwas viel Tieferes und Geheimnisvolleres ist als die Summe all seines bewußten Fühlens, Denkens und Wollens, daß dies Selbst der Oberfläche, dieses Ich, dessen sich jeder von uns bewußt ist, neben jenen Tiefen des Seins, die es verbirgt, kaum in Betracht kommt. »Es ist in dir eine Wurzel oder Tiefe,« sagt Law, »aus der alle diese Fähigkeiten hervorgehen wie Linien aus einem Mittelpunkt oder wie Zweige aus dem Stamm eines Baumes. Diese Tiefe heißt das Zentrum, das Fundament oder der Grund der Seele. Diese Tiefe ist die Einheit, die Ewigkeit, ich möchte fast sagen: die Unendlichkeit deiner Seele, denn sie ist so unendlich, daß nichts sie füllen oder ihr Ruhe geben kann als allein die Unendlichkeit Gottes The Spirit of Prayer (Liberal and Mystical Writings of William Law p. 14).

Da der normale Mensch gänzlich unfähig ist, durch sein Fühlen, Denken oder Wollen mit der geistigen Wirklichkeit in Beziehung zu treten, so ist es offenbar diese Tiefe des Seins, diese noch unerforschten Schichten der Persönlichkeit, wo wir suchen müssen, um das Organ, die Kraft zu finden, durch die er das mystische Ziel erreichen kann. Jene Umwandlung des Bewußtseins, die in der Kontemplation vor sich geht, kann nur bedeuten, daß aus diesem Fundament oder Grund der Seele irgendeine Fähigkeit hervorbricht, die das Alltagsleben »in der Tiefe« verborgen hält.

Die moderne Psychologie hat dies Verborgene im Menschen in der Lehre von der unterbewußten oder subliminaren Persönlichkeit zusammengefaßt, die in der neueren apologetischen Literatur so überragend aufdämmert. Sie hat dies vage und schattenhafte Gebiet, das in Wirklichkeit mehr ein bequemer Name als ein »Gebiet« ist, so eingehend behandelt und definiert, daß es bisweilen scheint, als wisse sie mehr über das unterbewußte als über das bewußte Leben des Menschen. Dort findet sie alles nebeneinander, sowohl die Quellen seiner niedersten Triebe wie die seiner unerklärlichsten Kräfte, seiner geistigsten Intuitionen: den »Affen und Tiger« wie »die Seele«. Genie und Prophetentum, Tischrücken und Hellseherei, Hypnotismus, Hysterie und »Christliche Wissenschaft« – alles wird durch »das Unterbewußtsein« erklärt. In ihren frommen und apologetischen Stimmungen hat sie uns zum Überdruß versichert, daß »Gott im Unterbewußtsein zum Menschen spricht Cutten, Psychological Phenomena of Christianity p. 18; James, Varieties of Religious Experience p. 515; Schofield, The Unconscious Mind p. 92.«, und es ist ihr gelungen, das subliminare Selbst zum gelobten Lande des liberalen Christentums zu machen. Die Folge davon ist, daß die Popularpsychologie mehr und mehr dazu neigt, das »Unterbewußte« zu personifizieren und zu verherrlichen. Unbekümmert um die heilsame Warnung eines Zeitgenossen, der uns sagt, daß der Mensch nicht nur einen »schattenhaften Gefährten«, sondern auch einen »trüben Gefährten« habe Arthur Machen, Hieroglyphics p. 124., stellt sie das subliminare Selbst als einen gefangenen Engel dar, als ein geheimnisvolles Geschöpf mit übernatürlichen Kräften. Stevenson verfuhr viel wissenschaftlicher, als er die unterbewußte Persönlichkeit des Dr. Jekyll als Mr. Hyde bezeichnete [Bezieht sich auf den bekannten Roman von Robert Louis Stevenson, The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde 1886.], denn das »Unterbewußte« ist einfach das Aggregat jener Kräfte, Teile der Eigenschaften des ganzen Selbst, die in irgendeinem gegebenen Moment nicht bewußt sind oder deren das Ich sich nicht bewußt ist. Zum Gebiet des Unterbewußtseins eines normalen gesunden Menschen gehören all jene automatischen Tätigkeiten, durch die das Leben des Körpers erhalten wird; all jene »unzivilisierten« Instinkte und Laster, jene Überbleibsel unserer wilden Vorfahren, die die Erziehung aus dem Fluß des Bewußtseins ausgeschieden hat; all jene Aspirationen, für die das geschäftige Leben der Welt nicht Raum läßt. So liegen bei dem normalen Menschen die besten und die schlimmsten, die wildesten und die geistigsten Seiten eines Wesens »unter der Schwelle des Bewußtseins« eingeschlossen. Die Anhänger des »Unterbewußten« vergessen oft, dies zu erwähnen.

Daraus folgt also, daß wir, solange wir es bequem und auch notwendig finden, uns bei der Erforschung des Weges der Mystik der Symbole und Schemata der Psychologie zu bedienen, dabei nicht vergessen dürfen, wie weit und unbestimmt die Bedeutung dieser Symbole ist, und daß wir das »Unterbewußte« nicht einfach gleichsetzen mit dem transzendentalen Sinn des Menschen. Hier haben, glaube ich, die alten Mystiker einen wissenschaftlicheren Geist, eine feinere Fähigkeit der Analyse bewiesen als die neueren Psychologen. Auch sie wußten wohl, daß bei den normalen Menschen der transzendentale Sinn unter der Schwelle des Bewußtseins liegt. Obgleich ihnen die erstaunlichen Raummetaphern der modernen Schule nicht zu Gebote standen und sie des Menschen Aufstieg zu Gott nicht in so bildhaften Ausdrücken zu schildern verstanden, wie sie heutzutage den Erforschern des Geisteslebens so geläufig sind, so lassen sie uns doch über ihre Ansicht von den Tatsachen nicht im Zweifel. Auch bedeutete für sie ebenso wie für uns die Geschichte des menschlichen Geistes zunächst das Heraustreten dieses transzendentalen Sinnes aus seinem Gefängnis, seine Eroberung des Bewußtseinsfeldes und die Eröffnung der Pfade, die zu einem weiteren geistigen Leben, zur Wahrnehmung einer höheren Wirklichkeit führen. Dies, insofern es ein isolierter Akt war, hieß »Kontemplation«. War es ein Teil des allgemeinen Lebensprozesses und dauernd, so nannten sie es die »neue Geburt«, die »lebendig macht«. Immer machten sie einen sehr scharfen Unterschied zwischen dem geistigen Menschen, um dessen »neue Geburt« es sich handelte und der einer geistigen Vision und eines geistigen Lebens fähig war – im Gegensatz zu dem irdischen Menschen, dem bloßen Naturwesen –, und der gesamten, bewußten oder unterbewußten Persönlichkeit. Dieser geistige Mensch war etwas ganz Bestimmtes, ein Stück oder Teil des Menschen, der nicht der Zeit, sondern der Ewigkeit angehört und seinem Wesen nach sich von dem übrigen Teil seiner menschlichen Natur unterscheidet, die in jeder Hinsicht den Forderungen der rein natürlichen Welt angepaßt ist.

Die Aufgabe des Mystikers war nach Ansicht dieser alten Spezialisten, seine gesamte Persönlichkeit im Interesse seines geistigen Selbst zu erneuern, umzuwandeln, dieses Selbst aus seiner Verborgenheit herauszubringen, sein ganzes Wesen darum, als um seinen Mittelpunkt, zu sammeln und so »einen göttlichen Menschen anzuziehen«.

Es ist von Interesse, zu bemerken, daß die neueste Lehre von Rudolf Eucken in dieser Hinsicht reine praktische Mystik ist, wenn auch der Weg der Mystiker noch zu andern Schlüssen als den seinen führt. Die »erlösende Erneuerung der Persönlichkeit« im Einklang mit dem transzendenten oder geistigen Leben des Universums ist für ihn die zentrale Notwendigkeit des menschlichen Lebens. Das Leben der Wirklichkeit, sagt er, ist geistig und heroisch, ein Tun, nicht ein Denken Boyce Gibson, Rudolph Eucken's Philosophy p. 17.. Auch behauptet Eucken, wie die Mystiker, daß es im Menschen ein bestimmtes transzendentales Prinzip gibt Ebenda, p. 104.. Er nennt es das »Gemüt«, das Herz oder den Kern der Persönlichkeit, wo »Gott und Mensch anfänglich zusammentreffen«. Er fordert uns auf, wie wir gesehen haben S. oben, Kap. 2., im Menschen zwei verschiedene Stufen des Seins zu unterscheiden, »eine engere und eine weitere Art«, das »bloß- und engmenschliche Leben, das nie sich selbst überschreiten kann«, und das »mehr als menschliche, das ihn unmittelbar in eine Weite und Wahrheit des Alls versetzt Eucken, Der Sinn und Wert des Lebens S. 82..« Im Grunde sagen uns alle Bücher der Mystiker nicht mehr und nicht weniger; allein ihre praktischen Anweisungen in der Kunst des Selbstüberschreitens, durch die der Mensch zu jenem unendlichen Leben gelangen kann, übertreffen die des Philosophen bei weitem an Klarheit und Genauigkeit.

Der göttliche Kern, der Berührungspunkt zwischen dem Leben des Menschen und dem göttlichen Leben, in das es eingetaucht ist und durch das es erhalten wird, hat im Laufe der Entwicklung der mystischen Lehre viele Namen erhalten. Alle meinen deutlich dasselbe, wenn sie auch auf verschiedene Seiten seines Lebens den Nachdruck legen. Bisweilen heißt er Synteresis Eine interessante Erörterung über den Ausdruck »Synteresis« findet sich in Dr. Inges Christian Mysticism, Appendix C, p. 359 f., der Hüter und Bewahrer seines Seins; bisweilen der Seelenfunke, »das Fünklein« der deutschen Mystiker; bisweilen ihr Gipfel, der Punkt, wo sie den Himmel berührt. Dann wieder nennt man ihn, mit plötzlichem Fluge zum andern Ende der symbolischen Leiter und um mehr seine Einheit mit dem reinen Sein als seine Verschiedenheit von der bloßen Natur zu betonen, den Seelengrund, dem alles geistige Leben entspringt.

Offenbar laufen alle diese Mutmaßungen und Andeutungen auf dasselbe hinaus und sind in rein symbolischem Sinne zu verstehen; denn wie Malaval auf die eifrigen Fragen seiner Schüler über diesen Gegenstand bemerkte: »Da die Seele des Menschen ein geistiges Ding ist und also keine gesonderten Teile haben kann, so kann sie auch keine Höhe oder Tiefe, keine Spitze und keine Oberfläche haben. Aber da wir geistige Dinge nach der Analogie von materiellen Dingen beurteilen, die wir ja besser kennen und die uns vertrauter sind, nennen wir die höchste aller Formen des Begreifens die Spitze, und die leichtere Art, Dinge zu erfassen, die Oberfläche des Verstandes La Pratique de la Vraye Theologie Mystique I, p. 204.

Hier ist auf jeden Fall, welchen Namen wir ihm nun auch geben mögen, das Organ des religiösen Bewußtseins des Menschen, der Ort, wo er dem Absoluten begegnet, der Keim seines wirklichen Lebens. Hier ist der Sitz jenes tiefen »transzendentalen Gefühls«, das »Anfang und Ende der Metaphysik« ist, das, wie Professor Stewart sagt, »einerseits das feierliche Gefühl ist, daß das zeitlose Sein, ›das, was da war und ist und immer sein wird‹, uns überschattet, und zugleich auch die Überzeugung, daß das Leben gut ist«. »Ich glaube,« sagt derselbe Schriftsteller, »daß es dies transzendentale Gefühl, das sich im normalen Zustande als Glaube an den Wert des Lebens und in der Ekstase als Gefühl des zeitlosen Seins kundgibt, und nicht das spekulative Denken ist, worin das Bewußtsein dem metaphysischen Gegenstand, der letzten Wirklichkeit am nächsten kommt A. Stewart, The Myths of Plato, p. 41, 43. Vielleicht darf ich darauf hinweisen, daß dies transzendentale Gefühl – der Urstoff der Dichtung – wie das mystische Bewußtsein eine dualistische Auffassung der Wirklichkeit hat: als statisches Sein und als dynamisches Leben. S. oben S. 47 ff.

Die Existenz eines solchen »Sinnes«, eines solchen wesentlichen Bestandteils oder Organs des menschlichen Gesamtwesens wurde nicht nur von den Mystikern behauptet und betont, sondern auch von Sehern und Lehrern aller Zeiten und Religionen: von den Ägyptern, Griechen und Indern, von Dichtern, Fakiren, Philosophen und Heiligen. Der Glaube an seine Tatsächlichkeit ist der Angelpunkt des Christentums, das Fundament und die Rechtfertigung der Mystik und des Asketentums und alles Lebens der Selbstentsagung. Daß es einen Grenzpunkt gibt, wo die menschliche Natur das Absolute berührt; daß sein Grund, seine Substanz, sein wahres Sein von dem göttlichen Leben, das die den Dingen zugrunde liegende Wirklichkeit ausmacht, durchdrungen ist: dies ist die Basis, auf der der ganze mystische Anspruch einer möglichen Vereinigung mit Gott ruhen muß. Hier, sagen sie, ist das Glied, das uns mit der Wirklichkeit verbindet, und an diesem Ort allein kann die »Hochzeit, von der der Herr kommt Tauler (1521) 144b (Pred. III, 115, auf St.-Augustinus-Tag).,« gefeiert werden.

Um ein anderes dieser Bilder zu gebrauchen: Dank diesem ihm innewohnenden unsterblichen Funken vom Zentralfeuer ist der Mensch seinem Wesen nach »ein Kind des Unendlichen«. Der Weg des Mystikers muß daher ein Leben sein, eine Erziehung, die die Bestandteile seines geistigen Lebens so verändert, daß sie diesen Funken in das Bewußtseinsfeld einschließt, ihn aus seiner Verborgenheit, aus jenen Tiefen, von wo aus er sein normales Sein erhält und lenkt, heraufholt und zum beherrschenden Element macht, das den Mittelpunkt seiner Persönlichkeit bildet. Die Umwandlung, durch die dies bewirkt wird, beginnt mit der Wiedergeburt, die in andern Ausdrücken von Rudolf Eucken beschrieben wird als die unerläßliche Vorbedingung für ein »selbständiges Geistesleben im Menschen Der Sinn und Wert des Lebens S. 146 (vgl. auch unten, Teil I, Kap. 5).«.

Nun ist es klar, daß unter gewöhnlichen Umständen und abgesehen von plötzlichen Ausbrüchen des transzendentalen Gefühls, die durch irgendeinen rettenden Wahnsinn wie Religion, Kunst oder Liebe hervorgerufen werden, das Selbst der Oberfläche nichts von der Haltung dieses schweigenden Wächters, dieses »Bewohners des Innersten« den eindringenden Botschaften der Außenwelt gegenüber ahnt, noch von den Tätigkeiten, die sie in ihm erwecken. Ganz durch die Sinnenwelt in Anspruch genommen und durch die Botschaften, die es von dort empfängt, weiß es nichts von den Beziehungen zwischen diesem Subjekt und dem unerreichbaren Objekt alles Denkens. Allein durch bewußte Unaufmerksamkeit auf die Botschaften der Sinne, wie sie die Kontemplation mit sich bringt, hebt der Mystiker den Grund der Seele, den Sitz des »transzendentalen Gefühls« in den Bereich des Bewußtseins und macht ihn der Tätigkeit des Willens zugänglich. Das kontemplative Subjekt gewahrt nicht mehr seine gewohnte und zum großen Teil nur in seiner Einbildung bestehende »Außenwelt«, und eine wesenhaftere Reihe von Wahrnehmungen, die unter normalen Umständen keine Möglichkeit haben, kommen an die Oberfläche. Bisweilen vereinigen sie sich mit den normalen Denkfähigkeiten, öfter noch heben sie diese auf. Solch eine Art Tausch, solch »Verlieren, um zu finden« scheint nötig zu sein, wenn die transzendentalen Kräfte des Menschen zu ihrer vollen Wirksamkeit gelangen sollen.

»Diese beiden Augen der Seele des Menschen«, sagt die »Theologia Deutsch« in einem sehr passenden und ausdrucksvollen Bilde, »vermögen nicht zugleich miteinander ihr Werk zu üben, sondern, soll die Seele mit dem rechten Auge in die Ewigkeit sehen, so muß das linke Auge sich all seines Tuns enthalten und begeben und muß sich halten, als ob es tot sei. Soll dann das linke Auge seine Werke nach außen üben, nämlich wirken mit der Zeit und Kreatur, so muß auch das rechte Auge an seinem Werk behindert werden, das ist an seiner Beschauung. Darum, wer das eine haben will, der muß das andere lassen fahren. Denn es kann niemand zweien Herren dienen Theologia Deutsch VII (Bernhart S. 102). Thomas von Kempen gebraucht dasselbe Bild. Vgl. De Imitatione Christi III, 38.

Die Fähigkeit wahrzunehmen, Botschaften von außen zu empfangen, ist in uns unermeßlich groß, und der Kreis des Bewußtseins, der sie aufnimmt, sehr klein. Es ist, als ob einem Telegraphisten eine Menge von Telegraphenlinien überwiesen würden: alle können wohl in Tätigkeit sein, aber er kann nur auf eine zur Zeit achten. Es ist sozusagen nicht genug Bewußtsein für alle Dinge da. Selbst auf sinnlichem Gebiet kann niemand mehr als ein paar Dinge zugleich wahrnehmen. Diese füllen die Mitte unseres Bewußtseinsfeldes, so wie der Gegenstand, auf den wir unsern Blick gerichtet haben, unser Gesichtsfeld beherrscht. Die andern Dinge weichen nach dem Rande zurück. Wir haben ein vages Bewußtsein, daß sie da sind, aber wir schenken ihnen keine Aufmerksamkeit und würden sie kaum vermissen, wenn sie verschwänden.

Übersinnliche Dinge bleiben für die meisten von uns außerhalb des Gesichtskreises, weil die meisten von uns ihr ganzes Bewußtsein den Sinnen überlassen und ihnen erlaubt haben, dort eine Welt aufzubauen, mit der wir uns zufrieden geben. Nur in gewissen okkulten und mystischen Zuständen, wie z. B. im Gebet, in der Kontemplation, in der Ekstase gelingt es dem Selbst, die gewohnten Inhaber zu vertreiben, die »Tore des Fleisches« zu schließen und jenen Kräften aus der Tiefe, die imstande sind, Botschaften von einer andern Daseinsebene aufzunehmen, freie Bahn zu machen. Dann ist es die Sinnenwelt, die nach hinten zurückweicht, und eine andere Landschaft tritt in den Vordergrund. So sehen wir denn am Ende etwas von dem, was den eigentlichen Wert der Kontemplation ausmacht. Einer von den vielen Namen für die Kette von inneren Vorgängen, die diese Verschiebung des geistigen Schwerpunktes zum Zweck haben, ist: das Einschläfern des »normalen Selbst«, das gewöhnlich wach ist, und das Aufwecken jenes »transzendentalen Selbst«, das gewöhnlich schläft. Dem Menschen, in dem »verschiedene Stufen der Wirklichkeit« zusammentreffen, ist, wenn er sich auch selten dessen bewußt wird, diese einzige Macht verliehen, sich seine Welt zu wählen.

Die seltsame Erscheinung, die man als doppelte oder geteilte Persönlichkeit bezeichnet, gibt uns vielleicht eine Vorstellung von der Veränderung, die die Kontemplation bewirkt. Bei dieser psychischen Krankheit ist der Gesamtcharakter des Patienten gespalten; eine bestimmte Gruppe von Eigenschaften sind sozusagen von dem Oberflächenbewußtsein abgesondert und so eng miteinander verbunden, daß sie für sich eine »Persönlichkeit« oder einen vollständigen »Charakter« bilden, der naturgemäß von dem »Charakter«, den der Mensch gewöhnlich der Welt zeigt, himmelweit verschieden ist, da er ausschließlich aus den Elementen besteht, die dort ausgelassen sind. So nannte in dem klassischen Fall von Miß Beauchamp der untersuchende Forscher Dr. Morton Prince die drei hauptsächlichen »Persönlichkeiten« nach ihren herrschenden Eigentümlichkeiten »die Heilige«, »das Weib« und »den Teufel Morton Prince, The Dissociation of a Personality, p. 16.«. Der Gesamtcharakter, der »die wirkliche Miß Beauchamp« ausmachte, hatte sich in diese einander entgegengesetzten Typen geteilt, von denen jeder ins Extrem ging, da ihm die Kontrolle der übrigen Charaktereigenschaften fehlte. Sobald die Persönlichkeit, die das Bewußtseinsfeld behauptet hatte, freiwillig oder unfreiwillig in Schlaf gelullt war, erschien eine der andern auf der Bildfläche. Hypnose war eines der Mittel, wodurch dieser Wechsel am leichtesten bewirkt wurde.

Nun sind bei mystisch veranlagten Menschen die Eigenschaften, die der Druck des normalen Lebens unter der Schwelle des Bewußtseins zu halten pflegt, von außerordentlicher Stärke. In diesen berufenen Erforschern der Ewigkeit ist »die transzendentale Fähigkeit«, »das Auge der Seele« nicht nur im Keim vorhanden, sondern hoch entwickelt und mit großer Kraft des Fühlens und Wollens verbunden. Die Folge ihrer Absonderung unter der Schwelle des Bewußtseins ist, daß sie gegen die Reibung mit den entgegengesetzten Eigenschaften des Oberflächenbewußtseins geschützt sind, mit denen sie kollidieren könnten. Sie sind »im Verborgenen«, wie Jakob Boehme sagen würde. Dort entwickeln sie sich ungehemmt bis zu einem Punkte, wo ihre Kraft ausreicht, ihre Schranken zu durchbrechen und in das Bewußtseinsfeld einzudringen, wo sie entweder ihren Träger zeitweise beherrschen, wie in der Ekstase, oder dauernd das alte Selbst umwandeln, wie in dem »Leben der Einigung«. Die Erreichung dieses Punktes wird beschleunigt durch Übungen wie die Kontemplation. Solche Zustände, die an sich nicht mystisch, sondern nur die äußere Vorbedingung mystischen Erlebens sind, werden von den Psychologen mit Traumzuständen und mit dem, was man so im allgemeinen Hypnose nennt, in eine Reihe gesetzt. In ihnen ist das normale Bewußtsein freiwillig oder unfreiwillig eingeschläfert, und Vorstellungen oder Fähigkeiten von »unterhalb der Schwelle« können in Erscheinung treten.

Freilich brauchen diese Vorstellungen oder Fähigkeiten nicht in allen Fällen wertvoller zu sein als die, die schon im Oberflächenbewußtsein gegenwärtig sind. Beim gewöhnlichen Menschen sind sie oft genug nur die Abfälle, für die das Oberflächenbewußtsein keine Verwendung hatte. Beim Mystiker sind sie anderer Art, und diese Tatsache rechtfertigt die Mittel, die er instinktiv anwendet, um sie ans Licht zu bringen. Die indischen Mystiker gründen ihr äußeres System fast ganz auf a) Askese, die Beherrschung der Sinne, und b) die bewußte Übung der Selbsthypnose, indem sie entweder die Augen fest auf einen nahen Gegenstand richten oder das mantra oder heilige Wort rhythmisch wiederholen. Durch diese sich ergänzenden Formen geistiger Disziplin wird der Einfluß der Erscheinungswelt gemindert und der Geist für die Wirkung der unterbewußten Kräfte vorbereitet. Tanz, Musik und andere Übertreibungen des natürlichen Rhythmus wurden von den griechischen Eingeweihten des Dionysos, von den Gnostikern, von unzähligen andern mystischen Kulten zu demselben Zweck verwandt. Daß solche Mittel tatsächlich eine bemerkenswerte Veränderung im menschlichen Bewußtsein bewirken, ist durch die Erfahrung bewiesen, wenn wir auch bis jetzt wenig begreifen, wie und warum sie dies tun. Solch eine künstliche und bewußte Erzeugung der Ekstase ist dem Gefühl der christlichen Kontemplativen durchaus entgegen; doch hier und da finden wir auch unter ihnen Fälle, in denen ekstatische Verzücktheit oder Hellsichtigkeit die Befreiung des »transzendentalen Sinnes« unabsichtlich durch ein physisches Mittel bewirkt wurde. So wird uns von Jakob Boehme, dem »teutonischen Philosophen«, berichtet: »Als er eines Tages in seinem Zimmer war, fiel sein Auge auf ein blankgescheuertes zinnernes Gefäß, welches das Sonnenlicht in einem so wunderbaren Glänze widerspiegelte, daß er in eine innere Verzückung geriet und es ihm war, als könne er in die Prinzipien und tiefsten Gründe der Dinge hineinschauen Martensen, Jacob Boehme S. 6 [nach Abraham von Franckenberg 11, s. die Auswahl von Hans Kayser S. 25.].« Die Betrachtung fließenden Wassers hatte dieselbe Wirkung auf Ignatius von Loyola. Als er eines Tages am Ufer eines Flusses saß und in die tiefe Strömung schaute, »begannen die Augen seines Geistes sich zu öffnen, nicht zwar in dem Sinn, daß er ein Gesicht geschaut hätte, sondern indem er viele Fragen erfaßte und erkannte, … und dies war mit einer so großen Erleuchtung verbunden, daß ihm alles neu schien Lebenserinnerungen 30 (übertr. von A. Feder S. 48)..« Diese Methode, durch Verengung und Vereinfachung des Bewußtseinsfeldes zu geistiger Hellsichtigkeit zu gelangen, hat eine passende Parallele in dem Verfahren Immanuel Kants, der fand, »daß er sich besser in seine philosophischen Gedanken vertiefen konnte, wenn er seinen Blick unverwandt auf einen benachbarten Kirchturm richtete« Starbuck, The Psychology of Religion, p. 388..

Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß rationalistische Schriftsteller, die die von künstlerischen und philosophischen Naturen gebotenen Parallelen außer acht lassen, solche Fälle von scheinbarem Mono-Ideismus und Selbsthypnose im Leben der Mystiker und die physischen Störungen, welche die Ekstase begleiten, mit Eifer aufgreifen und sie als Beweis anführen, daß all die abnormen Wahrnehmungen des kontemplativen Genius auf Hysterie oder andere krankhafte Zustände zurückzuführen seien. Sie haben sich nicht gescheut, Paulus als einen Epileptiker und die hl. Teresa als Schutzpatronin der Hysterischen zu bezeichnen, und haben die meisten ihrer Geistesverwandten in verschiedenen Abteilen ihres pathologischen Museums untergebracht. Unterstützt wurden sie in dieser dankbaren Aufgabe durch die anerkannte Tatsache, daß die großen Kontemplativen, obgleich sie fast immer Menschen von klarem Verstand und hervorragender praktischer oder geistiger Begabung waren, wie Plotin, der hl. Bernhard, die beiden hl. Katharinen, die hl. Teresa, der hl. Johannes vom Kreuz und die persischen Sufi-Dichter Dschami und Dschelal ed Din, oft an mangelnder körperlicher Gesundheit gelitten haben. Ja, noch mehr: ihre mystische Tätigkeit hat gewöhnlich in bestimmter und besonderer Weise auf ihren Körper zurückgewirkt und in mehreren Fällen eine eigene Art Krankheit und Körperschwäche herbeigeführt, die von Schmerzen und funktionellen Störungen begleitet war, für die sich keine organische Ursache entdecken ließ, diese Ursache sei denn die ungeheuere Anspannung, die ein überragender Geist einem Körper auferlegt, der auf eine ganz andere Lebensform eingestellt ist.

Es ist sicher, daß der abnorme und höchst empfindliche Geistestypus, den wir als mystisch bezeichnen, oft, aber nicht immer, seltsame und unerklärliche Veränderungen des physischen Organismus, mit dem er verbunden ist, hervorruft oder begleitet. Übernatürliches kommt hier nicht in Frage, außer insofern, als wir geneigt sind, alle natürlichen Erscheinungen, die wir nicht verstehen, als übernatürlich zu bezeichnen. Jeder kennt Fälle von psycho-physischem Parallelismus wie die Stigmatisierungen der Heiligen – und auch anderer hypnotisch empfänglicher Personen, die man schwerlich zu den Heiligen zählen kann Vgl. Cutten, The Psychological Phenomena of Christianity, Kap. VIII.. Ich möchte hier dem Leser ein anderes weniger erörtertes und noch außergewöhnlicheres Beispiel von dem Einfluß des Geistes auf die vermeintlichen »Naturgesetze« des Körperlebens geben.

Wir wissen als historische Tatsache, die durch zeitgenössische Zeugnisse ungewöhnlich gut bestätigt ist und ganz außerhalb der Sphäre hagiographischer Romandichtung liegt, daß sowohl die hl. Katharina von Siena wie ihre Namensschwester, die hl. Katharina von Genua – beide nicht nur Ekstatikerinnen, sondern tatkräftige Frauen, die eine auf dem Gebiete der Philanthropie, sozialen Reform und Politik tätig, die andere eine selbständig denkende Theologin und viele Jahre höchst tüchtige Oberin eines großen Krankenhauses – die erstere jahrelang, die zweite in beständig wiederholten Zeiträumen von vielen Wochen ohne andere Nahrung lebten als die geweihte Hostie, die sie bei der heiligen Kommunion empfingen. Sie taten dies, nicht in mühsamem Gehorsam gegen ein frommes Gelübde, sondern weil sie nicht anders leben konnten. Solange sie fasteten, waren sie gesund und tatkräftig und den unzähligen Verpflichtungen, die ihr Leben ausfüllten, durchaus gewachsen. Aber sobald sie versuchten, auch nur ein paar Bissen zu essen – und das taten sie immer wieder, denn wie alle wahren Heiligen verabscheuten sie jede Exzentrizität »Streben nach Besonderheit«, sagt Gertrude More, »ist ein Laster, das du vor allem hassest« (The Spiritual Exercises of the most virtuous and religious Dame Gertrude More p. 40). Alle die besten und gesundesten unter den Mystikern sind derselben Meinung. – erkrankten sie sofort und mußten den Versuch als nutzlos aufgeben Vgl. E. Gardner, St. Catherine of Siena, p. 12 und 48, und F. von Hügel, The Mystical Element of Religion I, p. 135..

Trotz der Forschungen von Murisier Les Maladies des Sentiments Religieux., Janet L'Etat Mentale des Hysteriques, und: Une Extatique (Bulletin de l'Institut Psychologique. 1901)., Ribot La Psychologie des Sentiments. 1896. und andern Psychologen und ihren hartnäckigen Versuchen, eine pathologische Erklärung für alle mystischen Tatsachen zu finden, gehören diese und andere bemerkenswerte physische Eigentümlichkeiten der mystischen Naturanlage bis jetzt noch zu den ungelösten Problemen der Menschheit. Sie müssen sowohl aus dem Bereich des Wunders wie aus dem der Krankheit, wohin fanatische Freunde und Gegner sie abwechselnd mit Gewalt zerren, in den Bereich der reinen Psychologie gebracht und dort leidenschaftslos geprüft werden mit der Aufmerksamkeit, die wir den weniger interessanten Erscheinungen der Degeneration und des Lasters so willig zuteil werden lassen. Ihre Existenz spricht ebenso wenig gegen die Gesundheit der Mystik und die Gültigkeit ihrer Resultate als der ungleichmäßige Nervenzustand, den man gewöhnlich bei Künstlern beobachtet – denen die Wahrnehmung der Wirklichkeit, wie sie der Mystiker hat, bis zu einem gewissen Grade eigen ist – gegen die Kunst spricht. »In solchen Fällen wie bei Kant und Beethoven«, sagt von Hügel sehr richtig, »würde jemand, der die Menschheit allein nach psycho-physischen Erscheinungen einteilte, diese großen Forscher und Schöpfer ohne Zögern mit hoffnungslosen und nutzlosen Hypochondern in ein und dieselbe Klasse tun The Mystical Element II, p. 42.

Im Falle der Mystiker hat man die Hysterie mit ihrer erstaunlichen Mannigfaltigkeit geistiger Symptome, ihrer seltsamen Fähigkeit, die Elemente des Bewußtseins aufzulösen, anders zu ordnen und zu steigern, mit ihrer Neigung zu automatischer Tätigkeit und Ekstase oft zur Erklärung der beobachteten Erscheinungen herangezogen. Dies ist, als wenn man das Genie eines Taglioni aus den Symptomen des Veitstanzes zu erklären versuchte. Beide, sowohl die Tanzkunst wie die Krankheit, haben es mit körperlichen Bewegungen zu tun. So haben es auch sowohl die Mystik wie die Hysterie mit der Beherrschung des Bewußtseins durch eine feste, angespannte Vorstellung oder Intuition zu tun, die das Leben regiert und imstande ist, erstaunliche physische und psychische Folgen herbeizuführen. Bei den an Hysterie Leidenden ist diese Vorstellung oft trivial oder krankhaft Beispiele findet man bei Pierre Janet, a. a. O., aber sie wird dem Betreffenden infolge seines labilen Geisteszustandes zur Besessenheit. Beim Mystiker ist die Vorstellung, die ihn beherrscht, etwas Großes, ja, so groß, daß, wenn das menschliche Bewußtsein es ganz erfaßt hat, alles andere notwendigerweise dadurch verdrängt wird. Denn es ist nichts Geringeres als die Vorstellung oder Wahrnehmung der transzendenten Wirklichkeit und der Gegenwart Gottes. Daher ist der Mono-Ideismus des Mystikers vernunftgemäß, während der des hysterischen Kranken allemal vernunftwidrig ist.

Es wäre also überhaupt, solange die Erklärung psycho-physischer Beziehungen so schwierig ist, vorsichtiger und sicher wissenschaftlicher, mit unserm Urteil über die Bedeutung psycho-physischer Erscheinungen, die das Leben der Mystiker begleiten, zurückhaltend zu sein, anstatt absprechende Kritik auf Tatsachen zu gründen, die offenbar geheimnisvoll und zum mindesten mehr als Einer Deutung fähig sind. Die Natur einer Zusammensetzung aus der Art ihrer Nebenprodukte abzuleiten, ist bekanntlich eine unsichere Sache.

Unser Leib gehört dem Tierreich an und ist für animalische Tätigkeiten geschaffen. Wenn ein Geist von ungewöhnlicher Glut seine Nervenzellen zu anderer Tätigkeit zwingt, so locken sie wider den Stachel und rächen sich durch Erregung der mystischen Krankheit, wie die Mystiker selbst zugeben. »Traun, Kinder,« sagt Tauler, »wer hierin viel gaffen wollte, der müßte oft zu Bette liegen, die Natur könnte das nicht ertragen Predigten (1826) II, 44 (auf den ersten Sonntag nach Ostern)..« »Ich tu dir ohne Maßen weh an deinem Leibe«, sagt die Stimme der Liebe zu Mechthild von Magdeburg. »Wenn ich mich dir zu allen Zeiten, so oft du meiner begehrtest, hingeben würde, so würde ich mich der süßen Herberge, die ich auf dieser Erde an dir habe, berauben; denn tausend Körper könnten dem Verlangen einer liebenden Seele nicht genugtun. Darum, je höher die Liebe, je heiliger der Märtyrer Das fließende Licht der Gottheit II, Kap. 25.

Andrerseits steigert die erhöhte Persönlichkeit des Mystikers – seine Selbstzucht, sein heroisches Aufsichnehmen von Mühsal und Leiden und sein unbeugsamer Wille – die normale Macht des Geistes über den Körper, die wir alle besitzen. Auch scheint der Zustand der Kontemplation ebenso wie der Zustand der Hypnose bei einem gesunden Menschen eine Lebenssteigerung zu bewirken, indem er größere Tiefen der Persönlichkeit erschließt. Das Selbst trinkt dann aus einem Brunnen, der vom All-Leben genährt wird, vom »Geistesleben«, um den Ausdruck der Euckenschen Philosophie zu gebrauchen. Wahre Ekstase wirkt bekanntlich lebensteigernd. In ihr findet gleichsam eine stärkende Berührung mit der Wirklichkeit statt, und infolgedessen wird das Subjekt selbst wirklicher. Oft, sagt die hl. Teresa, gehen selbst die Kranken aus der Ekstase gesund und neu gestärkt hervor; denn der Seele wurde da etwas Großes gegeben Vida, Kap. XX, § 29.. Es wurde ein Kontakt hergestellt mit Daseinsebenen, die das Alltagsdasein unberührt läßt. Daher die außerordentliche Kraft des Erduldens und die Unabhängigkeit von äußeren Umständen, die die großen Ekstatiker so oft zeigen.

Wenn wir, wie manche es tun, in den Mystikern den sporadischen Anfang einer Kraft, eines höheren Bewußtseins sehen, zu dem sich die Menschheit allmählich entwickelt, so erscheint es uns wohl einleuchtend, daß da, wo diese Kraft zuerst auftaucht, die Nerven und Organe unter einer Anspannung leiden, der sie noch nicht angepaßt sind, und daß ein Geist, der höher organisiert ist als sein körperliches Heim, diesem einiges Unbehagen verursacht. Als der Mensch sich zuerst aufrichtete, muß der Körper, der solange gewöhnt war, auf allen Vieren zu gehen, und die Beine, die darauf eingestellt waren, nur die halbe Last zu tragen, gegen dies unnatürliche Verfahren Einspruch erhoben haben, indem sie dem Urheber viel Schmerz und Beschwerden, wenn nicht geradezu Krankheit zufügten. Es ist zum mindesten zulässig, den merkwürdigen psychophysischen Zustand, wie er bei den Mystikern verbreitet ist, als solch eine Rebellion des normalen Nerven- und Gefäßsystems gegen die Anforderungen einer Lebensweise, der es sich noch nicht angepaßt hat, anzusehen Mr. Boyce Gibson hat kürzlich eine schlagende Parallele gezogen zwischen der Gärung und dem »inneren Aufruhr« der Pubertätsperiode und den tiefgehenden Störungen, die den Eintritt des Menschen in ein bewußtes geistiges Leben kennzeichnen. Seine Bemerkungen treffen noch mehr zu auf die gänzliche Umstellung der Persönlichkeit, wie sie beim Mystiker stattfindet, dessen geistiges Leben intensiver ist als das anderer Menschen. Vgl. Boyce Gibson, God with Us (1909) Kap. III..

Trotz einer solchen Rebellion und der Qualen, die sie ihnen auferlegt hat, sind die Mystiker merkwürdigerweise ein langlebiges Geschlecht: eine unbequeme Tatsache für die Kritiker der physiologischen Schule. Um nur ein paar Beispiele unter den hervorragenden Ekstatikern anzuführen: die hl. Hildegard wurde einundachtzig, Mechthild von Magdeburg siebenundachtzig, Ruysbroeck achtundachtzig, Seuse siebenundachtzig, die hl. Katharina von Genua und der hl. Petrus von Alcántara dreiundsechzig, Madame Guyon neunundsechzig Jahre alt. Es scheint, als ob das erhöhte Leben, das der Lohn mystischer Hingabe ist, sie fähig machte, über ihre körperlichen Schwächen zu triumphieren und zu leben und ihre Arbeit zu tun unter Bedingungen, die gewöhnliche Menschen zu allem unfähig gemacht hätten.

Solche Triumphe, die zu den Heldentaten in der Geschichte des menschlichen Geistes gehören, wurden in der Regel auf dieselbe Art errungen. Wie alle intuitiven Menschen, alle genialen und künstlerischen Naturen – mit denen sie in der Tat nahe verwandt sind –, haben die Mystiker, psychologisch gesprochen, Bewußtseinsschwellen von außerordentlicher Beweglichkeit. Das heißt, ein sehr geringer Kraftaufwand, eine sehr geringe Abweichung vom Normalzustand läßt ihre latenten oder »subliminaren« Kräfte hervortreten und das Bewußtseinsfeld besetzen. Eine solche bewegliche Bewußtseinsschwelle kann einen Menschen zu einem Genie, einem Wahnsinnigen oder einem Heiligen machen. Alles hängt von der Beschaffenheit der auftauchenden Kräfte ab. Bei dem großen Mystiker sind die gewaltigen Schichten der Persönlichkeit, die unterhalb des normalen Bewußtseins liegen, von ungewöhnlicher Fruchtbarkeit und können nicht als pathologisch abgetan werden. »Wenn es wahr ist,« sagt Delacroix, »daß die großen Mystiker nicht ganz frei sind von den nervösen Schwächen, die fast allen Ausnahmenaturen eigen sind, so ist in ihnen anderseits eine vitale und schöpferische Kraft, eine konstruktive Logik, eine größere Erkenntnismöglichkeit, mit einem Wort, eine Genialität, die ihr eigentliches Wesen ausmacht … Die großen Mystiker, Schöpfer und Erfinder, die eine neue Lebensform gefunden und gerechtfertigt haben … treffen auf den höchsten Gipfeln des menschlichen Geistes mit den großen Vereinheitlichern der Welt zusammen Delacroix, Etudes d'Histoire du Mysticisme p. III.

Die Wahrheit, soweit wir sie bis jetzt kennen, scheint also zu sein, daß diejenigen Kräfte, die mit der übersinnlichen Welt in Berührung sind, und die zum mindesten das halbe Selbst ausmachen, im gewöhnlichen Menschen schlafen, da seine Zeit und sein Interesse ganz davon in Anspruch genommen ist, auf die Reize der Sinnenwelt zu reagieren. Mit diesen latenten Kräften schläft auch die Landschaft, die nur durch sie aufgenommen werden kann. Bei den Mystikern ist kein Teil des Selbst dauernd im Schlafe. Sie haben den Bewohner des Innersten aus seinem Schlummer geweckt und ihr Leben um ihn herum zur Einheit gebracht. Herz, Vernunft und Wille sind dort in voller Tätigkeit, indem sie ihre Kraft nicht aus dem Schattenspiel der Sinne, sondern aus den Tiefen des wahren Seins ziehen, wo eine Lampe angezündet und ein Bewußtsein wach ist, von dem die schlafende Menge nichts ahnt. Wer da sagt, der Mystiker sei nur ein halber Mensch, behauptet das gerade Gegenteil von dem, was wahr ist. Nur den Mystiker kann man einen ganzen Menschen nennen, da in den andern die Hälfte der Kräfte beständig schläft. Auf diese Ganzheit des Erlebens haben die Mystiker immer viel Gewicht gelegt. So sagt die göttliche Stimme zu der hl. Katharina von Siena: »Ich habe dir auch die Brücke und die drei Hauptstufen gezeigt, die dort für die drei Kräfte der Seele errichtet sind, und ich habe dir gesagt, wie niemand zum Leben der Gnade gelangen kann, ohne alle drei Stufen zu ersteigen, d. h. ohne alle drei Kräfte der Seele in meinem Namen zu sammeln Dialogo, Kap. LXXXVI.

Die abnormen Persönlichkeitstypen, die wir als Genies bezeichnen, geben uns eine Ahnung von den Beziehungen, die zwischen diesen tiefen Ebenen des Seins und der Bewußtseinsoberfläche zu bestehen scheinen. Im Dichter, im Musiker, im großen Mathematiker oder Erfinder haben offenbar mächtige Kräfte, die unterhalb der Schwelle des Bewußtseins liegen und über die der bewußte Wille des Betreffenden kaum Gewalt hat, großen Anteil an der Wahrnehmung und Begriffsbildung. Bei jeder Schöpfertat geschieht der größere Teil der Arbeit im Unterbewußtsein: das Hervortreten ist in gewissem Sinne automatisch. Dies gilt in gleicher Weise von den Mystikern, Künstlern, Philosophen, Entdeckern und Herrschern. Die große religiöse, erfinderische oder künstlerische Schöpfung verdankt ihren Anfang stets einem plötzlichen Hervorquellen von Intuitionen oder Ideen, die dem Oberflächenbewußtsein fremd sind, und ihre Ausführung hängt von Kräften ab, die diesem Bewußtsein so fern liegen, daß sie dem Betreffenden »aus einer andern Welt zu kommen scheinen«. Dies ist »Inspiration«, das Öffnen der Schleusen, so daß die Wasser der Wahrheit, in die alles Leben eingetaucht ist, zur Ebene des Bewußtseins aufsteigen können.

Der große Lehrer, Dichter, Künstler, Erfinder verfolgt nie bewußt sein Ziel. Er erreicht es, er weiß nicht wie; vielleicht durch eine ihm unbewußte Berührung mit jener schöpferischen Daseinsebene, welche die persischen Sufis den aufbauenden Geist nennen und die Kabalisten Yesod und die nach beiden unmittelbar hinter der Sinnenwelt liegt. »Bisweilen«, sagt der große alexandrinische Jude Philon, »wenn ich leer an meine Arbeit gekommen war, fühlte ich plötzlich eine Fülle in mir: Ideen wurden auf unsichtbare Weise von oben über mich ausgegossen und in mich eingepflanzt, so daß ich durch diese göttliche Inspiration aufs höchste erregt wurde und von nichts mehr wußte, weder wo ich war, noch wer um mich war, noch wer ich selbst war, noch was ich sagte oder schrieb; ich empfand nur eine Fülle, eine Klarheit, eine Kraft, die mir die Richtung gab, sicherer als die klarste Anschauung der Sinne De migratione Abrahami, Kap. 7, § 35. (Opera ed. Cohn u. Wendland II, S. 275.) Angeführt bei James, Varieties of Religious Experience p. 481.« Dies ist wahre schöpferische Ekstase und entspricht genau dem Zustand, in dem der Mystiker seine mächtigen Werke schafft.

Den Willen ganz ausschalten, stille sein, rein empfangend, das ist die Bedingung, unter der man zur Berührung mit dem kosmischen Leben gelangen kann. »Ich habe bemerkt, daß man beim Malen gar nicht denken soll, es gelingt dann besser«, sagt der junge Rafael zu Leonardo da Vinci Mereschkowski, Leonardo da Vinci XIV, 3 (übers, v. Eliasberg, S. 528).. Das Selbst der Oberfläche muß hier seine eigene Unzulänglichkeit anerkennen, muß der bescheidene Diener eines tieferen wesentlicheren Bewußtseins werden. Die Mystiker sind derselben Ansicht. »Ich versuchte«, sagt Madame Guyon, wo sie von ihren ersten vergeblichen Versuchen in der Kontemplation spricht, »das durch Anstrengung zu erreichen, was nur durch Unterlassen jeglicher Anstrengung erreicht werden kann Vie (ed. Poiret, 1720) II, p. 74..« »Das Allerbeste und Alleredelste, wozu man in diesem Leben gelangen mag,« sagt Eckehart, »ist, daß du schweigest und Gott da wirken und sprechen lässest. Da die Kräfte sämtlich zurückgezogen sind von aller ihrer Wirksamkeit und ihren Vorstellungen, da wird dies Wort gesprochen … Je mehr du imstande bist, alle Kräfte einzuziehen und aller Dinge und ihrer Bilder, die du je in dich aufgenommen, zu vergessen, je mehr du also der Kreatur vergissest, um so näher bist du dem und um so empfänglicher Meister Eckehart, Pred. I (Pfeiffer 7, 4-12; Büttner I, 34; Lehmann 141).

So sagt Boehme zu dem Jünger: »Wenn dein Intellekt und dein Wille stille sind und dem ewigen Worte und Geiste aufgetan, und wenn deine Seele sich aufgeschwungen hat über das, was zeitlich ist, und die äußeren Sinne und die Einbildung verschlossen sind durch heilige Abgezogenheit, dann wird das ewige Hören, Sehen und Sprechen in dir offenbar. Selig bist du daher, wenn du stillstehen kannst vom Selbstdenken und Selbstwollen und das Rad deiner Einbildung im Sinne aufhalten kannst Three Dialogues of the Supersensual Life p. 14. [Nach dem Englischen übersetzt, vgl. die Bibliographie. Zugrunde liegt »Vom übersinnlichen Leben« § 1-3:
»1. Der Jünger sprach zum Meister: Wie mag ich kommen zu dem übersinnlichen Leben, daß ich Gott sehe und höre reden?
Der Meister sprach: Wenn du dich magst einen Augenblick in das schwingen, da keine Kreatur wohnet: so hörest du, was Gott redet.
2. Der Jünger sprach: Ist das nahe oder ferne?
Der Meister sprach: Es ist in dir, und so du magst eine Stunde schweigen von allem deinen Wollen und Sinnen: so wirst du unaussprechliche Worte Gottes hören.
3. Der Jünger sprach: Wie mag ich hören, so ich von Sinnen und Wollen stille stehe?
Der Meister sprach: Wenn du von Sinnen und Wollen deiner Selbstheit stille stehest, so wird in dir das ewige Hören, Sehen und Sprechen offenbar und höret und siehet Gott durch dich. Dein eigen Hören, Wollen und Sehen verhindert dich, daß du Gott nicht siehest noch hörest.«]
.« Dann kann, da der bewußte Geist passiv ist, der göttlichere Geist im Unterbewußtsein – das Organ unseres freien, schöpferischen Lebens – hervortreten und seine Botschaft bringen. Oder mit den Worten eines älteren Mystikers: »Die Seele, die alle Dinge läßt und sich selbst vergißt, wird eingetaucht in den Ozean göttlichen Glanzes und erleuchtet von dem hehren Abgrund unergründlicher Weisheit Dionysios der Areopagit, Von göttlichen Namen VII, 3.

Die »Passivität« der Kontemplation ist also eine notwendige Vorstufe geistiger Kraft, ein unentbehrliches Raumschaffen. Sie zieht die Flut des Bewußtseins von dem Gestade der Sinne zurück, hält das Rad der Einbildungskraft an. »Die Seele«, sagt wiederum Eckehart, »ist geschaffen an einem Orte zwischen Zeit und Ewigkeit, die sie beide berührt; mit den höheren Kräften berührt sie die Ewigkeit, mit den niederen die Zeit Pred. XXIII (Pfeiffer 95, 24-27). Eckehart übernahm das Bild von Thomas von Aquino, Summa Contra Gentiles III, 61, 4: »Die vernünftige Seele ist geschaffen an der Grenze der Ewigkeit und der Zeit.«.« Diese beiden Welten des Seins und Werdens sind die beiden »Stufen der Wirklichkeit«, die im Geiste des Menschen zusammentreffen. Während die Kontemplation uns von der zeitlichen Ebene, der niederen Wirklichkeit abschließt, gibt sie der ewigen Ebene und den Kräften, die zu ihr Zugang haben, die Möglichkeit zu wirken. In dem geborenen Mystiker sind diese Kräfte groß und liegen sehr nahe unter der normalen Bewußtseinsschwelle. Er hat die Anlage zu Entdeckungen auf übersinnlichem oder, wie er sagen würde, göttlichem Gebiete genau in derselben Weise, wie seine Vettern, der geborene Musiker und Dichter, die Anlage zu musikalischer oder dichterischer Erfindung haben. In allen drei Fällen ist das Auftauchen dieser höheren Kräfte geheimnisvoll, und nicht am wenigsten denen, die es an sich erfahren. Die Psychologie auf der einen Seite und die Theologie auf der andern mögen uns wohl Theorien und Schemata von diesem Vorgang bieten: von den seltsamen Schwankungen des erwachenden Bewußtseins, den plötzlichen Anfällen von Hellsichtigkeit und schöpferischer Kraft, über die das Selbst wenig oder gar keine Kontrolle hat, von dem Entzücken und dem Kummer über eine Schau, die abwechselnd gewährt und wieder entzogen wird. Allein das Geheimnis des Genius weicht uns beständig aus, wie das Geheimnis des Lebens dem Biologen ausweicht.

Was man mit Sicherheit von solchen Menschen sagen kann, ist, daß die Wirklichkeit sich ihnen unter abnormen Bedingungen und in abnormen Erscheinungsformen darstellt, und daß sie in ihrem Verhalten ihr gegenüber an diese Bedingungen und Erscheinungen gebunden sind. Infolge ihrer besonderen geistigen Beschaffenheit ist die eine Seite des Universums so sehr in den Brennpunkt gerückt, daß im Vergleich mit ihr alle andern Bilder verwischt, vag oder unwirklich sind. Wenn daher schöpferische Menschen – Mystiker, Künstler, Erfinder – ihr ganzes Leben diesem einen Ziel, dieser einen Vision der Wahrheit opfern, so ist dies nicht Selbstverleugnung, sondern Selbsterfüllung. Sie schütteln das Unwirkliche ab, um sich auf das Wirkliche zu konzentrieren. Die ganze Persönlichkeit setzt sich dann in Einklang mit gewissen Rhythmen oder Harmonien des Weltalls, auf die der Aufnahmeapparat der andern nicht reagiert. »Doch hier ist der Finger Gottes, ein Blitz des Willens, der kann!« ruft Abt Vogler aus, wie die Töne unter seiner Hand quellen [Vgl. Robert Brownings Gedicht: Abt Vogler (Dramatis Personae) Str. 7.]. »Die Rhythmen kamen!« sagt der Dichter. Er weiß nicht wie; sicher nicht durch bewußte Verstandestätigkeit.

Ebenso ist es mit dem Mystiker. Madame Guyon erzählt in ihrer Selbstbiographie, daß sie, wenn sie ihre Werke verfaßte, eine plötzliche und unwiderstehliche Neigung spürte, die Feder zur Hand zu nehmen; obwohl sie sich zur Schriftstellerei durchaus unfähig fühlte und nicht einmal den Gegenstand kannte, über den sie zu schreiben gezwungen sein würde. Wenn sie diesem Impuls widerstand, so geschah es um den Preis eines höchst intensiven Unbehagens. Sie begann dann mit außerordentlicher Geschwindigkeit zu schreiben: Worte, sorgfältige Beweisführungen und passende Zitate kamen ihr, ohne daß sie nachdachte, und zwar so schnell, daß eines ihrer umfangreichsten Bücher in anderthalb Tagen geschrieben wurde Vie II, p. 120 und 229..

»Während ich schrieb, sah ich, daß ich über Dinge schrieb, die ich nie gesehen hatte, und in der Zeit dieser Kundgebung ward mir offenbar, daß ich Schätze von Wissen und Verstehen in mir barg, von denen ich nichts geahnt hatte Ebenda, p. 223.

Ähnliche Berichte haben wir von der hl. Teresa, die erklärte, daß sie beim Abfassen ihrer Bücher außerstande war, irgend etwas hinzuschreiben, was ihr Meister ihr nicht eingab G. Cunninghame Graham, Santa Teresa I, p. 202.. So sagt Blake von seinen Dichtungen »Milton« und »Jerusalem«: »Ich schrieb diese Gedichte nach unmittelbarem Diktat, zwölf oder bisweilen zwanzig bis dreißig Verse auf einmal, ohne vorherige Überlegung und selbst gegen meinen Willen. Die Zeit, die das Schreiben in Anspruch nahm, war auf diese Weise wie nicht vorhanden, und eine ungeheure Dichtung steht nun da, die wie das Werk eines langen Lebens erscheint und gleichwohl ohne Arbeit oder Studium zustande gekommen ist Letters of William Blake, 25. April 1803.

Dies sind natürlich extreme Fälle jener wunderbaren Gabe automatischen Schaffens, bei der Worte und Buchstaben ganz unabhängig vom Willen des Verfassers sich einstellen und aneinander fügen und von der die meisten Dichter und Schriftsteller eine Spur besitzen. Solch ein Schaffen ist verwandt mit dem »automatischen Schreiben« der Medien und anderer sensitiver Menschen, wobei das oft gestörte und verwirrte sublimierte Selbst diese Ausdrucksmöglichkeit ergreift. Das subliminare Selbst des großen Mystikers jedoch ist nicht gestört. Es ist klar beobachtend und reich ausgestattet, ein Schatzhaus, keine Rumpelkammer, und wird im Laufe seiner Ausbildung zu einem höchst geschickten und geschulten Werkzeug der Erkenntnis. Wenn daher sein Inhalt ans Licht tritt und sich dem normalen Bewußtsein als Hellsichtigkeit, Stimmen, Visionen, automatisches Schreiben oder irgendeine andere Übertragung des Übersinnlichen in Formen sinnlicher Wahrnehmung darstellt, so kann es ihnen nicht zum Nachteil gereichen, wenn das wertlose Unterbewußtsein schwächerer Naturen sich bisweilen in derselben Weise kundgibt. Idioten reden oft viel, aber darum gibt es doch viele Redner, die geistig gesund sind.

Was sind nun in Summa die hauptsächlichen Eigentümlichkeiten, die wir auf dieser Umrißkarte des menschlichen Geisteslebens gefunden haben?

1. Wir haben, allerdings recht willkürlich, das Leben längs der schwankenden Linie, die die Psychologen die Schwelle des Bewußtseins nennen, in das Leben der Oberfläche und das der unterbewußten Tiefe geteilt.

2. Bei dem Leben der Oberfläche unterschieden wir, wenn wir auch seine wesentliche Einheit erkannten, drei in die Augen springende, stets gegenwärtige Aspekte: die Dreieinigkeit von Fühlen, Denken und Wollen. Unter diesen müssen wir den Vorrang dem Gefühl einräumen als der Kraft, die den Mechanismus des Denkens und Wollens in Bewegung setzt.

3. Wir haben gesehen, daß der Ausdruck dieses Lebens die beiden sich ergänzenden Formen der conatio oder der nach außen wirkenden Tätigkeit und der cognitio oder der innewohnenden Erkenntnis annimmt, und daß die erstere, die ihrem Typus nach dynamisch ist, in hohem Maße von dem durch das Gefühl getriebenen Willen abhängt, während die zweite, die ihrer Art nach passiv ist, die Leistung des Intellekts ist. Sie entsprechen den beiden Hauptaspekten, die der Mensch im All-Leben unterscheidet: Sein und Werden.

4. Weder conatio noch cognitio – Tun noch Denken – soweit es durch dieses Selbst der Oberfläche geschieht, das durch sein natürliches Dasein in Anspruch genommen und von räumlichen Vorstellungen beherrscht wird, ist imstande, irgendwelche Verbindung mit dem Absoluten oder der übersinnlichen Welt herzustellen. Solch Handeln und Denken hat es ausschließlich mit Dingen zu tun, die, unmittelbar oder mittelbar, der Sinnenwelt angehören. Das Zeugnis der Mystiker jedoch und aller derer, die den Instinkt für das Absolute haben, weist auf die Existenz einer weiteren Fähigkeit im Menschen: einer intuitiven Kraft, die die Verhältnisse des alltäglichen Lebens »unter die Schwelle« seines Bewußtseins zurückdrängen und die so ein Faktor seines »subliminaren Lebens« wird. Diese latente Fähigkeit ist die Haupttriebkraft der Mystik, die in Berührung mit der wirklichen oder übersinnlichen Welt ein wesenhaftes Leben führt.

5. Gewisse geistige Übungen, wie z. B. die Kontemplation, verändern den Bewußtseinszustand derart, daß diese Fähigkeit ans Licht treten kann, und in dem Maße, wie sie in das bewußte Leben eingeht, macht sie den Menschen zum Mystiker.

Das mystische Leben umfaßt demnach drei Stufen: das Hervortreten des transzendentalen Selbst aus der Tiefe, seine Eroberung des Bewußtseinsfeldes und die »Konversion« oder Umordnung seines Fühlens, Denkens und Wollens, seiner ganzen Persönlichkeit um dieses neue Lebenszentrum.

Wir stellen also zum Schluß dieses Kapitels fest, daß das Ziel des mystischen Strebens, von innen gesehen, das Begreifen oder die unmittelbare Verbindung mit jener übersinnlichen Wirklichkeit ist, die wir im letzten Abschnitt von außen her zu definieren versucht haben.

Hier wie bei der Erfüllung der höchsten irdischen Liebe ist Erkennen und Einswerden dasselbe. Die Hauptkraft, durch die wir diese Vereinigung erlangen können, wohnt in dem Teile unseres Selbst, der für gewöhnlich unter der Schwelle unseres Bewußtseins liegt. Von dort kann sie bei gewissen ungewöhnlich reichen und lebenskräftigen Naturen und unter gewissen günstigen Bedingungen durch verschiedene Methoden, wie z. B. durch Kontemplation, befreit werden. Ist sie jedoch einmal emporgetaucht, so nimmt sie das bewußte Selbst in ihren Dienst. Die Oberfläche muß mit der Tiefe zusammenwirken und endlich sich mit dieser Tiefe verschmelzen, um die Einheit des Bewußtseins auf höherer Ebene zu erzeugen, in der allein der Mensch Frieden finden kann. Das Herz, das sich nach dem All sehnt, der Geist, der es begreift, der Wille, der das ganze Selbst darauf konzentriert, alle drei müssen ins Spiel gezogen werden. Das Selbst muß unterworfen, es darf nicht vernichtet werden, wie manche Quietisten meinen. Es stirbt nur, um von neuem zu leben. »Der höchste Gewinn,« sagt Lady Juliane in einem Abschnitt, der die Analyse der modernen Psychologie vorwegnimmt, »die vollkommene Gewißheit des Mystikers, daß wir in Wahrheit mehr im Himmel als auf Erden sind, entspringt der eingeborenen Liebe unserer Seele und dem klaren Licht unserer Vernunft und dem standhaften Geiste Julian of Norwich, Revelations of Divine Love, Kap. LV.

Doch welche von diesen drei Tätigkeiten soll in dem Werk, das eins ist, den Vorrang haben? Alle müssen, wie wir gesehen haben, ihr Teil tun, denn die Aufgabe ist nichts Geringeres als die Erhebung des Menschen in seiner Ganzheit auf eine höhere Ebene. Doch welche von den dreien soll vorherrschen? Von der Antwort, die ein jedes Selbst auf diese Frage gibt, hängt sein endgültiges Wesen und sein Erleben der Wirklichkeit ab. Die eigentliche Frage ist: unter welchem dieser drei Aspekte des Bewußtseins kann das Selbst dem göttlichen Gedanken, dem wirklichen Leben, in das es eingetaucht ist, am nächsten kommen? Welcher von ihnen hat, wenn er gepflegt und zur Herrschaft gebracht wird, die meiste Wahrscheinlichkeit, es in Einklang mit dem Absoluten zu setzen? Die Liebe zu Gott, die immer im Herzen und oft auf den Lippen der Heiligen ist, ist das leidenschaftliche Verlangen nach solchem Einklang; die »Krankheit des Denkens« ist ihr intellektuelles Äquivalent. Wenn es auch scheinen mag, als könnten wir Gott entfliehen, dieser Sehnsucht entflieht niemand, es sei denn um den Preis gänzlicher Stagnation. Wir kommen daher auf das zurück, was wir am Anfang dieses Kapitels feststellten: daß zwei beherrschende Triebe die Gefangenschaft des Selbst teilen. Wir haben sie jetzt erkannt als die Sehnsucht des Intellekts und des Gefühls nach dem einzigen Ziel allen Strebens. Der disziplinierte Wille – jene Kraft der conatio – mit all den schlummernden Fähigkeiten, die er wecken und nutzbar machen kann, kann einem von beiden zu Hilfe kommen. Welchem? Die Frage ist entscheidend, denn das Schicksal des Selbst hängt von dem Partner ab, den der Wille sich wählt.


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